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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

musikalisch begabte Kinder können schon gleich nach den ersten Versuchen sehr
vieles, z. B. die Begleitung zu einem Liedchen selbst finden, was ein Un¬
musikalischer in zehntausend Klavierstunden, was er im Leben nicht lernt, und
wenn diese Anlage ererbt sein soll, so muß sie doch einer der Vorfahren oder
eine Reihe von Vorfahren erworben habe". Daß der Urmensch oder ein
tierischer Vorfahre des Urmenschen die Klavierspieldeterminanten geschenkt
gekriegt haben sollte, wird doch gerade Weismann am wenigsten behaupten
wollen, da ja in feiner Welterklärung kein Schöpfer vorkommt, der den Ge¬
schöpfen etwas schenken könnte. Wenn Weismann V 564 schreibt: "Noch
niemals ist es erhört worden, daß ein Kind von selbst hätte lesen können,
obwohl doch seine beiden Eltern ihr ganzes Leben hindurch diese Kunst fest
und fester eingeübt haben," so finden wir eine so geschmacklose Äußerung
eines großen Gelehrten nicht würdig. Wir wollen kein Gewicht darauf legen,
daß vorm Jahre in Kastens Panoptikum ein Wunderknabe gezeigt worden ist,
der das Lesen im zweiten Lebensjahre und beinahe ohne Unterweisung gelernt
haben soll, sondern sagen nur: es versteht sich doch ganz von selbst, daß nicht
die verwickelte Fertigkeit unmittelbar, sondern nur die Anlage dazu vererbt
werden kann, wissenschaftlich gesprochen: die Gesamtheit der dafür erforderlichen
Hirnzellen, Hirnbahnen und Nervenverbindungen und, die Weismcmnsche
Hypothese als begründet angenommen, der ihnen entsprechenden Determinanten
des Keimplasmas. Bei dieser Gelegenheit möchten wir noch fragen: wenn
die Lokalisationstheorie der Physiologen richtig ist und jede Vorstellung ihre
eigne Gehirnzelle, jede Denkthütigkeit ihre besondre Hirnzellenverbindung
erfordert, woher sollen denn da die neuen Zellen und Verbindungen im Gehirn
des mit soviel neuen Vorstellungen arbeitenden Kulturmenschen kommen, wenn
sie nicht durch seine geistige Thätigkeit geschaffen werden? Und sollte das
Gehirn nicht zu den vererbbarem Organen gehören? Auf welchem andern
Wege wäre denn das vollkommnere Gehirn der höhern Tiere und Menschen
entstanden, als dadurch, daß der durch die geistige Thätigkeit jedes Indi¬
viduums erworbne Zuwachs von Gehirnzellen vererbt wurde? Oder muß
etwa jedes Menschenkind seine Lebensbahn mit einem Gehirn von dem Umfang
und der Struktur des Beuteltiergehirns antreten?

Also nur von diesen drei Arten von Veränderungen behauptet Weismann,
daß sie nicht vererbt werden könnten, dagegen sagt er nichts davon, daß Ge¬
sundheit und Kraft nicht vererbbare Eigenschaften wären, vielmehr sagt er,
wie die Leser gesehen haben, davon gerade das Gegenteil. In Ur. 40 der
vorjährigen Grenzboten ist eine Polemik Alexander Tilles gegen die Sozialisten
und Gewerkvereinler besprochen worden, in der die Ansicht, die englische Ar¬
beiterschaft sei durch Verkürzung der Arbeitszeit und sonstige Verbesserungen
ihrer Lage gehoben worden, als unbegründet bezeichnet wird. Er läßt die
Freunde der Gewerkvereine sagen: "So wurden ihre Kinder gesünder und


Vererbung

musikalisch begabte Kinder können schon gleich nach den ersten Versuchen sehr
vieles, z. B. die Begleitung zu einem Liedchen selbst finden, was ein Un¬
musikalischer in zehntausend Klavierstunden, was er im Leben nicht lernt, und
wenn diese Anlage ererbt sein soll, so muß sie doch einer der Vorfahren oder
eine Reihe von Vorfahren erworben habe». Daß der Urmensch oder ein
tierischer Vorfahre des Urmenschen die Klavierspieldeterminanten geschenkt
gekriegt haben sollte, wird doch gerade Weismann am wenigsten behaupten
wollen, da ja in feiner Welterklärung kein Schöpfer vorkommt, der den Ge¬
schöpfen etwas schenken könnte. Wenn Weismann V 564 schreibt: „Noch
niemals ist es erhört worden, daß ein Kind von selbst hätte lesen können,
obwohl doch seine beiden Eltern ihr ganzes Leben hindurch diese Kunst fest
und fester eingeübt haben," so finden wir eine so geschmacklose Äußerung
eines großen Gelehrten nicht würdig. Wir wollen kein Gewicht darauf legen,
daß vorm Jahre in Kastens Panoptikum ein Wunderknabe gezeigt worden ist,
der das Lesen im zweiten Lebensjahre und beinahe ohne Unterweisung gelernt
haben soll, sondern sagen nur: es versteht sich doch ganz von selbst, daß nicht
die verwickelte Fertigkeit unmittelbar, sondern nur die Anlage dazu vererbt
werden kann, wissenschaftlich gesprochen: die Gesamtheit der dafür erforderlichen
Hirnzellen, Hirnbahnen und Nervenverbindungen und, die Weismcmnsche
Hypothese als begründet angenommen, der ihnen entsprechenden Determinanten
des Keimplasmas. Bei dieser Gelegenheit möchten wir noch fragen: wenn
die Lokalisationstheorie der Physiologen richtig ist und jede Vorstellung ihre
eigne Gehirnzelle, jede Denkthütigkeit ihre besondre Hirnzellenverbindung
erfordert, woher sollen denn da die neuen Zellen und Verbindungen im Gehirn
des mit soviel neuen Vorstellungen arbeitenden Kulturmenschen kommen, wenn
sie nicht durch seine geistige Thätigkeit geschaffen werden? Und sollte das
Gehirn nicht zu den vererbbarem Organen gehören? Auf welchem andern
Wege wäre denn das vollkommnere Gehirn der höhern Tiere und Menschen
entstanden, als dadurch, daß der durch die geistige Thätigkeit jedes Indi¬
viduums erworbne Zuwachs von Gehirnzellen vererbt wurde? Oder muß
etwa jedes Menschenkind seine Lebensbahn mit einem Gehirn von dem Umfang
und der Struktur des Beuteltiergehirns antreten?

Also nur von diesen drei Arten von Veränderungen behauptet Weismann,
daß sie nicht vererbt werden könnten, dagegen sagt er nichts davon, daß Ge¬
sundheit und Kraft nicht vererbbare Eigenschaften wären, vielmehr sagt er,
wie die Leser gesehen haben, davon gerade das Gegenteil. In Ur. 40 der
vorjährigen Grenzboten ist eine Polemik Alexander Tilles gegen die Sozialisten
und Gewerkvereinler besprochen worden, in der die Ansicht, die englische Ar¬
beiterschaft sei durch Verkürzung der Arbeitszeit und sonstige Verbesserungen
ihrer Lage gehoben worden, als unbegründet bezeichnet wird. Er läßt die
Freunde der Gewerkvereine sagen: „So wurden ihre Kinder gesünder und


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[0140] Vererbung musikalisch begabte Kinder können schon gleich nach den ersten Versuchen sehr vieles, z. B. die Begleitung zu einem Liedchen selbst finden, was ein Un¬ musikalischer in zehntausend Klavierstunden, was er im Leben nicht lernt, und wenn diese Anlage ererbt sein soll, so muß sie doch einer der Vorfahren oder eine Reihe von Vorfahren erworben habe». Daß der Urmensch oder ein tierischer Vorfahre des Urmenschen die Klavierspieldeterminanten geschenkt gekriegt haben sollte, wird doch gerade Weismann am wenigsten behaupten wollen, da ja in feiner Welterklärung kein Schöpfer vorkommt, der den Ge¬ schöpfen etwas schenken könnte. Wenn Weismann V 564 schreibt: „Noch niemals ist es erhört worden, daß ein Kind von selbst hätte lesen können, obwohl doch seine beiden Eltern ihr ganzes Leben hindurch diese Kunst fest und fester eingeübt haben," so finden wir eine so geschmacklose Äußerung eines großen Gelehrten nicht würdig. Wir wollen kein Gewicht darauf legen, daß vorm Jahre in Kastens Panoptikum ein Wunderknabe gezeigt worden ist, der das Lesen im zweiten Lebensjahre und beinahe ohne Unterweisung gelernt haben soll, sondern sagen nur: es versteht sich doch ganz von selbst, daß nicht die verwickelte Fertigkeit unmittelbar, sondern nur die Anlage dazu vererbt werden kann, wissenschaftlich gesprochen: die Gesamtheit der dafür erforderlichen Hirnzellen, Hirnbahnen und Nervenverbindungen und, die Weismcmnsche Hypothese als begründet angenommen, der ihnen entsprechenden Determinanten des Keimplasmas. Bei dieser Gelegenheit möchten wir noch fragen: wenn die Lokalisationstheorie der Physiologen richtig ist und jede Vorstellung ihre eigne Gehirnzelle, jede Denkthütigkeit ihre besondre Hirnzellenverbindung erfordert, woher sollen denn da die neuen Zellen und Verbindungen im Gehirn des mit soviel neuen Vorstellungen arbeitenden Kulturmenschen kommen, wenn sie nicht durch seine geistige Thätigkeit geschaffen werden? Und sollte das Gehirn nicht zu den vererbbarem Organen gehören? Auf welchem andern Wege wäre denn das vollkommnere Gehirn der höhern Tiere und Menschen entstanden, als dadurch, daß der durch die geistige Thätigkeit jedes Indi¬ viduums erworbne Zuwachs von Gehirnzellen vererbt wurde? Oder muß etwa jedes Menschenkind seine Lebensbahn mit einem Gehirn von dem Umfang und der Struktur des Beuteltiergehirns antreten? Also nur von diesen drei Arten von Veränderungen behauptet Weismann, daß sie nicht vererbt werden könnten, dagegen sagt er nichts davon, daß Ge¬ sundheit und Kraft nicht vererbbare Eigenschaften wären, vielmehr sagt er, wie die Leser gesehen haben, davon gerade das Gegenteil. In Ur. 40 der vorjährigen Grenzboten ist eine Polemik Alexander Tilles gegen die Sozialisten und Gewerkvereinler besprochen worden, in der die Ansicht, die englische Ar¬ beiterschaft sei durch Verkürzung der Arbeitszeit und sonstige Verbesserungen ihrer Lage gehoben worden, als unbegründet bezeichnet wird. Er läßt die Freunde der Gewerkvereine sagen: „So wurden ihre Kinder gesünder und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/140>, abgerufen am 22.05.2024.