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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

hunderten durch die Gesetze der Wissenschaft zu ergründen gelang, wurde schon
in der Urzeit unsrer Geschichte von Völkern geübt, die auf dem kindlichsten
Standpunkte standen. Oder sollte man eben aus jenen technischen Leistungen
auf einen entsprechenden Stand der Wissenschaften schließen und behaupten
dürfen, daß jene Völker höhere Kenntnisse in der Mathematik, Statik,
Mechanik usw. gehabt hätten? Schwerlich hat der Baumeister, der im fünf¬
zehnten Jahrhundert v. Chr. die zwanzig Meter hohen Säulen des Tempels
von Karnak aufrichtete und über sie acht Meter lange Architrave und Decken¬
platten strecken ließ, oder der, der 1100 Jahre später die Interkolumnien der
Propyläen in Athen mit marmornen Architraven überdeckte, eine statische
Berechnung aufgestellt; schwerlich hat der Erbauer des Salomonischen Tempels
ausgerechnet, wieviel Pferdekräfte dazu gehörten, die fünf Meter langen, zwei
Meter starken Quader des Unterbaus zu bewegen und aufeinander zu setzen.

Mit Recht können wir stolz sein auf die Leistungen unsrer Zeit und auf
unsre Kenntnisse. Wir wissen genau, unter welchem Gewicht ein eclo. Granit
oder Sandstein zerdrückt wird, wie schwer ein hölzerner oder eiserner Balken
von einer gewissen Stärke belastet werden muß, um zu brechen; und wenn
es gilt, einen Strom mit eisernen Trägern zu überbrücken, so wird die
Stärke jedes Bauteils darnach berechnet, in welchem Maße er bei der
größten Belastung in Anspruch genommen wird. Bei jeder Eisenbahnbrücke
wird genau vorher festgestellt, wie weit sie sich, wenn der schwerste Güterzug
darüberfährt, "durchbiegcn" darf; ja wenn ein Bauwerk wie das Wunder
der Pariser Ausstellung, der Eiffelturm, entworfen wird, so darf nicht
unterlassen werden, vorher auf Grund wissenschaftlicher Berechnungen fest¬
zustellen, wie großen Schwankungen er bei den Stößen der schwersten
Stürme ausgesetzt ist. Fast in allen zivilisirten Ländern ist auf Grund
wissenschaftlicher Ermittelungen durch Polizeivorschriften genau festgestellt, bis
zu welchem Grade jedes Material, sei es Holz oder Eisen oder Stein, "ans
Druck oder Zug in Anspruch genommen" werden darf, ohne die öffentliche
Sicherheit zu gefährden. Wird eine Dampfmaschine hergestellt, so gilt es
ebenso wohl für einen Fehler, wenn ihre Leistungsfähigkeit mit den Betriebs¬
kosten über das Bedürfnis hinausgeht, als wenn sie dahinter zurückbleibt, oder
in einem Maße in Anspruch genommen werden muß, das die Sicherheit ge¬
fährdet. Wenn endlich ein Kirchenschiff überwölbt wird, so läßt sich durch
Rechnung ermitteln, welche Stärke die Gewölbe und welche die Strebepfeiler
erhalten müssen, damit sie nicht unter dem Schub der Gewölbe ausweichen;
durch Ermittlung der Stützlinie ans der Stärke und Richtung des Druckes
und deren Eintragung in die Gewölbe bestimmt man genau die Stellen,
wo diese brechen müssen, wenn sie zu schwach sind. Wie war es ohne das
alles im Altertum möglich, überhaupt zu bauen? Auch wenn ein Baumeister
jener Zeit im Besitz aller damaligen wissenschaftlichen Kenntnisse gewesen wäre,


Erfahrung und Wissenschaft in der Baukunst

hunderten durch die Gesetze der Wissenschaft zu ergründen gelang, wurde schon
in der Urzeit unsrer Geschichte von Völkern geübt, die auf dem kindlichsten
Standpunkte standen. Oder sollte man eben aus jenen technischen Leistungen
auf einen entsprechenden Stand der Wissenschaften schließen und behaupten
dürfen, daß jene Völker höhere Kenntnisse in der Mathematik, Statik,
Mechanik usw. gehabt hätten? Schwerlich hat der Baumeister, der im fünf¬
zehnten Jahrhundert v. Chr. die zwanzig Meter hohen Säulen des Tempels
von Karnak aufrichtete und über sie acht Meter lange Architrave und Decken¬
platten strecken ließ, oder der, der 1100 Jahre später die Interkolumnien der
Propyläen in Athen mit marmornen Architraven überdeckte, eine statische
Berechnung aufgestellt; schwerlich hat der Erbauer des Salomonischen Tempels
ausgerechnet, wieviel Pferdekräfte dazu gehörten, die fünf Meter langen, zwei
Meter starken Quader des Unterbaus zu bewegen und aufeinander zu setzen.

Mit Recht können wir stolz sein auf die Leistungen unsrer Zeit und auf
unsre Kenntnisse. Wir wissen genau, unter welchem Gewicht ein eclo. Granit
oder Sandstein zerdrückt wird, wie schwer ein hölzerner oder eiserner Balken
von einer gewissen Stärke belastet werden muß, um zu brechen; und wenn
es gilt, einen Strom mit eisernen Trägern zu überbrücken, so wird die
Stärke jedes Bauteils darnach berechnet, in welchem Maße er bei der
größten Belastung in Anspruch genommen wird. Bei jeder Eisenbahnbrücke
wird genau vorher festgestellt, wie weit sie sich, wenn der schwerste Güterzug
darüberfährt, „durchbiegcn" darf; ja wenn ein Bauwerk wie das Wunder
der Pariser Ausstellung, der Eiffelturm, entworfen wird, so darf nicht
unterlassen werden, vorher auf Grund wissenschaftlicher Berechnungen fest¬
zustellen, wie großen Schwankungen er bei den Stößen der schwersten
Stürme ausgesetzt ist. Fast in allen zivilisirten Ländern ist auf Grund
wissenschaftlicher Ermittelungen durch Polizeivorschriften genau festgestellt, bis
zu welchem Grade jedes Material, sei es Holz oder Eisen oder Stein, „ans
Druck oder Zug in Anspruch genommen" werden darf, ohne die öffentliche
Sicherheit zu gefährden. Wird eine Dampfmaschine hergestellt, so gilt es
ebenso wohl für einen Fehler, wenn ihre Leistungsfähigkeit mit den Betriebs¬
kosten über das Bedürfnis hinausgeht, als wenn sie dahinter zurückbleibt, oder
in einem Maße in Anspruch genommen werden muß, das die Sicherheit ge¬
fährdet. Wenn endlich ein Kirchenschiff überwölbt wird, so läßt sich durch
Rechnung ermitteln, welche Stärke die Gewölbe und welche die Strebepfeiler
erhalten müssen, damit sie nicht unter dem Schub der Gewölbe ausweichen;
durch Ermittlung der Stützlinie ans der Stärke und Richtung des Druckes
und deren Eintragung in die Gewölbe bestimmt man genau die Stellen,
wo diese brechen müssen, wenn sie zu schwach sind. Wie war es ohne das
alles im Altertum möglich, überhaupt zu bauen? Auch wenn ein Baumeister
jener Zeit im Besitz aller damaligen wissenschaftlichen Kenntnisse gewesen wäre,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/580>, abgerufen am 27.05.2024.