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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

Bitzius auch auf einem Boden, der ihm fremd war (Baselland), und in Ver¬
hältnissen, die ihm fremd waren (Hausindustrie für Fabrikanten), dank seiner
gesunden Anschauungskraft heimisch zu machen wußte.

Die kleinern erzählenden Schriften Gotthelfs nehmen nicht weniger als
sechs Bünde, also ein Viertel der Gesamtausgabe ein- Einige ernst zu nehmende
Litteraturhistoriker und Kritiker - die meisten kennen Gotthelf nur ober¬
flächlich -- finden unter ihnen das Beste, Reinste und Schönste, was uns
Gotthelf hinterlassen habe. So sagt Adolf Stern (Geschichte der neuern Litte¬
ratur): "Die kleinern Produktionen Gotthelfs übertrafen in jeder Beziehung
seine größern tendenziösen, für ein festes, ehrenhaftes Beharren in altgewohnten
Zuständen und Überlieferungen energisch eintretenden Volksbücher. Den reinsten
und gewinnendsten Eindruck hinterlassen die Erzählungen, in denen Gotthelf
entweder ein ganzes Menschenschicksal mit seinem Auf und Ab in lebendig¬
eindringlichen Zügen vorführt und dabei oft eine Stimmungsgcwalt ohne¬
gleichen entfaltet, oder in denen er einen einzelnen absonderlichen Vorgang mit
derbem, aber unverfälschten Humor behandelt." Es ist selbstverständlich, daß
eine kleine Erzählung in der Regel geschlossener, einheitlicher, daher oft auch
reiner und eindringlicher gerät als ein großer Roman (wie denn beispielsweise
auch unsre modernen Naturalisten vielfach ihr Bestes auf dem Gebiet der
Skizze geleistet haben), dennoch darf man deswegen das kleine Werk nicht über
das große stellen, wenn dies auch lebensvoll ist, und bei Gotthelf darf man
es gar nicht, da seine größern Werke doch eine ganze Welt umfassen, von der
die in den kleinern geschilderten Schauplätze mit ihren Ereignissen, Menschen
und Dingen nnr Winkel sind, in die man, ohne die größern Werke zu kennen,
nicht einmal deutlich hineinblicken kann. Darin hat Stern aber Recht: es finden
sich unter den kleinern Erzählungen Gotthelfs vortreffliche Sachen. Zwar die
"Bilder und Sagen aus der Schweiz." meist historische Erzählungen, wirken
fast seltsam, Keller behauptet auch, sie wären in einem so übertriebnen, un¬
geschickten Vreughelstil geschrieben, und Gotthelf halte sich so gewaltsam an
einen verdorbnen Volksgeschmack, daß sie keine Bedeutung haben könnten. Das
ist nicht ganz richtig; allerdings hat Gotthelf den Ton zu hoch, zu pathetisch
genommen, aber man kommt recht gut aus, wenn man statt an Höllenbreughel
an Ossian und Fonquv erinnert, die Naturgemälde sind vielfach geradezu
ossianisch, und die Ritter gewaltsam-reckenhaft wie die Fouquss, natürlich vom
schweizerisch-demokratischen Standpunkt gesehen. Den Ton, in dem das Volk
Rittergeschichten liebt, hat Gotthelf, glaube ich, gerade getroffen, der Künstler
Keller mag das "dem verdorbnen Volksgeschmack huldigen" nennen, man soll
aber nicht übersehen, daß inhaltlich keine der Erzählungen einem verdorbnen
Geschmack huldigt, sondern daß jede ihre sittliche Tendenz hat wie alle andern
Werke Gotthelfs, daß einige der Sagen eine gewaltige Phantasie zeigen, und
daß in einer oder zweien trotz mangelhafter geschichtlicher Studien die Zeitfarbe


Jeremias Gotthelf

Bitzius auch auf einem Boden, der ihm fremd war (Baselland), und in Ver¬
hältnissen, die ihm fremd waren (Hausindustrie für Fabrikanten), dank seiner
gesunden Anschauungskraft heimisch zu machen wußte.

Die kleinern erzählenden Schriften Gotthelfs nehmen nicht weniger als
sechs Bünde, also ein Viertel der Gesamtausgabe ein- Einige ernst zu nehmende
Litteraturhistoriker und Kritiker - die meisten kennen Gotthelf nur ober¬
flächlich — finden unter ihnen das Beste, Reinste und Schönste, was uns
Gotthelf hinterlassen habe. So sagt Adolf Stern (Geschichte der neuern Litte¬
ratur): „Die kleinern Produktionen Gotthelfs übertrafen in jeder Beziehung
seine größern tendenziösen, für ein festes, ehrenhaftes Beharren in altgewohnten
Zuständen und Überlieferungen energisch eintretenden Volksbücher. Den reinsten
und gewinnendsten Eindruck hinterlassen die Erzählungen, in denen Gotthelf
entweder ein ganzes Menschenschicksal mit seinem Auf und Ab in lebendig¬
eindringlichen Zügen vorführt und dabei oft eine Stimmungsgcwalt ohne¬
gleichen entfaltet, oder in denen er einen einzelnen absonderlichen Vorgang mit
derbem, aber unverfälschten Humor behandelt." Es ist selbstverständlich, daß
eine kleine Erzählung in der Regel geschlossener, einheitlicher, daher oft auch
reiner und eindringlicher gerät als ein großer Roman (wie denn beispielsweise
auch unsre modernen Naturalisten vielfach ihr Bestes auf dem Gebiet der
Skizze geleistet haben), dennoch darf man deswegen das kleine Werk nicht über
das große stellen, wenn dies auch lebensvoll ist, und bei Gotthelf darf man
es gar nicht, da seine größern Werke doch eine ganze Welt umfassen, von der
die in den kleinern geschilderten Schauplätze mit ihren Ereignissen, Menschen
und Dingen nnr Winkel sind, in die man, ohne die größern Werke zu kennen,
nicht einmal deutlich hineinblicken kann. Darin hat Stern aber Recht: es finden
sich unter den kleinern Erzählungen Gotthelfs vortreffliche Sachen. Zwar die
„Bilder und Sagen aus der Schweiz." meist historische Erzählungen, wirken
fast seltsam, Keller behauptet auch, sie wären in einem so übertriebnen, un¬
geschickten Vreughelstil geschrieben, und Gotthelf halte sich so gewaltsam an
einen verdorbnen Volksgeschmack, daß sie keine Bedeutung haben könnten. Das
ist nicht ganz richtig; allerdings hat Gotthelf den Ton zu hoch, zu pathetisch
genommen, aber man kommt recht gut aus, wenn man statt an Höllenbreughel
an Ossian und Fonquv erinnert, die Naturgemälde sind vielfach geradezu
ossianisch, und die Ritter gewaltsam-reckenhaft wie die Fouquss, natürlich vom
schweizerisch-demokratischen Standpunkt gesehen. Den Ton, in dem das Volk
Rittergeschichten liebt, hat Gotthelf, glaube ich, gerade getroffen, der Künstler
Keller mag das „dem verdorbnen Volksgeschmack huldigen" nennen, man soll
aber nicht übersehen, daß inhaltlich keine der Erzählungen einem verdorbnen
Geschmack huldigt, sondern daß jede ihre sittliche Tendenz hat wie alle andern
Werke Gotthelfs, daß einige der Sagen eine gewaltige Phantasie zeigen, und
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[0511] Jeremias Gotthelf Bitzius auch auf einem Boden, der ihm fremd war (Baselland), und in Ver¬ hältnissen, die ihm fremd waren (Hausindustrie für Fabrikanten), dank seiner gesunden Anschauungskraft heimisch zu machen wußte. Die kleinern erzählenden Schriften Gotthelfs nehmen nicht weniger als sechs Bünde, also ein Viertel der Gesamtausgabe ein- Einige ernst zu nehmende Litteraturhistoriker und Kritiker - die meisten kennen Gotthelf nur ober¬ flächlich — finden unter ihnen das Beste, Reinste und Schönste, was uns Gotthelf hinterlassen habe. So sagt Adolf Stern (Geschichte der neuern Litte¬ ratur): „Die kleinern Produktionen Gotthelfs übertrafen in jeder Beziehung seine größern tendenziösen, für ein festes, ehrenhaftes Beharren in altgewohnten Zuständen und Überlieferungen energisch eintretenden Volksbücher. Den reinsten und gewinnendsten Eindruck hinterlassen die Erzählungen, in denen Gotthelf entweder ein ganzes Menschenschicksal mit seinem Auf und Ab in lebendig¬ eindringlichen Zügen vorführt und dabei oft eine Stimmungsgcwalt ohne¬ gleichen entfaltet, oder in denen er einen einzelnen absonderlichen Vorgang mit derbem, aber unverfälschten Humor behandelt." Es ist selbstverständlich, daß eine kleine Erzählung in der Regel geschlossener, einheitlicher, daher oft auch reiner und eindringlicher gerät als ein großer Roman (wie denn beispielsweise auch unsre modernen Naturalisten vielfach ihr Bestes auf dem Gebiet der Skizze geleistet haben), dennoch darf man deswegen das kleine Werk nicht über das große stellen, wenn dies auch lebensvoll ist, und bei Gotthelf darf man es gar nicht, da seine größern Werke doch eine ganze Welt umfassen, von der die in den kleinern geschilderten Schauplätze mit ihren Ereignissen, Menschen und Dingen nnr Winkel sind, in die man, ohne die größern Werke zu kennen, nicht einmal deutlich hineinblicken kann. Darin hat Stern aber Recht: es finden sich unter den kleinern Erzählungen Gotthelfs vortreffliche Sachen. Zwar die „Bilder und Sagen aus der Schweiz." meist historische Erzählungen, wirken fast seltsam, Keller behauptet auch, sie wären in einem so übertriebnen, un¬ geschickten Vreughelstil geschrieben, und Gotthelf halte sich so gewaltsam an einen verdorbnen Volksgeschmack, daß sie keine Bedeutung haben könnten. Das ist nicht ganz richtig; allerdings hat Gotthelf den Ton zu hoch, zu pathetisch genommen, aber man kommt recht gut aus, wenn man statt an Höllenbreughel an Ossian und Fonquv erinnert, die Naturgemälde sind vielfach geradezu ossianisch, und die Ritter gewaltsam-reckenhaft wie die Fouquss, natürlich vom schweizerisch-demokratischen Standpunkt gesehen. Den Ton, in dem das Volk Rittergeschichten liebt, hat Gotthelf, glaube ich, gerade getroffen, der Künstler Keller mag das „dem verdorbnen Volksgeschmack huldigen" nennen, man soll aber nicht übersehen, daß inhaltlich keine der Erzählungen einem verdorbnen Geschmack huldigt, sondern daß jede ihre sittliche Tendenz hat wie alle andern Werke Gotthelfs, daß einige der Sagen eine gewaltige Phantasie zeigen, und daß in einer oder zweien trotz mangelhafter geschichtlicher Studien die Zeitfarbe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/511>, abgerufen am 22.05.2024.