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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart'')

iermal seit der Reformation hat sich das deutsche Bildungsideal
gewandelt, genau entsprechend den wechselnden Verhältnissen der
Zeiten, und ebenso oft haben die höhern Schulen Deutschlands
die ihnen zu Gebote stehenden Bildungsmittel einer Prüfung
unterzogen und bald dies, bald jenes in ihrer Auswahl oder
in der Art ihrer Verwendung geändert. Im sechzehnten Jahrhundert, im Jahr¬
hundert der Reformation, da das kirchliche Interesse in der Form des streng
geschlossenen Koufessionalismus bei weitem überwog, und ein wirkliches, kraft¬
volles Nationalgefühl nirgends vorhanden war, da war das Bildungs-
ideal der theologisch-humanistische Gelehrte, der sich dem Dienste der Kirche,
der Schule, einer Stadtgemeinde, eines Fürsten widmete, und der als Besitzer
einer wesentlich fremden, lateinischen Bildung, als Mitglied einer geistigen
Aristokratie -- und wenn es der dürftigste Schulmeister einer Lateinschule
war -- von seiner Höhe geringschätzig auf die große Masse seiner ungelehrten
Landsleute herabsah. Nachdem der dreißigjährige Krieg die Zustände, aus
denen dieses Bildungsideal hervorgegangen war, gründlich zerstört hatte, trat
ein ganz andres an seine Stelle: das war der gewandte, möglichst vielseitig
gebildete Weltmann, der "galante xolitieus." Denn über dem altständischen,
kirchlich geschlossenen Staate erhob sich der absolute fürstliche Staat, der die
einzelnen Stunde dem Willen des Fürsten und den Interessen des Ganzen
beugte, mit einer Masse veralteter Rechte und Überlieferungen kraft des "Ver¬
nunftrechts" kurzer Hand aufräumte und die konfessionellen Gegensätze vornehm
zu ignoriren begann. Indem nun der Adel, um seine politische Selbständigkeit



") Aus der Rüde unsers Mitarbeiters Professor Dr. O. Kneminel bei den, Gedenkfest der
Nilolnischule zu Leipzig am 21. und 22. Mai d. I.
Grenzboten II 1897 S7


Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart'')

iermal seit der Reformation hat sich das deutsche Bildungsideal
gewandelt, genau entsprechend den wechselnden Verhältnissen der
Zeiten, und ebenso oft haben die höhern Schulen Deutschlands
die ihnen zu Gebote stehenden Bildungsmittel einer Prüfung
unterzogen und bald dies, bald jenes in ihrer Auswahl oder
in der Art ihrer Verwendung geändert. Im sechzehnten Jahrhundert, im Jahr¬
hundert der Reformation, da das kirchliche Interesse in der Form des streng
geschlossenen Koufessionalismus bei weitem überwog, und ein wirkliches, kraft¬
volles Nationalgefühl nirgends vorhanden war, da war das Bildungs-
ideal der theologisch-humanistische Gelehrte, der sich dem Dienste der Kirche,
der Schule, einer Stadtgemeinde, eines Fürsten widmete, und der als Besitzer
einer wesentlich fremden, lateinischen Bildung, als Mitglied einer geistigen
Aristokratie — und wenn es der dürftigste Schulmeister einer Lateinschule
war — von seiner Höhe geringschätzig auf die große Masse seiner ungelehrten
Landsleute herabsah. Nachdem der dreißigjährige Krieg die Zustände, aus
denen dieses Bildungsideal hervorgegangen war, gründlich zerstört hatte, trat
ein ganz andres an seine Stelle: das war der gewandte, möglichst vielseitig
gebildete Weltmann, der „galante xolitieus." Denn über dem altständischen,
kirchlich geschlossenen Staate erhob sich der absolute fürstliche Staat, der die
einzelnen Stunde dem Willen des Fürsten und den Interessen des Ganzen
beugte, mit einer Masse veralteter Rechte und Überlieferungen kraft des „Ver¬
nunftrechts" kurzer Hand aufräumte und die konfessionellen Gegensätze vornehm
zu ignoriren begann. Indem nun der Adel, um seine politische Selbständigkeit



") Aus der Rüde unsers Mitarbeiters Professor Dr. O. Kneminel bei den, Gedenkfest der
Nilolnischule zu Leipzig am 21. und 22. Mai d. I.
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[0457] [Abbildung] Das humanistische Gymnasium und die Gegenwart'') iermal seit der Reformation hat sich das deutsche Bildungsideal gewandelt, genau entsprechend den wechselnden Verhältnissen der Zeiten, und ebenso oft haben die höhern Schulen Deutschlands die ihnen zu Gebote stehenden Bildungsmittel einer Prüfung unterzogen und bald dies, bald jenes in ihrer Auswahl oder in der Art ihrer Verwendung geändert. Im sechzehnten Jahrhundert, im Jahr¬ hundert der Reformation, da das kirchliche Interesse in der Form des streng geschlossenen Koufessionalismus bei weitem überwog, und ein wirkliches, kraft¬ volles Nationalgefühl nirgends vorhanden war, da war das Bildungs- ideal der theologisch-humanistische Gelehrte, der sich dem Dienste der Kirche, der Schule, einer Stadtgemeinde, eines Fürsten widmete, und der als Besitzer einer wesentlich fremden, lateinischen Bildung, als Mitglied einer geistigen Aristokratie — und wenn es der dürftigste Schulmeister einer Lateinschule war — von seiner Höhe geringschätzig auf die große Masse seiner ungelehrten Landsleute herabsah. Nachdem der dreißigjährige Krieg die Zustände, aus denen dieses Bildungsideal hervorgegangen war, gründlich zerstört hatte, trat ein ganz andres an seine Stelle: das war der gewandte, möglichst vielseitig gebildete Weltmann, der „galante xolitieus." Denn über dem altständischen, kirchlich geschlossenen Staate erhob sich der absolute fürstliche Staat, der die einzelnen Stunde dem Willen des Fürsten und den Interessen des Ganzen beugte, mit einer Masse veralteter Rechte und Überlieferungen kraft des „Ver¬ nunftrechts" kurzer Hand aufräumte und die konfessionellen Gegensätze vornehm zu ignoriren begann. Indem nun der Adel, um seine politische Selbständigkeit ") Aus der Rüde unsers Mitarbeiters Professor Dr. O. Kneminel bei den, Gedenkfest der Nilolnischule zu Leipzig am 21. und 22. Mai d. I. Grenzboten II 1897 S7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/457>, abgerufen am 28.05.2024.