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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

zurichten, der die Schüler über die Stellung des Christentums und der Kirchen
in der religiösen Entwicklung der Menschheit aufzuklären, in das tiefere Ver¬
ständnis der Bibel einzuführen und über die Entstehung der einzelnen Bücher
Auskunft zu geben hätte. Dogmatik und Kirchengeschichte könnten entbehrt
werden; die erste besteht doch nur darin, daß man den Katechismus breit tritt
und durch Einkleidung des Geträtsches in gelehrte Redensarten den Schein
erweckt, als ob das eine Wissenschaft wäre, die Kirchengeschichte aber ist in
der Weltgeschichte enthalten. Dabei müßten sich Lehrer und Schüler bewußt
bleiben, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit religiösen Dingen, weit
entfernt davon, religiös zu machen, vielmehr die Religion gefährdet und nur
darum gewagt werden darf, weil das Zeitalter -- so nehmen wir an -- die
aus der kritischen Prüfung des Glaubensinhalts entstehenden Zweifel schon
hinter sich hat und im Glauben fest ist. Heute steht die Gläubigkeit der Völker
noch genau im umgekehrten Verhältnis zur Güte und Länge des Religions¬
unterrichts, den sie empfangen; obenan stehen die Russen und die Spanier, die
gar nicht unterrichtet werden, zu unterst die protestantischen Deutschen, die
mehr und bessern Religionsunterricht empfangen und mehr und bessere Predigten
ungehört lassen als irgend ein Volk in den gläubigsten Zeitaltern. Die
Wirkungen des Religionsunterrichts sind an ganzen Völkern wie an einzelnen
Personen -- man denke an Friedrich den Großen und an Voltaire -- so
offenbar geworden, daß man sich, wenn man aus solchen Bedenken eine so ge¬
fährliche Thätigkeit einstellt, mit ruhigem und gutem Gewissen einen hyper¬
kritischen Narren schelten lassen kann. Beda Weber, ein geistvoller Manu, der
in den fünfziger Jahren katholischer Pfarrer in Frankfurt a. M. war, erzählt
ein hübsches, wahres Geschichtchen, aus dem man sieht, wie unter Umständen
gar kein Religionsunterricht der wirksamste ist. Ein gelehrter Klostergeistlicher
hatte bei Aufhebung der Klöster mit einer kargen Pension vorlieb nehmen
müssen- Ihm starb, ganz mittellos, ein lieber protestantischer Freund, der ihn
zum Vormunde seines einzigen, auch mutterlosen Sohnes einsetzte. Der Pater
nahm den Knaben zu sich, gewährte ihm Unterhalt und Belehrung, ließ ihn
studiren, sprach aber niemals ein Wort über Religion mit ihm, um sich nicht
vorwerfen zu müssen, daß er die Gewalt, die ihm die Umstände über das Herz
des Knaben und Jünglings einräumten, gemißbraucht und so das Vertrauen des
Vaters getäuscht habe. Sobald der junge Mann selbständig war, wurde er
katholisch.

(Schluß folgt)




Religionsunterricht

zurichten, der die Schüler über die Stellung des Christentums und der Kirchen
in der religiösen Entwicklung der Menschheit aufzuklären, in das tiefere Ver¬
ständnis der Bibel einzuführen und über die Entstehung der einzelnen Bücher
Auskunft zu geben hätte. Dogmatik und Kirchengeschichte könnten entbehrt
werden; die erste besteht doch nur darin, daß man den Katechismus breit tritt
und durch Einkleidung des Geträtsches in gelehrte Redensarten den Schein
erweckt, als ob das eine Wissenschaft wäre, die Kirchengeschichte aber ist in
der Weltgeschichte enthalten. Dabei müßten sich Lehrer und Schüler bewußt
bleiben, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit religiösen Dingen, weit
entfernt davon, religiös zu machen, vielmehr die Religion gefährdet und nur
darum gewagt werden darf, weil das Zeitalter — so nehmen wir an — die
aus der kritischen Prüfung des Glaubensinhalts entstehenden Zweifel schon
hinter sich hat und im Glauben fest ist. Heute steht die Gläubigkeit der Völker
noch genau im umgekehrten Verhältnis zur Güte und Länge des Religions¬
unterrichts, den sie empfangen; obenan stehen die Russen und die Spanier, die
gar nicht unterrichtet werden, zu unterst die protestantischen Deutschen, die
mehr und bessern Religionsunterricht empfangen und mehr und bessere Predigten
ungehört lassen als irgend ein Volk in den gläubigsten Zeitaltern. Die
Wirkungen des Religionsunterrichts sind an ganzen Völkern wie an einzelnen
Personen — man denke an Friedrich den Großen und an Voltaire — so
offenbar geworden, daß man sich, wenn man aus solchen Bedenken eine so ge¬
fährliche Thätigkeit einstellt, mit ruhigem und gutem Gewissen einen hyper¬
kritischen Narren schelten lassen kann. Beda Weber, ein geistvoller Manu, der
in den fünfziger Jahren katholischer Pfarrer in Frankfurt a. M. war, erzählt
ein hübsches, wahres Geschichtchen, aus dem man sieht, wie unter Umständen
gar kein Religionsunterricht der wirksamste ist. Ein gelehrter Klostergeistlicher
hatte bei Aufhebung der Klöster mit einer kargen Pension vorlieb nehmen
müssen- Ihm starb, ganz mittellos, ein lieber protestantischer Freund, der ihn
zum Vormunde seines einzigen, auch mutterlosen Sohnes einsetzte. Der Pater
nahm den Knaben zu sich, gewährte ihm Unterhalt und Belehrung, ließ ihn
studiren, sprach aber niemals ein Wort über Religion mit ihm, um sich nicht
vorwerfen zu müssen, daß er die Gewalt, die ihm die Umstände über das Herz
des Knaben und Jünglings einräumten, gemißbraucht und so das Vertrauen des
Vaters getäuscht habe. Sobald der junge Mann selbständig war, wurde er
katholisch.

(Schluß folgt)




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[0218] Religionsunterricht zurichten, der die Schüler über die Stellung des Christentums und der Kirchen in der religiösen Entwicklung der Menschheit aufzuklären, in das tiefere Ver¬ ständnis der Bibel einzuführen und über die Entstehung der einzelnen Bücher Auskunft zu geben hätte. Dogmatik und Kirchengeschichte könnten entbehrt werden; die erste besteht doch nur darin, daß man den Katechismus breit tritt und durch Einkleidung des Geträtsches in gelehrte Redensarten den Schein erweckt, als ob das eine Wissenschaft wäre, die Kirchengeschichte aber ist in der Weltgeschichte enthalten. Dabei müßten sich Lehrer und Schüler bewußt bleiben, daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit religiösen Dingen, weit entfernt davon, religiös zu machen, vielmehr die Religion gefährdet und nur darum gewagt werden darf, weil das Zeitalter — so nehmen wir an — die aus der kritischen Prüfung des Glaubensinhalts entstehenden Zweifel schon hinter sich hat und im Glauben fest ist. Heute steht die Gläubigkeit der Völker noch genau im umgekehrten Verhältnis zur Güte und Länge des Religions¬ unterrichts, den sie empfangen; obenan stehen die Russen und die Spanier, die gar nicht unterrichtet werden, zu unterst die protestantischen Deutschen, die mehr und bessern Religionsunterricht empfangen und mehr und bessere Predigten ungehört lassen als irgend ein Volk in den gläubigsten Zeitaltern. Die Wirkungen des Religionsunterrichts sind an ganzen Völkern wie an einzelnen Personen — man denke an Friedrich den Großen und an Voltaire — so offenbar geworden, daß man sich, wenn man aus solchen Bedenken eine so ge¬ fährliche Thätigkeit einstellt, mit ruhigem und gutem Gewissen einen hyper¬ kritischen Narren schelten lassen kann. Beda Weber, ein geistvoller Manu, der in den fünfziger Jahren katholischer Pfarrer in Frankfurt a. M. war, erzählt ein hübsches, wahres Geschichtchen, aus dem man sieht, wie unter Umständen gar kein Religionsunterricht der wirksamste ist. Ein gelehrter Klostergeistlicher hatte bei Aufhebung der Klöster mit einer kargen Pension vorlieb nehmen müssen- Ihm starb, ganz mittellos, ein lieber protestantischer Freund, der ihn zum Vormunde seines einzigen, auch mutterlosen Sohnes einsetzte. Der Pater nahm den Knaben zu sich, gewährte ihm Unterhalt und Belehrung, ließ ihn studiren, sprach aber niemals ein Wort über Religion mit ihm, um sich nicht vorwerfen zu müssen, daß er die Gewalt, die ihm die Umstände über das Herz des Knaben und Jünglings einräumten, gemißbraucht und so das Vertrauen des Vaters getäuscht habe. Sobald der junge Mann selbständig war, wurde er katholisch. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/218>, abgerufen am 15.05.2024.