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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

für den alten Schweizer selbstverständlich erst recht nichts übrig. Es hat aber
doch einmal eine Zeit gegeben, wo Gotthelf in den deutschen Landen einiger¬
maßen bekannt war; das war in den Jahren 1845 bis 1865, im Zeitalter
der Dorfgeschichte, als deren Heros zwar Berthold Auerbach galt, neben dem
aber auch Jeremias Gotthelf, wohl gerade deshalb, weil er derber und natür¬
licher war, seine Freunde und Bewunderer hatte. Es ist vielleicht bezeichnend,
daß die Hauptbewunderer in Berlin saßen, wo denn auch mehrere Allsgaben
der Werke des Schweizer Dichters (in 24 Bänden) erschienen, begleitet von
einer für jene Zeit sehr lobenswerten Biographie von C. Manuel, der dem
Pfarrer Bitzius bei Lebzeiten nahegestanden hatte. Dann begann der zwei
Jahrzehnte andauernde Verfall der deutschen Litteratur, der wunderbarerweise
die nationale Einigung begleitete, und mit den andern großen Talenten der
unmittelbar vorhergegangnen Zeit wurde auch Jeremias Gotthelf vergessen.
Aber natürlich nicht ganz; einzelne Liebhaber seiner Werke erhielten sich, vor
allem in der Schweiz, wo Gottfried Keller seinerzeit als Gegner Gotthclfs
aufgetreten war, obwohl er ihn für das größte epische Talent unsrer Zeit
erklären mußte. Von der Schweiz aus wurde denn auch, nachdem die Werke
des Dichters freigeworden waren (Albert Bitzius starb am 22. Oktober 1854),
eine neue Ausgabe seiner Erzählung "Mi der Knecht" in Reclams Universal¬
bibliothek veranstaltet (1886), und zwar in der ursprünglichen, stärker mit
Dialekt durchsetzten Gestalt; auf dieser Ausgabe, der dann noch in derselben
Bibliothek ein paar Bündchen kleiner Erzählungen und neuerdings "Mi der
Pächter" folgten, beruht wohl im wesentlichen die Kenntnis des heutigen
Geschlechts von Gotthelf. Sie ist, obwohl unter dem Einfluß des Natura¬
lismus in der deutschen Litteratur der eine oder der andre gemerkt haben
mag, daß der Dichter wieder "zeitgemäß" geworden ist, immer noch auf kleinere
Kreise beschränkt; einer vollständigen und genauen Bekanntschaft mit seinen
Werken können sich in Deutschland gewiß nur wenige Personen rühmen, und
seine wahre Bedeutung ist trotz der guten Einleitung Ferdinand Vetters zu der
neuen Ausgabe von "Mi der Knecht" noch kaum geahnt, viel weniger sorg¬
fältig entwickelt worden.

Um gleich die wahre Sachlage mit einem Schlagwort anzudeuten: Gotthelf
ist, so gut wie der Franzose Balzac, der Vater des Naturalismus, nicht bloß
des deutschen, sondern des europäischen, aber freilich, die Kinder wissen nichts
von ihrem Vater. Ein bekannter Ästhetiker sagt einmal: "Es giebt Geister,
die Spitzen und Ausgänge eines Naturprozeffes sind, es giebt andre, die nur
Stadien und Übergänge vorstellen. Von jenen gehen stets reine und entschiedn"
Eindrücke aus, von diesen verworrene und unbestimmte. Die einen deuten
rückwärts, und dem mit Tiefblick begabten Historiker ist es nicht selten möglich,
eine ganze Stufe von vorbereitenden Individuen aufzuzeigen, die ihnen vorher¬
ging. Die andern deuten vorwärts und finden oft erst nach Jahrhunderten


Jeremias Gotthelf

für den alten Schweizer selbstverständlich erst recht nichts übrig. Es hat aber
doch einmal eine Zeit gegeben, wo Gotthelf in den deutschen Landen einiger¬
maßen bekannt war; das war in den Jahren 1845 bis 1865, im Zeitalter
der Dorfgeschichte, als deren Heros zwar Berthold Auerbach galt, neben dem
aber auch Jeremias Gotthelf, wohl gerade deshalb, weil er derber und natür¬
licher war, seine Freunde und Bewunderer hatte. Es ist vielleicht bezeichnend,
daß die Hauptbewunderer in Berlin saßen, wo denn auch mehrere Allsgaben
der Werke des Schweizer Dichters (in 24 Bänden) erschienen, begleitet von
einer für jene Zeit sehr lobenswerten Biographie von C. Manuel, der dem
Pfarrer Bitzius bei Lebzeiten nahegestanden hatte. Dann begann der zwei
Jahrzehnte andauernde Verfall der deutschen Litteratur, der wunderbarerweise
die nationale Einigung begleitete, und mit den andern großen Talenten der
unmittelbar vorhergegangnen Zeit wurde auch Jeremias Gotthelf vergessen.
Aber natürlich nicht ganz; einzelne Liebhaber seiner Werke erhielten sich, vor
allem in der Schweiz, wo Gottfried Keller seinerzeit als Gegner Gotthclfs
aufgetreten war, obwohl er ihn für das größte epische Talent unsrer Zeit
erklären mußte. Von der Schweiz aus wurde denn auch, nachdem die Werke
des Dichters freigeworden waren (Albert Bitzius starb am 22. Oktober 1854),
eine neue Ausgabe seiner Erzählung „Mi der Knecht" in Reclams Universal¬
bibliothek veranstaltet (1886), und zwar in der ursprünglichen, stärker mit
Dialekt durchsetzten Gestalt; auf dieser Ausgabe, der dann noch in derselben
Bibliothek ein paar Bündchen kleiner Erzählungen und neuerdings „Mi der
Pächter" folgten, beruht wohl im wesentlichen die Kenntnis des heutigen
Geschlechts von Gotthelf. Sie ist, obwohl unter dem Einfluß des Natura¬
lismus in der deutschen Litteratur der eine oder der andre gemerkt haben
mag, daß der Dichter wieder „zeitgemäß" geworden ist, immer noch auf kleinere
Kreise beschränkt; einer vollständigen und genauen Bekanntschaft mit seinen
Werken können sich in Deutschland gewiß nur wenige Personen rühmen, und
seine wahre Bedeutung ist trotz der guten Einleitung Ferdinand Vetters zu der
neuen Ausgabe von „Mi der Knecht" noch kaum geahnt, viel weniger sorg¬
fältig entwickelt worden.

Um gleich die wahre Sachlage mit einem Schlagwort anzudeuten: Gotthelf
ist, so gut wie der Franzose Balzac, der Vater des Naturalismus, nicht bloß
des deutschen, sondern des europäischen, aber freilich, die Kinder wissen nichts
von ihrem Vater. Ein bekannter Ästhetiker sagt einmal: „Es giebt Geister,
die Spitzen und Ausgänge eines Naturprozeffes sind, es giebt andre, die nur
Stadien und Übergänge vorstellen. Von jenen gehen stets reine und entschiedn«
Eindrücke aus, von diesen verworrene und unbestimmte. Die einen deuten
rückwärts, und dem mit Tiefblick begabten Historiker ist es nicht selten möglich,
eine ganze Stufe von vorbereitenden Individuen aufzuzeigen, die ihnen vorher¬
ging. Die andern deuten vorwärts und finden oft erst nach Jahrhunderten


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[0277] Jeremias Gotthelf für den alten Schweizer selbstverständlich erst recht nichts übrig. Es hat aber doch einmal eine Zeit gegeben, wo Gotthelf in den deutschen Landen einiger¬ maßen bekannt war; das war in den Jahren 1845 bis 1865, im Zeitalter der Dorfgeschichte, als deren Heros zwar Berthold Auerbach galt, neben dem aber auch Jeremias Gotthelf, wohl gerade deshalb, weil er derber und natür¬ licher war, seine Freunde und Bewunderer hatte. Es ist vielleicht bezeichnend, daß die Hauptbewunderer in Berlin saßen, wo denn auch mehrere Allsgaben der Werke des Schweizer Dichters (in 24 Bänden) erschienen, begleitet von einer für jene Zeit sehr lobenswerten Biographie von C. Manuel, der dem Pfarrer Bitzius bei Lebzeiten nahegestanden hatte. Dann begann der zwei Jahrzehnte andauernde Verfall der deutschen Litteratur, der wunderbarerweise die nationale Einigung begleitete, und mit den andern großen Talenten der unmittelbar vorhergegangnen Zeit wurde auch Jeremias Gotthelf vergessen. Aber natürlich nicht ganz; einzelne Liebhaber seiner Werke erhielten sich, vor allem in der Schweiz, wo Gottfried Keller seinerzeit als Gegner Gotthclfs aufgetreten war, obwohl er ihn für das größte epische Talent unsrer Zeit erklären mußte. Von der Schweiz aus wurde denn auch, nachdem die Werke des Dichters freigeworden waren (Albert Bitzius starb am 22. Oktober 1854), eine neue Ausgabe seiner Erzählung „Mi der Knecht" in Reclams Universal¬ bibliothek veranstaltet (1886), und zwar in der ursprünglichen, stärker mit Dialekt durchsetzten Gestalt; auf dieser Ausgabe, der dann noch in derselben Bibliothek ein paar Bündchen kleiner Erzählungen und neuerdings „Mi der Pächter" folgten, beruht wohl im wesentlichen die Kenntnis des heutigen Geschlechts von Gotthelf. Sie ist, obwohl unter dem Einfluß des Natura¬ lismus in der deutschen Litteratur der eine oder der andre gemerkt haben mag, daß der Dichter wieder „zeitgemäß" geworden ist, immer noch auf kleinere Kreise beschränkt; einer vollständigen und genauen Bekanntschaft mit seinen Werken können sich in Deutschland gewiß nur wenige Personen rühmen, und seine wahre Bedeutung ist trotz der guten Einleitung Ferdinand Vetters zu der neuen Ausgabe von „Mi der Knecht" noch kaum geahnt, viel weniger sorg¬ fältig entwickelt worden. Um gleich die wahre Sachlage mit einem Schlagwort anzudeuten: Gotthelf ist, so gut wie der Franzose Balzac, der Vater des Naturalismus, nicht bloß des deutschen, sondern des europäischen, aber freilich, die Kinder wissen nichts von ihrem Vater. Ein bekannter Ästhetiker sagt einmal: „Es giebt Geister, die Spitzen und Ausgänge eines Naturprozeffes sind, es giebt andre, die nur Stadien und Übergänge vorstellen. Von jenen gehen stets reine und entschiedn« Eindrücke aus, von diesen verworrene und unbestimmte. Die einen deuten rückwärts, und dem mit Tiefblick begabten Historiker ist es nicht selten möglich, eine ganze Stufe von vorbereitenden Individuen aufzuzeigen, die ihnen vorher¬ ging. Die andern deuten vorwärts und finden oft erst nach Jahrhunderten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/277>, abgerufen am 22.05.2024.