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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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München und Konstanz

und Furcht vor Bären, Wölfen und vorm Halsbrechen kann höchstens in ganz
außerordentlichen Gemütern ein ästhetischer Genuß aufkommen. Vielleicht
nicht einmal in solchen. Wir haben heute genug Leute, uicht bloß Männer,
sondern sogar Frauen, die sich beim Bergklettern alle diese Beschwerden zu¬
ziehen, aber ich zweifle, ob sie wirklich in demselben Augenblicke, wo ihre
Glieder schmerzen, zugleich einen ästhetischen Genuß haben. Den ästhetischen
Genuß, den die Berglandschaft gewährt, haben die heutigen Menschen ohne
nennenswerte Beschwerden von Jugend auf kennen gelernt. Was sie auf die
höchsten, auch heute uoch nur unter Gefahren zu erreichenden Spitzen lockt, ist
die Vorstellung des Landschaftsbildes, das man oben haben müsse. Sie
nehmen dieses Bild dann anch in der Erinnerung mit als einen bleibenden
Schatz, und so bereitet es ihnen vor wie nach dem Scheinen Genuß, während
des Schemens aber schwerlich; was sie da genießen, ist nicht ein ästhetischer,
sondern ein ethischer Wert, sie genießen das Bewußtsein ihrer Kraft, ihres
Mutes, ihrer Ausdauer, sie sagen sich mit hoher Befriedigung: was bin ich
doch für ein Sportsman oder für eine Sportsmaid! So hat der ästhetische
Genuß, den die Berggipfel gewähren, erst angefangen, als man ihn ohne
körperliche Schmerzen und ohne Lebensgefahr haben konnte. Gibbon bemerkt
über das Reisen, es gehöre dazu rüstige Gesundheit und Gleichgiltigkeit gegen
alle Beschwerden; davon, daß er an den Alpen irgend etwas schönes gefunden
habe, sagt er bei der Erwähnung seines zweimaligen Alpenüberganges kein
Wort. Er hat diesen Übergang wahrscheinlich zu den Beschwerden gerechnet,
die der Nordländer leider mit in den Kauf nehmen müsse, wenn er die
römischen Ruinen sehen wolle. Und nun gar Leute, die auf und zwischen
Felsen mit mühseliger Arbeit ihren Lebensunterhalt erwerben müssen, was
können sie an diesen Felsen und Schneefeldern, die kein Fruchtkorn und keinen
Grashalm erzeugen, schönes finden? Und wenn wirs recht überlegen, ist auch
die Schönheit einer Felsenpartie, wie sie die Gotthardschlucht darbietet, nur
bedingungsweise vorhanden. Bei Sonnenschein und heiterm Himmel bilden
die schwärzlichen Felsen, die in der Sonne blitzenden weißen Wasserfäden und
Schneegipfel und die Himmelsbläue einen schönen Farbendreiklaug, dessen Ein¬
druck durch historische Erinnerungen verstärkt wird und durch den Gedanke",
daß man sich in der Eingangspforte zu Italien befindet und auf einem Berg¬
stock, den schon Goethe als den Vater sozusagen von gewaltigen Bergzügen
und herrlichen Stromgebieten höchst merkwürdig gefunden hat. Bei trübem
Himmel dagegen ist eine solche Ansicht nur noch furchtbar erhaben, aber nicht
mehr schön. Ähnlich verhält es sich mit den italienischen Seen. Den Vorteil
haben die allerdings schon vor dein Hochgebirge voraus, daß sie niemals tot
sind; das eine belebende ist ihre sanft bewegte, bei jedem Himmel schön ge¬
färbte Wassermasse, das andre der Saum von Ortschaften, Gärten und Villen,
mit denen ihre Uferfelsen geschmückt sind. Aber Felsen bleiben doch auch diese,


München und Konstanz

und Furcht vor Bären, Wölfen und vorm Halsbrechen kann höchstens in ganz
außerordentlichen Gemütern ein ästhetischer Genuß aufkommen. Vielleicht
nicht einmal in solchen. Wir haben heute genug Leute, uicht bloß Männer,
sondern sogar Frauen, die sich beim Bergklettern alle diese Beschwerden zu¬
ziehen, aber ich zweifle, ob sie wirklich in demselben Augenblicke, wo ihre
Glieder schmerzen, zugleich einen ästhetischen Genuß haben. Den ästhetischen
Genuß, den die Berglandschaft gewährt, haben die heutigen Menschen ohne
nennenswerte Beschwerden von Jugend auf kennen gelernt. Was sie auf die
höchsten, auch heute uoch nur unter Gefahren zu erreichenden Spitzen lockt, ist
die Vorstellung des Landschaftsbildes, das man oben haben müsse. Sie
nehmen dieses Bild dann anch in der Erinnerung mit als einen bleibenden
Schatz, und so bereitet es ihnen vor wie nach dem Scheinen Genuß, während
des Schemens aber schwerlich; was sie da genießen, ist nicht ein ästhetischer,
sondern ein ethischer Wert, sie genießen das Bewußtsein ihrer Kraft, ihres
Mutes, ihrer Ausdauer, sie sagen sich mit hoher Befriedigung: was bin ich
doch für ein Sportsman oder für eine Sportsmaid! So hat der ästhetische
Genuß, den die Berggipfel gewähren, erst angefangen, als man ihn ohne
körperliche Schmerzen und ohne Lebensgefahr haben konnte. Gibbon bemerkt
über das Reisen, es gehöre dazu rüstige Gesundheit und Gleichgiltigkeit gegen
alle Beschwerden; davon, daß er an den Alpen irgend etwas schönes gefunden
habe, sagt er bei der Erwähnung seines zweimaligen Alpenüberganges kein
Wort. Er hat diesen Übergang wahrscheinlich zu den Beschwerden gerechnet,
die der Nordländer leider mit in den Kauf nehmen müsse, wenn er die
römischen Ruinen sehen wolle. Und nun gar Leute, die auf und zwischen
Felsen mit mühseliger Arbeit ihren Lebensunterhalt erwerben müssen, was
können sie an diesen Felsen und Schneefeldern, die kein Fruchtkorn und keinen
Grashalm erzeugen, schönes finden? Und wenn wirs recht überlegen, ist auch
die Schönheit einer Felsenpartie, wie sie die Gotthardschlucht darbietet, nur
bedingungsweise vorhanden. Bei Sonnenschein und heiterm Himmel bilden
die schwärzlichen Felsen, die in der Sonne blitzenden weißen Wasserfäden und
Schneegipfel und die Himmelsbläue einen schönen Farbendreiklaug, dessen Ein¬
druck durch historische Erinnerungen verstärkt wird und durch den Gedanke»,
daß man sich in der Eingangspforte zu Italien befindet und auf einem Berg¬
stock, den schon Goethe als den Vater sozusagen von gewaltigen Bergzügen
und herrlichen Stromgebieten höchst merkwürdig gefunden hat. Bei trübem
Himmel dagegen ist eine solche Ansicht nur noch furchtbar erhaben, aber nicht
mehr schön. Ähnlich verhält es sich mit den italienischen Seen. Den Vorteil
haben die allerdings schon vor dein Hochgebirge voraus, daß sie niemals tot
sind; das eine belebende ist ihre sanft bewegte, bei jedem Himmel schön ge¬
färbte Wassermasse, das andre der Saum von Ortschaften, Gärten und Villen,
mit denen ihre Uferfelsen geschmückt sind. Aber Felsen bleiben doch auch diese,


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[0440] München und Konstanz und Furcht vor Bären, Wölfen und vorm Halsbrechen kann höchstens in ganz außerordentlichen Gemütern ein ästhetischer Genuß aufkommen. Vielleicht nicht einmal in solchen. Wir haben heute genug Leute, uicht bloß Männer, sondern sogar Frauen, die sich beim Bergklettern alle diese Beschwerden zu¬ ziehen, aber ich zweifle, ob sie wirklich in demselben Augenblicke, wo ihre Glieder schmerzen, zugleich einen ästhetischen Genuß haben. Den ästhetischen Genuß, den die Berglandschaft gewährt, haben die heutigen Menschen ohne nennenswerte Beschwerden von Jugend auf kennen gelernt. Was sie auf die höchsten, auch heute uoch nur unter Gefahren zu erreichenden Spitzen lockt, ist die Vorstellung des Landschaftsbildes, das man oben haben müsse. Sie nehmen dieses Bild dann anch in der Erinnerung mit als einen bleibenden Schatz, und so bereitet es ihnen vor wie nach dem Scheinen Genuß, während des Schemens aber schwerlich; was sie da genießen, ist nicht ein ästhetischer, sondern ein ethischer Wert, sie genießen das Bewußtsein ihrer Kraft, ihres Mutes, ihrer Ausdauer, sie sagen sich mit hoher Befriedigung: was bin ich doch für ein Sportsman oder für eine Sportsmaid! So hat der ästhetische Genuß, den die Berggipfel gewähren, erst angefangen, als man ihn ohne körperliche Schmerzen und ohne Lebensgefahr haben konnte. Gibbon bemerkt über das Reisen, es gehöre dazu rüstige Gesundheit und Gleichgiltigkeit gegen alle Beschwerden; davon, daß er an den Alpen irgend etwas schönes gefunden habe, sagt er bei der Erwähnung seines zweimaligen Alpenüberganges kein Wort. Er hat diesen Übergang wahrscheinlich zu den Beschwerden gerechnet, die der Nordländer leider mit in den Kauf nehmen müsse, wenn er die römischen Ruinen sehen wolle. Und nun gar Leute, die auf und zwischen Felsen mit mühseliger Arbeit ihren Lebensunterhalt erwerben müssen, was können sie an diesen Felsen und Schneefeldern, die kein Fruchtkorn und keinen Grashalm erzeugen, schönes finden? Und wenn wirs recht überlegen, ist auch die Schönheit einer Felsenpartie, wie sie die Gotthardschlucht darbietet, nur bedingungsweise vorhanden. Bei Sonnenschein und heiterm Himmel bilden die schwärzlichen Felsen, die in der Sonne blitzenden weißen Wasserfäden und Schneegipfel und die Himmelsbläue einen schönen Farbendreiklaug, dessen Ein¬ druck durch historische Erinnerungen verstärkt wird und durch den Gedanke», daß man sich in der Eingangspforte zu Italien befindet und auf einem Berg¬ stock, den schon Goethe als den Vater sozusagen von gewaltigen Bergzügen und herrlichen Stromgebieten höchst merkwürdig gefunden hat. Bei trübem Himmel dagegen ist eine solche Ansicht nur noch furchtbar erhaben, aber nicht mehr schön. Ähnlich verhält es sich mit den italienischen Seen. Den Vorteil haben die allerdings schon vor dein Hochgebirge voraus, daß sie niemals tot sind; das eine belebende ist ihre sanft bewegte, bei jedem Himmel schön ge¬ färbte Wassermasse, das andre der Saum von Ortschaften, Gärten und Villen, mit denen ihre Uferfelsen geschmückt sind. Aber Felsen bleiben doch auch diese,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/440>, abgerufen am 10.06.2024.