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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Gottfried Roller und seine Novellen

angewidert, verhielt sich aber stumm. Als jedoch in vorgerückter Stunde
Lassalle seine Kunststücke als Magnetiseur und Tischrücker in schauspielerischer
Weise zum besten gab und eben seinen Hokuspokus über dem Haupte Georg
Herweghs machte, um ihn einzuschläfern, fuhr Gottfried Keller wütend auf und
schrie: Jetzt ists mir zu dick, ihr Lumpenpack, ihr Gauner! ergriff einen Stuhl
und drang mit dieser Waffe auf Lassalle ein. Eine unbeschreibliche Verwirrung
entstand. Die Frauen brachen in heftiges Weinen aus, die Männer schimpften,
und der Unhold wurde an die frische Luft gebracht." (Baechtold II, 320.)

Wie es hier sein gesundes Gefühl war, das ihn vor der weitern Teil¬
nahme an dieser Gesellschaft bewahrte, mehr als klare sittliche Grundsätze, so
treten uns auch sonst in seinen Briefen eigentlich sittliche Gesichtspunkte kaum
entgegen. Selbst in seinem Urteil über das Verhältnis Immermanns zur
Gräfin Ahlefeldt, der Gattin des Herrn von Lützow, tritt mehr das gesunde
Gefühl für das Schiefe der Lage als für das Unrechte hervor. Dennoch ist
dies Urteil gegenüber der naturalistischen Verschwommenheit und Sentimentalität
höchst erfreulich und für Keller zugleich bezeichnend. An Ludmilla Ussing, die
Verfasserin einer Biographie der Gräfin, schreibt er (22. August 1857):

Übrigens bin ich doch der unmaßgeblichen Meinung, das ganze Unglück wäre
verhütet worden, wenn der junge Mensch, so Immermann hieß, sich nicht in die
Frau eines andern verliebt hätte. Denn so sehr ich als Dichterling die Leidenschaft
zu erheben verbunden bin, so sehr brauche ich für dieselbe auch eine natürliche
Grundlage der Zweckmäßigkeit und Möglichkeit. Daß die Gräfin nachträglich von
Lützow verstoßen und frei wurde, war für Immermann bloß ein Zufall. Es ge¬
fällt mir überhaupt schlecht, wenn junge, noch unfertige Menschen ihre Augen auf
Frauen werfen; es ist eine verkehrte Welt, die sich an Immermann dadurch rächte,
daß er im Schwabenalter und als verpflichteter Mann erst das that, was er früher
hätte thun sollen.

Wir haben gesehen, daß Keller voller Pläne und Hoffnungen nach Zürich
zurückgekehrt war. Aber vorläufig wurde noch nicht an ihre Erfüllung gedacht,
sondern der Dichter, der noch immer an der Mutter Tische saß, begann sorglos
wie immer ein lustiges, ja ausgelassenes Wirtshausleben, das oft in über¬
mütigen Streichen endete. In anregendem Verkehr mit geistig bedeutenden
Männern, die alle Wohlgefallen an ihm fanden und ihn bald schützten, brachte
er sein Leben hin und wies alle Absichten, ihn irgendwo in ein festes Amt zu
bringen, weit von sich, was um so auffülliger war, als noch viele Geld¬
verpflichtungen auf ihm lasteten. Jetzt erst bestand wirklich für ihn die Gefahr,
die man durch die in Berlin erlittene Not für überwunden halten konnte, die
Gefahr, sich selbst zu verlieren. Sie wurde aber glücklich beseitigt, als Keller,
obwohl er sich durch sein Leben etwas anrüchig gemacht hatte, 1861 zum ersten
Staatsschreiber erwühlt wurde und damit die bestbesoldete Staatsstelle des
Kantons erhielt.

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Gottfried Roller und seine Novellen

angewidert, verhielt sich aber stumm. Als jedoch in vorgerückter Stunde
Lassalle seine Kunststücke als Magnetiseur und Tischrücker in schauspielerischer
Weise zum besten gab und eben seinen Hokuspokus über dem Haupte Georg
Herweghs machte, um ihn einzuschläfern, fuhr Gottfried Keller wütend auf und
schrie: Jetzt ists mir zu dick, ihr Lumpenpack, ihr Gauner! ergriff einen Stuhl
und drang mit dieser Waffe auf Lassalle ein. Eine unbeschreibliche Verwirrung
entstand. Die Frauen brachen in heftiges Weinen aus, die Männer schimpften,
und der Unhold wurde an die frische Luft gebracht." (Baechtold II, 320.)

Wie es hier sein gesundes Gefühl war, das ihn vor der weitern Teil¬
nahme an dieser Gesellschaft bewahrte, mehr als klare sittliche Grundsätze, so
treten uns auch sonst in seinen Briefen eigentlich sittliche Gesichtspunkte kaum
entgegen. Selbst in seinem Urteil über das Verhältnis Immermanns zur
Gräfin Ahlefeldt, der Gattin des Herrn von Lützow, tritt mehr das gesunde
Gefühl für das Schiefe der Lage als für das Unrechte hervor. Dennoch ist
dies Urteil gegenüber der naturalistischen Verschwommenheit und Sentimentalität
höchst erfreulich und für Keller zugleich bezeichnend. An Ludmilla Ussing, die
Verfasserin einer Biographie der Gräfin, schreibt er (22. August 1857):

Übrigens bin ich doch der unmaßgeblichen Meinung, das ganze Unglück wäre
verhütet worden, wenn der junge Mensch, so Immermann hieß, sich nicht in die
Frau eines andern verliebt hätte. Denn so sehr ich als Dichterling die Leidenschaft
zu erheben verbunden bin, so sehr brauche ich für dieselbe auch eine natürliche
Grundlage der Zweckmäßigkeit und Möglichkeit. Daß die Gräfin nachträglich von
Lützow verstoßen und frei wurde, war für Immermann bloß ein Zufall. Es ge¬
fällt mir überhaupt schlecht, wenn junge, noch unfertige Menschen ihre Augen auf
Frauen werfen; es ist eine verkehrte Welt, die sich an Immermann dadurch rächte,
daß er im Schwabenalter und als verpflichteter Mann erst das that, was er früher
hätte thun sollen.

Wir haben gesehen, daß Keller voller Pläne und Hoffnungen nach Zürich
zurückgekehrt war. Aber vorläufig wurde noch nicht an ihre Erfüllung gedacht,
sondern der Dichter, der noch immer an der Mutter Tische saß, begann sorglos
wie immer ein lustiges, ja ausgelassenes Wirtshausleben, das oft in über¬
mütigen Streichen endete. In anregendem Verkehr mit geistig bedeutenden
Männern, die alle Wohlgefallen an ihm fanden und ihn bald schützten, brachte
er sein Leben hin und wies alle Absichten, ihn irgendwo in ein festes Amt zu
bringen, weit von sich, was um so auffülliger war, als noch viele Geld¬
verpflichtungen auf ihm lasteten. Jetzt erst bestand wirklich für ihn die Gefahr,
die man durch die in Berlin erlittene Not für überwunden halten konnte, die
Gefahr, sich selbst zu verlieren. Sie wurde aber glücklich beseitigt, als Keller,
obwohl er sich durch sein Leben etwas anrüchig gemacht hatte, 1861 zum ersten
Staatsschreiber erwühlt wurde und damit die bestbesoldete Staatsstelle des
Kantons erhielt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/506>, abgerufen am 21.05.2024.