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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

schweizerischen Bauern die Klage, daß bei ihnen der Liberalismus keinen sonder¬
lichen Einfluß auf den Geldbeutel ausübt." Mit solchen allgemeinen Sätzen
läßt sich aber die Giltigkeit der Gotthelfschen Charakteristik nicht erschüttern,
die vor allem auf die Macht der Eitelkeit, die Sucht, politischen Einfluß zu
üben, gestellt ist. Auch hat Manuel mit Recht bemerkt, daß in der radikal
demokratischen Lebensansicht die Versuchung zu Zügellosigkeiten größer ist als
in jeder andern. Gegen gewisse Übertreibungen kann man Verwahrung ein¬
legen, ein wahres Zeit- und Sittenbild mit gutgezeichueten Charakteren bleibt
aber auch dieses Werk.

Das letzte Buch Gotthelfs, 1854 erschienen, betitelt sich "Erlebnisse eines
Schuldenbauers." Auch hier finden sich manche Auslassungen gegen den Zeit¬
geist, doch liegt der Schwerpunkt durchaus in rein wirtschaftlichen Dingen,
und die Tendenz richtet sich gegen gewissenlose Spekulanten, habgierige Ge-
schäftsmükler und dergleichen Volk, das natürlich auch unter der Schutzdecke
des Radikalismus, der Freiheit und Gleichheit am besten fährt, ferner gegen
schwache und in Formelkram verkommende Regierungen, die dem Volke, dem
Armem kein Recht verschaffen können. Gerade dieses Buch zeigt deutlich, daß
Gotthelfs Herz bis zuletzt dem Volke gehörte, daß er nie ein Pfaffe und
Reaktionär war. "Wir können dem Dichter, sagt Manuel, unsre Hochachtung
und herzliche Teilnahme nicht versagen, der hier fast mehr als in einem andern
seiner Werke zum wirklichen Jeremias wird, "den des Volkes jammert," der
ein so warmes Herz für das Volk hat, und der besonders die Armen, die
schutzbedürftiger, die Einfältigen, die der Versuchung und der Betrügerei
allerwärts Ausgesetzten durch die ungeschminkte, wahre Darstellung ihres von
so vielen Seiten umlauerten und bedrohten Lebens warnen oder die Macht
des Staates zu ihrem wirksamern Schutz aufrufen möchte. Bitzius ist ernst
wie der alttestamentliche Prophet, er zürnt wie ein Jeremias oder Jesaias,
aber dieser Zorn ist zugleich ein klagender, ein Zorn des tiefsten Mitgefühls,
einer Liebe zum Volke, die sich nicht erheucheln läßt, und zwar zum lebendigen,
handelnden, duldenden, arbeitenden Volke. Es ist, als ob Bitzius in diesem
letzten Buche deu Armem und Gedruckten im Volke ein Vermächtnis seines
warmen Herzens habe hinterlassen wollen. Das Buch ist wie mit seinem
Herzblut geschrieben."




Jeremias Gotthelf

schweizerischen Bauern die Klage, daß bei ihnen der Liberalismus keinen sonder¬
lichen Einfluß auf den Geldbeutel ausübt." Mit solchen allgemeinen Sätzen
läßt sich aber die Giltigkeit der Gotthelfschen Charakteristik nicht erschüttern,
die vor allem auf die Macht der Eitelkeit, die Sucht, politischen Einfluß zu
üben, gestellt ist. Auch hat Manuel mit Recht bemerkt, daß in der radikal
demokratischen Lebensansicht die Versuchung zu Zügellosigkeiten größer ist als
in jeder andern. Gegen gewisse Übertreibungen kann man Verwahrung ein¬
legen, ein wahres Zeit- und Sittenbild mit gutgezeichueten Charakteren bleibt
aber auch dieses Werk.

Das letzte Buch Gotthelfs, 1854 erschienen, betitelt sich „Erlebnisse eines
Schuldenbauers." Auch hier finden sich manche Auslassungen gegen den Zeit¬
geist, doch liegt der Schwerpunkt durchaus in rein wirtschaftlichen Dingen,
und die Tendenz richtet sich gegen gewissenlose Spekulanten, habgierige Ge-
schäftsmükler und dergleichen Volk, das natürlich auch unter der Schutzdecke
des Radikalismus, der Freiheit und Gleichheit am besten fährt, ferner gegen
schwache und in Formelkram verkommende Regierungen, die dem Volke, dem
Armem kein Recht verschaffen können. Gerade dieses Buch zeigt deutlich, daß
Gotthelfs Herz bis zuletzt dem Volke gehörte, daß er nie ein Pfaffe und
Reaktionär war. „Wir können dem Dichter, sagt Manuel, unsre Hochachtung
und herzliche Teilnahme nicht versagen, der hier fast mehr als in einem andern
seiner Werke zum wirklichen Jeremias wird, »den des Volkes jammert,« der
ein so warmes Herz für das Volk hat, und der besonders die Armen, die
schutzbedürftiger, die Einfältigen, die der Versuchung und der Betrügerei
allerwärts Ausgesetzten durch die ungeschminkte, wahre Darstellung ihres von
so vielen Seiten umlauerten und bedrohten Lebens warnen oder die Macht
des Staates zu ihrem wirksamern Schutz aufrufen möchte. Bitzius ist ernst
wie der alttestamentliche Prophet, er zürnt wie ein Jeremias oder Jesaias,
aber dieser Zorn ist zugleich ein klagender, ein Zorn des tiefsten Mitgefühls,
einer Liebe zum Volke, die sich nicht erheucheln läßt, und zwar zum lebendigen,
handelnden, duldenden, arbeitenden Volke. Es ist, als ob Bitzius in diesem
letzten Buche deu Armem und Gedruckten im Volke ein Vermächtnis seines
warmen Herzens habe hinterlassen wollen. Das Buch ist wie mit seinem
Herzblut geschrieben."




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[0424] Jeremias Gotthelf schweizerischen Bauern die Klage, daß bei ihnen der Liberalismus keinen sonder¬ lichen Einfluß auf den Geldbeutel ausübt." Mit solchen allgemeinen Sätzen läßt sich aber die Giltigkeit der Gotthelfschen Charakteristik nicht erschüttern, die vor allem auf die Macht der Eitelkeit, die Sucht, politischen Einfluß zu üben, gestellt ist. Auch hat Manuel mit Recht bemerkt, daß in der radikal demokratischen Lebensansicht die Versuchung zu Zügellosigkeiten größer ist als in jeder andern. Gegen gewisse Übertreibungen kann man Verwahrung ein¬ legen, ein wahres Zeit- und Sittenbild mit gutgezeichueten Charakteren bleibt aber auch dieses Werk. Das letzte Buch Gotthelfs, 1854 erschienen, betitelt sich „Erlebnisse eines Schuldenbauers." Auch hier finden sich manche Auslassungen gegen den Zeit¬ geist, doch liegt der Schwerpunkt durchaus in rein wirtschaftlichen Dingen, und die Tendenz richtet sich gegen gewissenlose Spekulanten, habgierige Ge- schäftsmükler und dergleichen Volk, das natürlich auch unter der Schutzdecke des Radikalismus, der Freiheit und Gleichheit am besten fährt, ferner gegen schwache und in Formelkram verkommende Regierungen, die dem Volke, dem Armem kein Recht verschaffen können. Gerade dieses Buch zeigt deutlich, daß Gotthelfs Herz bis zuletzt dem Volke gehörte, daß er nie ein Pfaffe und Reaktionär war. „Wir können dem Dichter, sagt Manuel, unsre Hochachtung und herzliche Teilnahme nicht versagen, der hier fast mehr als in einem andern seiner Werke zum wirklichen Jeremias wird, »den des Volkes jammert,« der ein so warmes Herz für das Volk hat, und der besonders die Armen, die schutzbedürftiger, die Einfältigen, die der Versuchung und der Betrügerei allerwärts Ausgesetzten durch die ungeschminkte, wahre Darstellung ihres von so vielen Seiten umlauerten und bedrohten Lebens warnen oder die Macht des Staates zu ihrem wirksamern Schutz aufrufen möchte. Bitzius ist ernst wie der alttestamentliche Prophet, er zürnt wie ein Jeremias oder Jesaias, aber dieser Zorn ist zugleich ein klagender, ein Zorn des tiefsten Mitgefühls, einer Liebe zum Volke, die sich nicht erheucheln läßt, und zwar zum lebendigen, handelnden, duldenden, arbeitenden Volke. Es ist, als ob Bitzius in diesem letzten Buche deu Armem und Gedruckten im Volke ein Vermächtnis seines warmen Herzens habe hinterlassen wollen. Das Buch ist wie mit seinem Herzblut geschrieben."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/424>, abgerufen am 15.05.2024.