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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen in der Flottenfrage

Völkern überlassen wollen. Ob Deutschland im Laufe kommender Jahrhunderte
seine Grenzen erweitern oder wertvolle Kolonialreiche besitzen wird, kann heute
noch niemand voraussagen; hoffen wollen wir es aber. Jedenfalls ist es
Pflicht des lebenden Geschlechts, dafür zu sorgen, daß unsre Nachkommen nicht
nur Raum und Nahrung finden, sondern auch Waffen, um sich im Völker¬
gedränge behaupten zu können.

Mars unterschätzt aber auch den Nutzen, den uns eine starke Kriegsflotte
schon in der Gegenwart bietet. Unser Volk nimmt jährlich um 600000 Köpfe
zu, wir werdeu also immer abhängiger von ausländischer Gctreidezufuhr. In
einem Kriege gegen Frankreich und Nußland z. B. könnten wir aber unter
keinen Umständen auf Getreidezufuhr von Österreich rechnen, weil dieses Land
dann selbst am Kriege beteiligt wäre und mit seinem Getreide sein eignes Heer
nähren müßte. Die Zufuhr von Lebensmitteln durch Holland und Belgien
würde Frankreich mit seiner Seemacht verhindern können.

Die Herrschaft in der Ostsee, für die Mars unsre Marine allenfalls kräf¬
tigen will, hat für uns gar keinen Wert. Die Ostsee ist nur ein kleines
Binnenmeer mit unbedeutendem Handelsverkehr. Die Hauptaufgabe unsrer
Kriegsflotte ist nicht der Schutz unsrer Ostseeküste, sondern vor allem der, die
Elbe und die Weser offen zu halten, diese beiden Hauptadern unsers ganzen
wirtschaftlichen Lebens. Eine monatelange Blockade aller Ostseehäfen würde
dem deutschen Handel und Gewerbe viel weniger schaden als der Abschluß der
Elbe auf wenige Wochen. Mars möge sich nur bei den Hcimburgischen Reedern
erkundigen, wieviel Millionen Schaden die Störung des Seeverkehrs durch die
Cholera und durch den unseligen Streik nicht Hamburg allein, sondern dem
ganzen deutschen Gewerbe gebracht hat.

Daß Mars imstande ist, zu behaupten, es sei seit einiger Zeit ,,Mode(!)
geworden, die Seemacht der Staaten zu überschätzen" beweist nur, daß seine poli¬
tischen Anschauungen noch aus der kleindeutschen oder stockpreußischen Zeit vor mehr
als einem halben Jahrhundert stammen, wo man dem König von Preußen nur "den
Bau bewaffneter Fahrzeuge zur Verteidigung der preußischen Küste," aber keinen
Flottenbau vorschlug. Er sieht nicht, daß die gesamte Politik der Zukunft ledig¬
lich wirtschaftliche Ziele hat. Die großen wirtschaftlichen Interessengebiete: Amerika,
England mit seinen Kolonien und Nußland mit seinen asiatischen Ländereien
werden sicherlich schon zu Anfange des nächsten Jahrhunderts die wirtschaftliche
Existenz Deutschlands und dadurch die soziale Lage unsers Volks mit seinen
Arbeitermassen schwer bedrohen. Es ist möglich, jedenfalls wünschenswert, daß
sich das übrige Europa dann gleichfalls zusammenschließe, um mit vereinten
Kräften den Wettkampf gegen die drei großen Polypen führen zu können-
Deutschland wird aber in einem solchen Staatenbund für die Vertretung seiner
Interessen nur so viel politisches Gewicht haben, als es zur See bedeutet;
denn die See ist das Kampffeld des Welthandels, nicht das europäische Fest-


Die Alten und die Jungen in der Flottenfrage

Völkern überlassen wollen. Ob Deutschland im Laufe kommender Jahrhunderte
seine Grenzen erweitern oder wertvolle Kolonialreiche besitzen wird, kann heute
noch niemand voraussagen; hoffen wollen wir es aber. Jedenfalls ist es
Pflicht des lebenden Geschlechts, dafür zu sorgen, daß unsre Nachkommen nicht
nur Raum und Nahrung finden, sondern auch Waffen, um sich im Völker¬
gedränge behaupten zu können.

Mars unterschätzt aber auch den Nutzen, den uns eine starke Kriegsflotte
schon in der Gegenwart bietet. Unser Volk nimmt jährlich um 600000 Köpfe
zu, wir werdeu also immer abhängiger von ausländischer Gctreidezufuhr. In
einem Kriege gegen Frankreich und Nußland z. B. könnten wir aber unter
keinen Umständen auf Getreidezufuhr von Österreich rechnen, weil dieses Land
dann selbst am Kriege beteiligt wäre und mit seinem Getreide sein eignes Heer
nähren müßte. Die Zufuhr von Lebensmitteln durch Holland und Belgien
würde Frankreich mit seiner Seemacht verhindern können.

Die Herrschaft in der Ostsee, für die Mars unsre Marine allenfalls kräf¬
tigen will, hat für uns gar keinen Wert. Die Ostsee ist nur ein kleines
Binnenmeer mit unbedeutendem Handelsverkehr. Die Hauptaufgabe unsrer
Kriegsflotte ist nicht der Schutz unsrer Ostseeküste, sondern vor allem der, die
Elbe und die Weser offen zu halten, diese beiden Hauptadern unsers ganzen
wirtschaftlichen Lebens. Eine monatelange Blockade aller Ostseehäfen würde
dem deutschen Handel und Gewerbe viel weniger schaden als der Abschluß der
Elbe auf wenige Wochen. Mars möge sich nur bei den Hcimburgischen Reedern
erkundigen, wieviel Millionen Schaden die Störung des Seeverkehrs durch die
Cholera und durch den unseligen Streik nicht Hamburg allein, sondern dem
ganzen deutschen Gewerbe gebracht hat.

Daß Mars imstande ist, zu behaupten, es sei seit einiger Zeit ,,Mode(!)
geworden, die Seemacht der Staaten zu überschätzen" beweist nur, daß seine poli¬
tischen Anschauungen noch aus der kleindeutschen oder stockpreußischen Zeit vor mehr
als einem halben Jahrhundert stammen, wo man dem König von Preußen nur „den
Bau bewaffneter Fahrzeuge zur Verteidigung der preußischen Küste," aber keinen
Flottenbau vorschlug. Er sieht nicht, daß die gesamte Politik der Zukunft ledig¬
lich wirtschaftliche Ziele hat. Die großen wirtschaftlichen Interessengebiete: Amerika,
England mit seinen Kolonien und Nußland mit seinen asiatischen Ländereien
werden sicherlich schon zu Anfange des nächsten Jahrhunderts die wirtschaftliche
Existenz Deutschlands und dadurch die soziale Lage unsers Volks mit seinen
Arbeitermassen schwer bedrohen. Es ist möglich, jedenfalls wünschenswert, daß
sich das übrige Europa dann gleichfalls zusammenschließe, um mit vereinten
Kräften den Wettkampf gegen die drei großen Polypen führen zu können-
Deutschland wird aber in einem solchen Staatenbund für die Vertretung seiner
Interessen nur so viel politisches Gewicht haben, als es zur See bedeutet;
denn die See ist das Kampffeld des Welthandels, nicht das europäische Fest-


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[0256] Die Alten und die Jungen in der Flottenfrage Völkern überlassen wollen. Ob Deutschland im Laufe kommender Jahrhunderte seine Grenzen erweitern oder wertvolle Kolonialreiche besitzen wird, kann heute noch niemand voraussagen; hoffen wollen wir es aber. Jedenfalls ist es Pflicht des lebenden Geschlechts, dafür zu sorgen, daß unsre Nachkommen nicht nur Raum und Nahrung finden, sondern auch Waffen, um sich im Völker¬ gedränge behaupten zu können. Mars unterschätzt aber auch den Nutzen, den uns eine starke Kriegsflotte schon in der Gegenwart bietet. Unser Volk nimmt jährlich um 600000 Köpfe zu, wir werdeu also immer abhängiger von ausländischer Gctreidezufuhr. In einem Kriege gegen Frankreich und Nußland z. B. könnten wir aber unter keinen Umständen auf Getreidezufuhr von Österreich rechnen, weil dieses Land dann selbst am Kriege beteiligt wäre und mit seinem Getreide sein eignes Heer nähren müßte. Die Zufuhr von Lebensmitteln durch Holland und Belgien würde Frankreich mit seiner Seemacht verhindern können. Die Herrschaft in der Ostsee, für die Mars unsre Marine allenfalls kräf¬ tigen will, hat für uns gar keinen Wert. Die Ostsee ist nur ein kleines Binnenmeer mit unbedeutendem Handelsverkehr. Die Hauptaufgabe unsrer Kriegsflotte ist nicht der Schutz unsrer Ostseeküste, sondern vor allem der, die Elbe und die Weser offen zu halten, diese beiden Hauptadern unsers ganzen wirtschaftlichen Lebens. Eine monatelange Blockade aller Ostseehäfen würde dem deutschen Handel und Gewerbe viel weniger schaden als der Abschluß der Elbe auf wenige Wochen. Mars möge sich nur bei den Hcimburgischen Reedern erkundigen, wieviel Millionen Schaden die Störung des Seeverkehrs durch die Cholera und durch den unseligen Streik nicht Hamburg allein, sondern dem ganzen deutschen Gewerbe gebracht hat. Daß Mars imstande ist, zu behaupten, es sei seit einiger Zeit ,,Mode(!) geworden, die Seemacht der Staaten zu überschätzen" beweist nur, daß seine poli¬ tischen Anschauungen noch aus der kleindeutschen oder stockpreußischen Zeit vor mehr als einem halben Jahrhundert stammen, wo man dem König von Preußen nur „den Bau bewaffneter Fahrzeuge zur Verteidigung der preußischen Küste," aber keinen Flottenbau vorschlug. Er sieht nicht, daß die gesamte Politik der Zukunft ledig¬ lich wirtschaftliche Ziele hat. Die großen wirtschaftlichen Interessengebiete: Amerika, England mit seinen Kolonien und Nußland mit seinen asiatischen Ländereien werden sicherlich schon zu Anfange des nächsten Jahrhunderts die wirtschaftliche Existenz Deutschlands und dadurch die soziale Lage unsers Volks mit seinen Arbeitermassen schwer bedrohen. Es ist möglich, jedenfalls wünschenswert, daß sich das übrige Europa dann gleichfalls zusammenschließe, um mit vereinten Kräften den Wettkampf gegen die drei großen Polypen führen zu können- Deutschland wird aber in einem solchen Staatenbund für die Vertretung seiner Interessen nur so viel politisches Gewicht haben, als es zur See bedeutet; denn die See ist das Kampffeld des Welthandels, nicht das europäische Fest-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/256>, abgerufen am 22.05.2024.