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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Zusammenhang von äußerer und innerer Politik

geendet, sich über die nächsten praktischen Schritte zu verständigen und die
Art zu suchen, wie man in Frieden und womöglich in Freundschaft mit ein¬
ander weiter leben könne. Die Ausführung des heute notwendigen ist die
beste Schule für die Erkennung des künftig Erwünschten; in gemeinsamer
praktischer Arbeit an der Besserung anerkannter Übelstände berichtigen sich er¬
fahrungsmäßig die Anschauungen über das Erreichbare, jeder lernt an den
guten Willen auch des politischen Gegners glauben und die gemeinsamen, ver¬
bindenden Interessen aufsuchen. Alle einsichtigen Männer hegen den dringenden
Wunsch, die trennende Kluft im Volke friedlich zu überbrücken und allmählich
auszufüllen.

Viele Anzeichen der letzten Zeit sprechen dafür, daß in der deutschen
Arbeiterschaft eine große Zahl die dargebotne Hand willig ergreifen würde.
Das Volk hat bisher noch immer ein ihm von der Negierung erwiesenes Ver¬
trauen von Herzen erwidert. Eine Gruppe doktrinärer Fanatiker wird immer
übrigbleiben, sie finden sich in allen Parteien; schlimm ist es, wenn.es ihnen
gelingt, die Herrschaft an sich zu bringen, mögen sie nun Philipp und Alba,
Ferdinand, Robespierre und Se. Just oder Bebel und Liebknecht heißen.
Unsre gebildeten Schichten nehmen für sich einen schrankenlosen Subjektivismus
in Anspruch, mit welchem Recht will man die gleiche Auffassung den Arbeitern
versagen?

Es zeigt sich darin nur die alte Wahrheit, daß jede günstig gestellte
.Klasse der Gesellschaft geneigt ist, ihre vorteilhafte Lage durch Abschluß uach
unter zu erhalten, während sie sich zu weiteren Aufsteigen nach oben in jeder
Weise für befähigt hält. Daß sich eine Klasse freiwillig nach oben abgeschlossen
hätte, davon giebt es Wohl kein Beispiel, während die Versuche eines Abschlusses
nach unten überaus zahlreich sind. Gewinnen solche sehr erklärlichen Regungen
Erfolg, so kommt es mit der Zeit notwendig zu einem Kastenwesen; jedes
Kastenwesen ist aber nationale Erstarrung -- Tod statt Leben, denn es ver¬
langt den Verzicht der untern Schichten und läßt in den obern die sittlichen
Kräfte absterben, da sie ihrer nicht mehr bedürfen. Ist aber das Aufsteigen
immer neuer Lebenskräfte aus den untern Schichten Lebensbedingung für ein
Volk, so muß eine gute Staatseinrichtung dem Talent und der Tüchtigkeit die
Möglichkeit geben, sich in den ihnen entsprechenden Stellen zu bethätigen, sich
an diese Stelle hinanzuarbeiten. Nur so bleiben die obern Schichten dauernd
gesund. Es ist mithin nicht zu verwerfen, wenn die untern Schichten nicht
entsagen, sondern ein erfreuliches Zeichen von der Kraft des Volks und ein
sicheres Anzeichen, daß dieses Volk noch eine Zukunft, d. h. die Kraft einer
Erneuerung aus sich selbst hat. Daß solche Bestrebungen einige Unbequem¬
lichkeiten für die obern Klassen haben, soll damit nicht geleugnet werden.

Die große Aufgabe des kommenden Geschlechts ist es, dem berechtigten
Subjektivismus die notwendige Ergänzung in der ihm entsprechenden Form


Der Zusammenhang von äußerer und innerer Politik

geendet, sich über die nächsten praktischen Schritte zu verständigen und die
Art zu suchen, wie man in Frieden und womöglich in Freundschaft mit ein¬
ander weiter leben könne. Die Ausführung des heute notwendigen ist die
beste Schule für die Erkennung des künftig Erwünschten; in gemeinsamer
praktischer Arbeit an der Besserung anerkannter Übelstände berichtigen sich er¬
fahrungsmäßig die Anschauungen über das Erreichbare, jeder lernt an den
guten Willen auch des politischen Gegners glauben und die gemeinsamen, ver¬
bindenden Interessen aufsuchen. Alle einsichtigen Männer hegen den dringenden
Wunsch, die trennende Kluft im Volke friedlich zu überbrücken und allmählich
auszufüllen.

Viele Anzeichen der letzten Zeit sprechen dafür, daß in der deutschen
Arbeiterschaft eine große Zahl die dargebotne Hand willig ergreifen würde.
Das Volk hat bisher noch immer ein ihm von der Negierung erwiesenes Ver¬
trauen von Herzen erwidert. Eine Gruppe doktrinärer Fanatiker wird immer
übrigbleiben, sie finden sich in allen Parteien; schlimm ist es, wenn.es ihnen
gelingt, die Herrschaft an sich zu bringen, mögen sie nun Philipp und Alba,
Ferdinand, Robespierre und Se. Just oder Bebel und Liebknecht heißen.
Unsre gebildeten Schichten nehmen für sich einen schrankenlosen Subjektivismus
in Anspruch, mit welchem Recht will man die gleiche Auffassung den Arbeitern
versagen?

Es zeigt sich darin nur die alte Wahrheit, daß jede günstig gestellte
.Klasse der Gesellschaft geneigt ist, ihre vorteilhafte Lage durch Abschluß uach
unter zu erhalten, während sie sich zu weiteren Aufsteigen nach oben in jeder
Weise für befähigt hält. Daß sich eine Klasse freiwillig nach oben abgeschlossen
hätte, davon giebt es Wohl kein Beispiel, während die Versuche eines Abschlusses
nach unten überaus zahlreich sind. Gewinnen solche sehr erklärlichen Regungen
Erfolg, so kommt es mit der Zeit notwendig zu einem Kastenwesen; jedes
Kastenwesen ist aber nationale Erstarrung — Tod statt Leben, denn es ver¬
langt den Verzicht der untern Schichten und läßt in den obern die sittlichen
Kräfte absterben, da sie ihrer nicht mehr bedürfen. Ist aber das Aufsteigen
immer neuer Lebenskräfte aus den untern Schichten Lebensbedingung für ein
Volk, so muß eine gute Staatseinrichtung dem Talent und der Tüchtigkeit die
Möglichkeit geben, sich in den ihnen entsprechenden Stellen zu bethätigen, sich
an diese Stelle hinanzuarbeiten. Nur so bleiben die obern Schichten dauernd
gesund. Es ist mithin nicht zu verwerfen, wenn die untern Schichten nicht
entsagen, sondern ein erfreuliches Zeichen von der Kraft des Volks und ein
sicheres Anzeichen, daß dieses Volk noch eine Zukunft, d. h. die Kraft einer
Erneuerung aus sich selbst hat. Daß solche Bestrebungen einige Unbequem¬
lichkeiten für die obern Klassen haben, soll damit nicht geleugnet werden.

Die große Aufgabe des kommenden Geschlechts ist es, dem berechtigten
Subjektivismus die notwendige Ergänzung in der ihm entsprechenden Form


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[0639] Der Zusammenhang von äußerer und innerer Politik geendet, sich über die nächsten praktischen Schritte zu verständigen und die Art zu suchen, wie man in Frieden und womöglich in Freundschaft mit ein¬ ander weiter leben könne. Die Ausführung des heute notwendigen ist die beste Schule für die Erkennung des künftig Erwünschten; in gemeinsamer praktischer Arbeit an der Besserung anerkannter Übelstände berichtigen sich er¬ fahrungsmäßig die Anschauungen über das Erreichbare, jeder lernt an den guten Willen auch des politischen Gegners glauben und die gemeinsamen, ver¬ bindenden Interessen aufsuchen. Alle einsichtigen Männer hegen den dringenden Wunsch, die trennende Kluft im Volke friedlich zu überbrücken und allmählich auszufüllen. Viele Anzeichen der letzten Zeit sprechen dafür, daß in der deutschen Arbeiterschaft eine große Zahl die dargebotne Hand willig ergreifen würde. Das Volk hat bisher noch immer ein ihm von der Negierung erwiesenes Ver¬ trauen von Herzen erwidert. Eine Gruppe doktrinärer Fanatiker wird immer übrigbleiben, sie finden sich in allen Parteien; schlimm ist es, wenn.es ihnen gelingt, die Herrschaft an sich zu bringen, mögen sie nun Philipp und Alba, Ferdinand, Robespierre und Se. Just oder Bebel und Liebknecht heißen. Unsre gebildeten Schichten nehmen für sich einen schrankenlosen Subjektivismus in Anspruch, mit welchem Recht will man die gleiche Auffassung den Arbeitern versagen? Es zeigt sich darin nur die alte Wahrheit, daß jede günstig gestellte .Klasse der Gesellschaft geneigt ist, ihre vorteilhafte Lage durch Abschluß uach unter zu erhalten, während sie sich zu weiteren Aufsteigen nach oben in jeder Weise für befähigt hält. Daß sich eine Klasse freiwillig nach oben abgeschlossen hätte, davon giebt es Wohl kein Beispiel, während die Versuche eines Abschlusses nach unten überaus zahlreich sind. Gewinnen solche sehr erklärlichen Regungen Erfolg, so kommt es mit der Zeit notwendig zu einem Kastenwesen; jedes Kastenwesen ist aber nationale Erstarrung — Tod statt Leben, denn es ver¬ langt den Verzicht der untern Schichten und läßt in den obern die sittlichen Kräfte absterben, da sie ihrer nicht mehr bedürfen. Ist aber das Aufsteigen immer neuer Lebenskräfte aus den untern Schichten Lebensbedingung für ein Volk, so muß eine gute Staatseinrichtung dem Talent und der Tüchtigkeit die Möglichkeit geben, sich in den ihnen entsprechenden Stellen zu bethätigen, sich an diese Stelle hinanzuarbeiten. Nur so bleiben die obern Schichten dauernd gesund. Es ist mithin nicht zu verwerfen, wenn die untern Schichten nicht entsagen, sondern ein erfreuliches Zeichen von der Kraft des Volks und ein sicheres Anzeichen, daß dieses Volk noch eine Zukunft, d. h. die Kraft einer Erneuerung aus sich selbst hat. Daß solche Bestrebungen einige Unbequem¬ lichkeiten für die obern Klassen haben, soll damit nicht geleugnet werden. Die große Aufgabe des kommenden Geschlechts ist es, dem berechtigten Subjektivismus die notwendige Ergänzung in der ihm entsprechenden Form

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/639>, abgerufen am 21.05.2024.