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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Moderne Novellen

ziemlich unartig gegen sie, bis zuletzt eigentümlich, weicht ihr aus, wo sie ihn
um sich sehen möchte, und entschuldigt sich dann mit Redensarten, die sie sich
seltsamerweise zur Beruhigung dienen läßt. Ein oder zweimal ganz zuletzt
wird er von einer Gefühlsanfwallung übermannt, übrigens entwischt er ihr
immer wieder und treibt seinen Flirt weiter, den sie mit der Angst einer
Braut verfolgt, die im Begriff ist, verlassen zu werden. Und wie kann dieser
Altans" allen Frauen die Köpfe verdrehen? Er ist nicht hübsch und nicht
groß, nicht gutmütig und auch nicht ernst, nur äußerst gewandt in Be¬
wegungen und mit der Zunge, ein Mann, der sich immer zerstreuen und
amüsiren will, der einen ganzen Kreis von Damen um sich versammelt und
ihn mit Blech unterhält, kurz ein Schwerenöter, nur in den feinsten Formen
des Typus. An den wirft sich die Frau, die die schönste von allen sein will,
Weg, giebt alles auf, was ihr den Halt in der Welt giebt, und er folgt ihr nicht,
sondern "pvussirt" weiter. Und der, der ihr das angeraten hat, wird als kluger
Maun hingestellt, und erscheint uns wenigstens übrigens als der ernsthafteste
in diesem ganzen Kreise. Nach dem allen meinen wir doch, so realistisch und
treu das äußere Kostüm dieses Romans ist, und so sehr er sich als ein Stück
Naturgeschichte unsrer höchsten Gesellschaftsschicht darstellt: das eigentliche
Handeln dieser Menschen, wo es tiefer wird und auf dem Denken und Fühlen
beruht, ist doch nicht überzeugend, da ist so vieles, was nicht hineinpaßt, und
in der Illusion des Ganzen ist trotz der weitergetriebnen Einzelzeichnung doch
eher ein Rückschritt z. B. gegen Hackländer in seinen guten Zeiten, an den
wir, was die Gattung betrifft, erinnern möchten. Daß der Verfasser die
Fähigkeit hat, die Schilderung zu vertiefen, zeigt sein "Sylvester von Geyer."

Wir erwähnen noch einige "Zweimarkbüchcr" aus demselben Verlage, zunächst
Michael von Munkacsys Erinnerungen aus der Kindheit lautorisirte
Übersetzung aus dem Französischen eines Schriftstellers (so!), dem der
Künstler erzählt hat). Die Erzählung ist nicht nur außerordentlich fesselnd,
soweit sie die Schicksale eines früh verwaisten Kindes aus einer wohlhabenden,
aber durch den Nevolutionskrieg vernichteten Familie betrifft, sondern auch für
die Landschaft und die Rasse von Wert. Man möchte kaum glauben, daß unter
uns ein Zehnjähriger, der nach einer gewissen Verwöhnung plötzlich tief hinab¬
gestoßen wird, sich ganz aus eigner Kraft emporarbeiten könnte. Der tiefere
Kulturstand scheint den Körper widerstandsfähiger und die Seele weniger em¬
pfindlich zu erhalten. Oder ist es bei dem kleinen Michael nur der Erfolg
eines Einzelnen? Von seinem Talent ist noch nicht viel die Rede, sondern
von Tischlerarbeit und einem menschlichen Dasei", niedrig und hart, wie es
keiner der geringsten Arbeiter bei uns mehr hat. Es ist schade, daß wir die
überstiegne Vorrede mit genießen müssen, sie ist stellenweise so sinnlos gesucht,
daß der Übersetzer sie nicht immer übersetzen konnte und einmal dafür den
französischen Text giebt. Ganz begreiflich, denn, wie oft gesagt worden ist,


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ziemlich unartig gegen sie, bis zuletzt eigentümlich, weicht ihr aus, wo sie ihn
um sich sehen möchte, und entschuldigt sich dann mit Redensarten, die sie sich
seltsamerweise zur Beruhigung dienen läßt. Ein oder zweimal ganz zuletzt
wird er von einer Gefühlsanfwallung übermannt, übrigens entwischt er ihr
immer wieder und treibt seinen Flirt weiter, den sie mit der Angst einer
Braut verfolgt, die im Begriff ist, verlassen zu werden. Und wie kann dieser
Altans» allen Frauen die Köpfe verdrehen? Er ist nicht hübsch und nicht
groß, nicht gutmütig und auch nicht ernst, nur äußerst gewandt in Be¬
wegungen und mit der Zunge, ein Mann, der sich immer zerstreuen und
amüsiren will, der einen ganzen Kreis von Damen um sich versammelt und
ihn mit Blech unterhält, kurz ein Schwerenöter, nur in den feinsten Formen
des Typus. An den wirft sich die Frau, die die schönste von allen sein will,
Weg, giebt alles auf, was ihr den Halt in der Welt giebt, und er folgt ihr nicht,
sondern „pvussirt" weiter. Und der, der ihr das angeraten hat, wird als kluger
Maun hingestellt, und erscheint uns wenigstens übrigens als der ernsthafteste
in diesem ganzen Kreise. Nach dem allen meinen wir doch, so realistisch und
treu das äußere Kostüm dieses Romans ist, und so sehr er sich als ein Stück
Naturgeschichte unsrer höchsten Gesellschaftsschicht darstellt: das eigentliche
Handeln dieser Menschen, wo es tiefer wird und auf dem Denken und Fühlen
beruht, ist doch nicht überzeugend, da ist so vieles, was nicht hineinpaßt, und
in der Illusion des Ganzen ist trotz der weitergetriebnen Einzelzeichnung doch
eher ein Rückschritt z. B. gegen Hackländer in seinen guten Zeiten, an den
wir, was die Gattung betrifft, erinnern möchten. Daß der Verfasser die
Fähigkeit hat, die Schilderung zu vertiefen, zeigt sein „Sylvester von Geyer."

Wir erwähnen noch einige „Zweimarkbüchcr" aus demselben Verlage, zunächst
Michael von Munkacsys Erinnerungen aus der Kindheit lautorisirte
Übersetzung aus dem Französischen eines Schriftstellers (so!), dem der
Künstler erzählt hat). Die Erzählung ist nicht nur außerordentlich fesselnd,
soweit sie die Schicksale eines früh verwaisten Kindes aus einer wohlhabenden,
aber durch den Nevolutionskrieg vernichteten Familie betrifft, sondern auch für
die Landschaft und die Rasse von Wert. Man möchte kaum glauben, daß unter
uns ein Zehnjähriger, der nach einer gewissen Verwöhnung plötzlich tief hinab¬
gestoßen wird, sich ganz aus eigner Kraft emporarbeiten könnte. Der tiefere
Kulturstand scheint den Körper widerstandsfähiger und die Seele weniger em¬
pfindlich zu erhalten. Oder ist es bei dem kleinen Michael nur der Erfolg
eines Einzelnen? Von seinem Talent ist noch nicht viel die Rede, sondern
von Tischlerarbeit und einem menschlichen Dasei», niedrig und hart, wie es
keiner der geringsten Arbeiter bei uns mehr hat. Es ist schade, daß wir die
überstiegne Vorrede mit genießen müssen, sie ist stellenweise so sinnlos gesucht,
daß der Übersetzer sie nicht immer übersetzen konnte und einmal dafür den
französischen Text giebt. Ganz begreiflich, denn, wie oft gesagt worden ist,


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[0478] Moderne Novellen ziemlich unartig gegen sie, bis zuletzt eigentümlich, weicht ihr aus, wo sie ihn um sich sehen möchte, und entschuldigt sich dann mit Redensarten, die sie sich seltsamerweise zur Beruhigung dienen läßt. Ein oder zweimal ganz zuletzt wird er von einer Gefühlsanfwallung übermannt, übrigens entwischt er ihr immer wieder und treibt seinen Flirt weiter, den sie mit der Angst einer Braut verfolgt, die im Begriff ist, verlassen zu werden. Und wie kann dieser Altans» allen Frauen die Köpfe verdrehen? Er ist nicht hübsch und nicht groß, nicht gutmütig und auch nicht ernst, nur äußerst gewandt in Be¬ wegungen und mit der Zunge, ein Mann, der sich immer zerstreuen und amüsiren will, der einen ganzen Kreis von Damen um sich versammelt und ihn mit Blech unterhält, kurz ein Schwerenöter, nur in den feinsten Formen des Typus. An den wirft sich die Frau, die die schönste von allen sein will, Weg, giebt alles auf, was ihr den Halt in der Welt giebt, und er folgt ihr nicht, sondern „pvussirt" weiter. Und der, der ihr das angeraten hat, wird als kluger Maun hingestellt, und erscheint uns wenigstens übrigens als der ernsthafteste in diesem ganzen Kreise. Nach dem allen meinen wir doch, so realistisch und treu das äußere Kostüm dieses Romans ist, und so sehr er sich als ein Stück Naturgeschichte unsrer höchsten Gesellschaftsschicht darstellt: das eigentliche Handeln dieser Menschen, wo es tiefer wird und auf dem Denken und Fühlen beruht, ist doch nicht überzeugend, da ist so vieles, was nicht hineinpaßt, und in der Illusion des Ganzen ist trotz der weitergetriebnen Einzelzeichnung doch eher ein Rückschritt z. B. gegen Hackländer in seinen guten Zeiten, an den wir, was die Gattung betrifft, erinnern möchten. Daß der Verfasser die Fähigkeit hat, die Schilderung zu vertiefen, zeigt sein „Sylvester von Geyer." Wir erwähnen noch einige „Zweimarkbüchcr" aus demselben Verlage, zunächst Michael von Munkacsys Erinnerungen aus der Kindheit lautorisirte Übersetzung aus dem Französischen eines Schriftstellers (so!), dem der Künstler erzählt hat). Die Erzählung ist nicht nur außerordentlich fesselnd, soweit sie die Schicksale eines früh verwaisten Kindes aus einer wohlhabenden, aber durch den Nevolutionskrieg vernichteten Familie betrifft, sondern auch für die Landschaft und die Rasse von Wert. Man möchte kaum glauben, daß unter uns ein Zehnjähriger, der nach einer gewissen Verwöhnung plötzlich tief hinab¬ gestoßen wird, sich ganz aus eigner Kraft emporarbeiten könnte. Der tiefere Kulturstand scheint den Körper widerstandsfähiger und die Seele weniger em¬ pfindlich zu erhalten. Oder ist es bei dem kleinen Michael nur der Erfolg eines Einzelnen? Von seinem Talent ist noch nicht viel die Rede, sondern von Tischlerarbeit und einem menschlichen Dasei», niedrig und hart, wie es keiner der geringsten Arbeiter bei uns mehr hat. Es ist schade, daß wir die überstiegne Vorrede mit genießen müssen, sie ist stellenweise so sinnlos gesucht, daß der Übersetzer sie nicht immer übersetzen konnte und einmal dafür den französischen Text giebt. Ganz begreiflich, denn, wie oft gesagt worden ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/478>, abgerufen am 22.05.2024.