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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Evangelisch-sozial

christliche Nächstenliebe durch rechtliche Umformung der Verhältnisse verwirklichen
zu wollen, und doch den einzelnen Menschen in seinem Thun und Lassen gegen
den Nächsten als notwendig zur Lieblosigkeit berechtigt und verdammt zu be¬
handeln, dann müssen sie auch wieder das Verständnis dafür finden, daß nichts
der Kirche die Pflege der Weudtschen "Liebespflichtgefiunnng" mehr erschwert als
das Aufgehen der Geistlichen in dem politischen Kampf um die Rechtsordnung.
Ich habe im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr oft Gelegenheit gesucht und
gehabt, gebildete evangelische Männer sich über die Bedeutung der religiös¬
sittlichen Gesinnung der Einzelnen für das soziale Leben äußern zu hören und
über den Einfluß, den die Kirche ans diese Gesinnung auszuüben vermöchte.
Dabei ist mir in erschreckend zunehmendem Maße bis in die Gegenwart herein
entgegengetreten, wie alle Hoffnung bestritten wird, daß auf diesem Wege eine
Besserung herbeigeführt werden könne. Von evangelischen Männern, sage
ich, die sich als solche bekannten, auch von Teilnehmern des Evangelisch-sozialen
Kongresses selbst! Ost schien es mir, als ob auch die evangelische Geistlichkeit
mehr und mehr an der von Wendt hervvrgehobuen sozialen Aufgabe des
Christentums und der Kirche verzweifelte. Ich könnte mir schlimmeres für
die Nation, für die Kulturwelt überhaupt nicht denken. Haben wir, die ge¬
bildeten Schichten des deutschen Volks, die Kraft verloren, den materialistisch¬
egoistischen Wahn in uns zu überwinden und zu der religiös-sittlichen Liebes-
pflicht, wie sie uns das Evangelium Christi in reinster, erhabenster Form
lehrt, zurückzugelangen, dann verlohnt es sich wahrhaftig nicht mehr, für
deutsche Kultur und Nationalität zu sorgen und zu kämpfen. Dann ist es
mit der deutschen Kulturarbeit aus und vorbei, und Rom und Slawentum
werden dem verkommnen evangelischen Deutschtum mit Fug und Recht den
Fuß auf den Nacken setzen. Es ist hohe Zeit, daß sich die evangelisch-
sozialen Führer ernstlich darum kümmern, ob unsrer Jugend die "soziale
Gesinnung" heute auf den Lebensweg mitgegeben wird, die abzielt auf die
"Besserung von uns einzelnen Menschen," wie Wagner sagt, und nicht
vielmehr die, die "alle Schuld wohlfeil auf die Verhültuisfe schiebt." Ich
glaube, Wagner selbst würde zu seinem Schrecken wahrnehmen, wie fern
den modernen sozial gesinnten jungen Herren und Damen der Gedanke liegt,
daß die "Liebespflichtgesinnung" der Einzelnen, bei Armen wie bei Reichen,
bei Arbeitern wie bei Unternehmern überhaupt noch als sozial wichtige Größe
in Rechnung zu stellen sei. Man ist heute gewaltig stolz darauf, daß die
moderne Volkswirtschaft dem Staate den Charakter des Trägers sittlicher
Pflichten wiedergegeben habe; man rühmt sich laut des durchgreifenden Um¬
schwungs, den man in der Gesinnung des jüngern Geschlechts herbeigeführt
habe; aber dagegen scheint man blind zu sein, daß man durch die völlige Ver¬
nachlässigung der Pflicht der Einzelnen das junge Geschlecht in hellen Haufen
der Sozialdemokratie in die Arme getrieben hat und noch treibt. Sie weisen


Evangelisch-sozial

christliche Nächstenliebe durch rechtliche Umformung der Verhältnisse verwirklichen
zu wollen, und doch den einzelnen Menschen in seinem Thun und Lassen gegen
den Nächsten als notwendig zur Lieblosigkeit berechtigt und verdammt zu be¬
handeln, dann müssen sie auch wieder das Verständnis dafür finden, daß nichts
der Kirche die Pflege der Weudtschen „Liebespflichtgefiunnng" mehr erschwert als
das Aufgehen der Geistlichen in dem politischen Kampf um die Rechtsordnung.
Ich habe im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr oft Gelegenheit gesucht und
gehabt, gebildete evangelische Männer sich über die Bedeutung der religiös¬
sittlichen Gesinnung der Einzelnen für das soziale Leben äußern zu hören und
über den Einfluß, den die Kirche ans diese Gesinnung auszuüben vermöchte.
Dabei ist mir in erschreckend zunehmendem Maße bis in die Gegenwart herein
entgegengetreten, wie alle Hoffnung bestritten wird, daß auf diesem Wege eine
Besserung herbeigeführt werden könne. Von evangelischen Männern, sage
ich, die sich als solche bekannten, auch von Teilnehmern des Evangelisch-sozialen
Kongresses selbst! Ost schien es mir, als ob auch die evangelische Geistlichkeit
mehr und mehr an der von Wendt hervvrgehobuen sozialen Aufgabe des
Christentums und der Kirche verzweifelte. Ich könnte mir schlimmeres für
die Nation, für die Kulturwelt überhaupt nicht denken. Haben wir, die ge¬
bildeten Schichten des deutschen Volks, die Kraft verloren, den materialistisch¬
egoistischen Wahn in uns zu überwinden und zu der religiös-sittlichen Liebes-
pflicht, wie sie uns das Evangelium Christi in reinster, erhabenster Form
lehrt, zurückzugelangen, dann verlohnt es sich wahrhaftig nicht mehr, für
deutsche Kultur und Nationalität zu sorgen und zu kämpfen. Dann ist es
mit der deutschen Kulturarbeit aus und vorbei, und Rom und Slawentum
werden dem verkommnen evangelischen Deutschtum mit Fug und Recht den
Fuß auf den Nacken setzen. Es ist hohe Zeit, daß sich die evangelisch-
sozialen Führer ernstlich darum kümmern, ob unsrer Jugend die „soziale
Gesinnung" heute auf den Lebensweg mitgegeben wird, die abzielt auf die
„Besserung von uns einzelnen Menschen," wie Wagner sagt, und nicht
vielmehr die, die „alle Schuld wohlfeil auf die Verhültuisfe schiebt." Ich
glaube, Wagner selbst würde zu seinem Schrecken wahrnehmen, wie fern
den modernen sozial gesinnten jungen Herren und Damen der Gedanke liegt,
daß die „Liebespflichtgesinnung" der Einzelnen, bei Armen wie bei Reichen,
bei Arbeitern wie bei Unternehmern überhaupt noch als sozial wichtige Größe
in Rechnung zu stellen sei. Man ist heute gewaltig stolz darauf, daß die
moderne Volkswirtschaft dem Staate den Charakter des Trägers sittlicher
Pflichten wiedergegeben habe; man rühmt sich laut des durchgreifenden Um¬
schwungs, den man in der Gesinnung des jüngern Geschlechts herbeigeführt
habe; aber dagegen scheint man blind zu sein, daß man durch die völlige Ver¬
nachlässigung der Pflicht der Einzelnen das junge Geschlecht in hellen Haufen
der Sozialdemokratie in die Arme getrieben hat und noch treibt. Sie weisen


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[0446] Evangelisch-sozial christliche Nächstenliebe durch rechtliche Umformung der Verhältnisse verwirklichen zu wollen, und doch den einzelnen Menschen in seinem Thun und Lassen gegen den Nächsten als notwendig zur Lieblosigkeit berechtigt und verdammt zu be¬ handeln, dann müssen sie auch wieder das Verständnis dafür finden, daß nichts der Kirche die Pflege der Weudtschen „Liebespflichtgefiunnng" mehr erschwert als das Aufgehen der Geistlichen in dem politischen Kampf um die Rechtsordnung. Ich habe im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr oft Gelegenheit gesucht und gehabt, gebildete evangelische Männer sich über die Bedeutung der religiös¬ sittlichen Gesinnung der Einzelnen für das soziale Leben äußern zu hören und über den Einfluß, den die Kirche ans diese Gesinnung auszuüben vermöchte. Dabei ist mir in erschreckend zunehmendem Maße bis in die Gegenwart herein entgegengetreten, wie alle Hoffnung bestritten wird, daß auf diesem Wege eine Besserung herbeigeführt werden könne. Von evangelischen Männern, sage ich, die sich als solche bekannten, auch von Teilnehmern des Evangelisch-sozialen Kongresses selbst! Ost schien es mir, als ob auch die evangelische Geistlichkeit mehr und mehr an der von Wendt hervvrgehobuen sozialen Aufgabe des Christentums und der Kirche verzweifelte. Ich könnte mir schlimmeres für die Nation, für die Kulturwelt überhaupt nicht denken. Haben wir, die ge¬ bildeten Schichten des deutschen Volks, die Kraft verloren, den materialistisch¬ egoistischen Wahn in uns zu überwinden und zu der religiös-sittlichen Liebes- pflicht, wie sie uns das Evangelium Christi in reinster, erhabenster Form lehrt, zurückzugelangen, dann verlohnt es sich wahrhaftig nicht mehr, für deutsche Kultur und Nationalität zu sorgen und zu kämpfen. Dann ist es mit der deutschen Kulturarbeit aus und vorbei, und Rom und Slawentum werden dem verkommnen evangelischen Deutschtum mit Fug und Recht den Fuß auf den Nacken setzen. Es ist hohe Zeit, daß sich die evangelisch- sozialen Führer ernstlich darum kümmern, ob unsrer Jugend die „soziale Gesinnung" heute auf den Lebensweg mitgegeben wird, die abzielt auf die „Besserung von uns einzelnen Menschen," wie Wagner sagt, und nicht vielmehr die, die „alle Schuld wohlfeil auf die Verhültuisfe schiebt." Ich glaube, Wagner selbst würde zu seinem Schrecken wahrnehmen, wie fern den modernen sozial gesinnten jungen Herren und Damen der Gedanke liegt, daß die „Liebespflichtgesinnung" der Einzelnen, bei Armen wie bei Reichen, bei Arbeitern wie bei Unternehmern überhaupt noch als sozial wichtige Größe in Rechnung zu stellen sei. Man ist heute gewaltig stolz darauf, daß die moderne Volkswirtschaft dem Staate den Charakter des Trägers sittlicher Pflichten wiedergegeben habe; man rühmt sich laut des durchgreifenden Um¬ schwungs, den man in der Gesinnung des jüngern Geschlechts herbeigeführt habe; aber dagegen scheint man blind zu sein, daß man durch die völlige Ver¬ nachlässigung der Pflicht der Einzelnen das junge Geschlecht in hellen Haufen der Sozialdemokratie in die Arme getrieben hat und noch treibt. Sie weisen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/446>, abgerufen am 22.05.2024.