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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zu der Frage d^A Wahlrechts

Wieder abschwören, wenn ihm eine Bnuernstelle zufallen sollte. Dem "ziel¬
bewußter" Genossen der Sozialdemokratie dagegen einleuchtend zu machen,
daß gleiches Wahlrecht nnr aus gleicher Würdigkeit, nicht aus der staats¬
bürgerlichen Gleichheit herfließen kann, ist ein ganz aussichtsloses Beginnen;
nicht daß es ihm an dem erforderlichen Begriffsvermögen fehlte, sondern deshalb,
weil bei ihm einer solchen Erwägung jedes Thor versperrt ist: fast nur in
diesem Stück fühlt er sich nicht enterbe, wie soll er es fassen können, daß er
anch das noch drcingcben soll? Und so ist es, näher besehen, bei allen Lebens¬
kreisen. Selbst die, die für die Ausdehnung oder für die Einschränkung des
Wahlrechts nur Vernunftgründe gelten lassen, werden in Wirklichkeit oft weniger
von klar erkannter Überzeugung als von einem Gefühlsdrang geleitet, der sie
entweder dazu antreibt, einer vermeintlichen Schuld der Gesellschaft und des
Staats gerecht zu werden, oder sie gegen den Versuch einnimmt, die Menschen
über einen Kamm zu scheren. In politisch bewegten Zeiten wird sich bei
allen das Gefühl noch stärker einmischen als in Zeiten, die ruhiger Betrachtung
günstig sind. Man mag diese Einmischung als Fälschung der Wahrheit be¬
klagen, aber man muß damit rechnen; auch noch deshalb, weil das Gefühl den
Eifer weckt. Ist es nicht so, daß der Eifer, womit die Sozialdemokratie und
das Zentrum das jetzige Reichstagswahlrecht verteidigen, dafür werben und
seine Ausdehnung betreiben, politisch weit schwerer in die Wagschale fällt als
das Ergebnis der aus unsern und verwandten Kreisen stammenden Versuche,
den einstigen Lieblingsschößling des Liberalismus zu beschneiden, mag auch das
Ergebnis in schön erdachten Vorschlägen dem Verstände schmeicheln? Sollten
wir uns nicht sagen, daß wir dadurch bestenfalls nur unsre Kraft verschwenden
oder verzetteln, während sie die ihrige stetig erproben und mehren?

Als Fürst Bismarck sür seine Bundeszwecke dem Verfafsungswerk des
Frankfurter Parlaments das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ent¬
nahm, hat ihn gewiß keine Überschätzung von dessen theoretischem Wert ge¬
leitet; wer die Reden des Abgeordneten von Bismarck kennt, weiß, daß der
Minister von Bismarck zwar sehr viel dazugelernt hatte und stetig dazulernte,
daß er aber dennoch als Grundlage seines Handelns die in den ersten Mannes-
jnhren erworbne und bethätigte Staats- und Lebensanschauung festgehalten hat.
Zu dieser uun stimmte ein so uivellirendes Wahlrecht gar nicht, aber noch
verwerflicher erschiene" seiner scharfen Beobachtung und seinem Gerechtigkeits¬
sinn die Abstufungen der preußischen Dreiklassenwahl; die ständische Gliederung
Altpreußeus war in der Auflösung begriffen und schon darum zur Übertragung
ungeeignet, neue Stände waren nicht vorhanden, und auch die staatsrechtliche
Theorie bot keinen Ersatz. Die Zeit drängte; zu den vielen Streitpunkten,
von denen die Bundesreform bedroht war, durfte er nicht noch die politische
Quadratur des Kreises, den Streit um das beste Wahlrecht, hinzukommen
lassen -- so knüpfte er denn hierin an den Bestand von 1848 und 1849 an.


Zu der Frage d^A Wahlrechts

Wieder abschwören, wenn ihm eine Bnuernstelle zufallen sollte. Dem „ziel¬
bewußter" Genossen der Sozialdemokratie dagegen einleuchtend zu machen,
daß gleiches Wahlrecht nnr aus gleicher Würdigkeit, nicht aus der staats¬
bürgerlichen Gleichheit herfließen kann, ist ein ganz aussichtsloses Beginnen;
nicht daß es ihm an dem erforderlichen Begriffsvermögen fehlte, sondern deshalb,
weil bei ihm einer solchen Erwägung jedes Thor versperrt ist: fast nur in
diesem Stück fühlt er sich nicht enterbe, wie soll er es fassen können, daß er
anch das noch drcingcben soll? Und so ist es, näher besehen, bei allen Lebens¬
kreisen. Selbst die, die für die Ausdehnung oder für die Einschränkung des
Wahlrechts nur Vernunftgründe gelten lassen, werden in Wirklichkeit oft weniger
von klar erkannter Überzeugung als von einem Gefühlsdrang geleitet, der sie
entweder dazu antreibt, einer vermeintlichen Schuld der Gesellschaft und des
Staats gerecht zu werden, oder sie gegen den Versuch einnimmt, die Menschen
über einen Kamm zu scheren. In politisch bewegten Zeiten wird sich bei
allen das Gefühl noch stärker einmischen als in Zeiten, die ruhiger Betrachtung
günstig sind. Man mag diese Einmischung als Fälschung der Wahrheit be¬
klagen, aber man muß damit rechnen; auch noch deshalb, weil das Gefühl den
Eifer weckt. Ist es nicht so, daß der Eifer, womit die Sozialdemokratie und
das Zentrum das jetzige Reichstagswahlrecht verteidigen, dafür werben und
seine Ausdehnung betreiben, politisch weit schwerer in die Wagschale fällt als
das Ergebnis der aus unsern und verwandten Kreisen stammenden Versuche,
den einstigen Lieblingsschößling des Liberalismus zu beschneiden, mag auch das
Ergebnis in schön erdachten Vorschlägen dem Verstände schmeicheln? Sollten
wir uns nicht sagen, daß wir dadurch bestenfalls nur unsre Kraft verschwenden
oder verzetteln, während sie die ihrige stetig erproben und mehren?

Als Fürst Bismarck sür seine Bundeszwecke dem Verfafsungswerk des
Frankfurter Parlaments das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ent¬
nahm, hat ihn gewiß keine Überschätzung von dessen theoretischem Wert ge¬
leitet; wer die Reden des Abgeordneten von Bismarck kennt, weiß, daß der
Minister von Bismarck zwar sehr viel dazugelernt hatte und stetig dazulernte,
daß er aber dennoch als Grundlage seines Handelns die in den ersten Mannes-
jnhren erworbne und bethätigte Staats- und Lebensanschauung festgehalten hat.
Zu dieser uun stimmte ein so uivellirendes Wahlrecht gar nicht, aber noch
verwerflicher erschiene» seiner scharfen Beobachtung und seinem Gerechtigkeits¬
sinn die Abstufungen der preußischen Dreiklassenwahl; die ständische Gliederung
Altpreußeus war in der Auflösung begriffen und schon darum zur Übertragung
ungeeignet, neue Stände waren nicht vorhanden, und auch die staatsrechtliche
Theorie bot keinen Ersatz. Die Zeit drängte; zu den vielen Streitpunkten,
von denen die Bundesreform bedroht war, durfte er nicht noch die politische
Quadratur des Kreises, den Streit um das beste Wahlrecht, hinzukommen
lassen — so knüpfte er denn hierin an den Bestand von 1848 und 1849 an.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/579>, abgerufen am 21.05.2024.