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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

hat es sogar fertig gebracht, die christliche Moral nicht allein mit der gewöhn¬
lichen bürgerlichen Moral zu versöhnen, sondern sie zu einer solchen um-
zustempeln. Im Feuilleton einer angesehenen Zeitung las ich einmal -- es
wird wohl schon zwanzig Jahre her sein -- Betrachtungen über die Kon¬
firmationsfeier in den verschiednen Kirchen einer Großstadt. Der Verfasser
hatte die eine besucht und lobte den Geistlichen sehr; dieser habe sich nicht an
das Gefühl, sondern an den Verstand gewendet, was doch namentlich bei
Knaben das wirksamste sei, und habe gezeigt, wie man mit der Tugend in der
Welt besser fortkomme als mit dem Gegenteil. Auch unter den Geistlichen,
die das Christentum sehr ernst nehmen, giebt es wohl wenige, die nicht einen
Teil des Unterrichts in der Sittenlehre auf die Militärische Begründung der
Moral verwendeten. Wie nun, wenn ein Junge unter den Schülern wäre,
der die Nase schon in die Satiriker der verschiednen Zeiten gesteckt Hütte und
plötzlich zitirte: xroditNS tanäawr se al^ot, und beifügte, daß die Rechtschaffen-
heit in spätern Jahren oft genug nicht einmal gelobt, sondern Dummheit ge¬
scholten worden sei? Begegnet es nicht manchem Gymnasiasten, der daheim
aus der Schule dies und jenes erzählt, daß ihn sein Vater belehrt, die
"idealen" Grundsätze, die ihm seine Lehrer einprägten, taugten nichts fürs Leben?
Gehört etwa ein die Kräfte des sechzehnjähriger übersteigender Grad von
Scharfsinn dazu, um einzusehen, daß die Klugheitsregeln, deren Beobachtung
das Fortkommen in der Welt sichert, und zu denen freilich auch die ort- und
zeitgemäße Übung mancher Tugend gehört, daß die alles andre sind, nur nicht
die Moral des Neuen Testaments, und wird nicht ein solcher junger Mensch
den Geistlichen, der sie dafür ausgiebt, in seinem Herzen verlachen oder gar
verachten? Sowohl die Tugenden und die guten Handlungen wie die Sünden
nützen unter gewissen Umständen, und unter andern schaden sie, und wenn es
möglich wäre, eine Rechnung aufzusetzen, so würde man vielleicht finden, daß
bei den Tugenden der Schaden und bei den Sünden der Nutzen überwiegt.
Unter diesen bemerke ich nnr eine einzige, die dem Sünder immer und unter
allen Umständen schadet, das ist der Neid, denn der ist Selbstpeinigung. Vom
Geize gilt das nur, wenn er die im Harpagon verspottete unverständige Form
annimmt, die ja nur selten vorkommt, dagegen gar nicht, wenn einer nur im
Wohlthun geizig ist. Habsucht ist geradezu Existenzberechtigung für den
modernen Menschen; natürlich wird sie nicht so genannt, sondern Erwerbstrieb,
Fürsorge für die Familie oder Unternehmungsgeist. Beim Zorn hängt die
Wirkung von den Umstünden ab, manchmal kommt man mit Kaltblütigkeit


Dienst erweisen, denn Widersprüche, die unausgesprochen bleiben und heimlich den Volkskörper
durchwühlen, müssen ihn mit der Zeit zerrütten, und zuguderletzt mus; das doch einmal aus¬
gesprochen werden, was jedermann weiß und denkt oder wenigstens empfindet, mag es auch,
wie im Märchen, mir ein Kind sein, das da ruft- der König ist ja nackt! und dadurch den
Bann unerträglich gewordner Verstellung und Verheimlichung löst/
Religionsunterricht

hat es sogar fertig gebracht, die christliche Moral nicht allein mit der gewöhn¬
lichen bürgerlichen Moral zu versöhnen, sondern sie zu einer solchen um-
zustempeln. Im Feuilleton einer angesehenen Zeitung las ich einmal — es
wird wohl schon zwanzig Jahre her sein — Betrachtungen über die Kon¬
firmationsfeier in den verschiednen Kirchen einer Großstadt. Der Verfasser
hatte die eine besucht und lobte den Geistlichen sehr; dieser habe sich nicht an
das Gefühl, sondern an den Verstand gewendet, was doch namentlich bei
Knaben das wirksamste sei, und habe gezeigt, wie man mit der Tugend in der
Welt besser fortkomme als mit dem Gegenteil. Auch unter den Geistlichen,
die das Christentum sehr ernst nehmen, giebt es wohl wenige, die nicht einen
Teil des Unterrichts in der Sittenlehre auf die Militärische Begründung der
Moral verwendeten. Wie nun, wenn ein Junge unter den Schülern wäre,
der die Nase schon in die Satiriker der verschiednen Zeiten gesteckt Hütte und
plötzlich zitirte: xroditNS tanäawr se al^ot, und beifügte, daß die Rechtschaffen-
heit in spätern Jahren oft genug nicht einmal gelobt, sondern Dummheit ge¬
scholten worden sei? Begegnet es nicht manchem Gymnasiasten, der daheim
aus der Schule dies und jenes erzählt, daß ihn sein Vater belehrt, die
„idealen" Grundsätze, die ihm seine Lehrer einprägten, taugten nichts fürs Leben?
Gehört etwa ein die Kräfte des sechzehnjähriger übersteigender Grad von
Scharfsinn dazu, um einzusehen, daß die Klugheitsregeln, deren Beobachtung
das Fortkommen in der Welt sichert, und zu denen freilich auch die ort- und
zeitgemäße Übung mancher Tugend gehört, daß die alles andre sind, nur nicht
die Moral des Neuen Testaments, und wird nicht ein solcher junger Mensch
den Geistlichen, der sie dafür ausgiebt, in seinem Herzen verlachen oder gar
verachten? Sowohl die Tugenden und die guten Handlungen wie die Sünden
nützen unter gewissen Umständen, und unter andern schaden sie, und wenn es
möglich wäre, eine Rechnung aufzusetzen, so würde man vielleicht finden, daß
bei den Tugenden der Schaden und bei den Sünden der Nutzen überwiegt.
Unter diesen bemerke ich nnr eine einzige, die dem Sünder immer und unter
allen Umständen schadet, das ist der Neid, denn der ist Selbstpeinigung. Vom
Geize gilt das nur, wenn er die im Harpagon verspottete unverständige Form
annimmt, die ja nur selten vorkommt, dagegen gar nicht, wenn einer nur im
Wohlthun geizig ist. Habsucht ist geradezu Existenzberechtigung für den
modernen Menschen; natürlich wird sie nicht so genannt, sondern Erwerbstrieb,
Fürsorge für die Familie oder Unternehmungsgeist. Beim Zorn hängt die
Wirkung von den Umstünden ab, manchmal kommt man mit Kaltblütigkeit


Dienst erweisen, denn Widersprüche, die unausgesprochen bleiben und heimlich den Volkskörper
durchwühlen, müssen ihn mit der Zeit zerrütten, und zuguderletzt mus; das doch einmal aus¬
gesprochen werden, was jedermann weiß und denkt oder wenigstens empfindet, mag es auch,
wie im Märchen, mir ein Kind sein, das da ruft- der König ist ja nackt! und dadurch den
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[0274] Religionsunterricht hat es sogar fertig gebracht, die christliche Moral nicht allein mit der gewöhn¬ lichen bürgerlichen Moral zu versöhnen, sondern sie zu einer solchen um- zustempeln. Im Feuilleton einer angesehenen Zeitung las ich einmal — es wird wohl schon zwanzig Jahre her sein — Betrachtungen über die Kon¬ firmationsfeier in den verschiednen Kirchen einer Großstadt. Der Verfasser hatte die eine besucht und lobte den Geistlichen sehr; dieser habe sich nicht an das Gefühl, sondern an den Verstand gewendet, was doch namentlich bei Knaben das wirksamste sei, und habe gezeigt, wie man mit der Tugend in der Welt besser fortkomme als mit dem Gegenteil. Auch unter den Geistlichen, die das Christentum sehr ernst nehmen, giebt es wohl wenige, die nicht einen Teil des Unterrichts in der Sittenlehre auf die Militärische Begründung der Moral verwendeten. Wie nun, wenn ein Junge unter den Schülern wäre, der die Nase schon in die Satiriker der verschiednen Zeiten gesteckt Hütte und plötzlich zitirte: xroditNS tanäawr se al^ot, und beifügte, daß die Rechtschaffen- heit in spätern Jahren oft genug nicht einmal gelobt, sondern Dummheit ge¬ scholten worden sei? Begegnet es nicht manchem Gymnasiasten, der daheim aus der Schule dies und jenes erzählt, daß ihn sein Vater belehrt, die „idealen" Grundsätze, die ihm seine Lehrer einprägten, taugten nichts fürs Leben? Gehört etwa ein die Kräfte des sechzehnjähriger übersteigender Grad von Scharfsinn dazu, um einzusehen, daß die Klugheitsregeln, deren Beobachtung das Fortkommen in der Welt sichert, und zu denen freilich auch die ort- und zeitgemäße Übung mancher Tugend gehört, daß die alles andre sind, nur nicht die Moral des Neuen Testaments, und wird nicht ein solcher junger Mensch den Geistlichen, der sie dafür ausgiebt, in seinem Herzen verlachen oder gar verachten? Sowohl die Tugenden und die guten Handlungen wie die Sünden nützen unter gewissen Umständen, und unter andern schaden sie, und wenn es möglich wäre, eine Rechnung aufzusetzen, so würde man vielleicht finden, daß bei den Tugenden der Schaden und bei den Sünden der Nutzen überwiegt. Unter diesen bemerke ich nnr eine einzige, die dem Sünder immer und unter allen Umständen schadet, das ist der Neid, denn der ist Selbstpeinigung. Vom Geize gilt das nur, wenn er die im Harpagon verspottete unverständige Form annimmt, die ja nur selten vorkommt, dagegen gar nicht, wenn einer nur im Wohlthun geizig ist. Habsucht ist geradezu Existenzberechtigung für den modernen Menschen; natürlich wird sie nicht so genannt, sondern Erwerbstrieb, Fürsorge für die Familie oder Unternehmungsgeist. Beim Zorn hängt die Wirkung von den Umstünden ab, manchmal kommt man mit Kaltblütigkeit Dienst erweisen, denn Widersprüche, die unausgesprochen bleiben und heimlich den Volkskörper durchwühlen, müssen ihn mit der Zeit zerrütten, und zuguderletzt mus; das doch einmal aus¬ gesprochen werden, was jedermann weiß und denkt oder wenigstens empfindet, mag es auch, wie im Märchen, mir ein Kind sein, das da ruft- der König ist ja nackt! und dadurch den Bann unerträglich gewordner Verstellung und Verheimlichung löst/

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/274>, abgerufen am 01.11.2024.