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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

ihm ist das poetische Talent nicht das Erste, von Hans aus jedoch lange nicht
so mächtig wie das Gotthelfs, auch er ist vor allem Zeitschriftsteller und
Kämpfer und leistet, wie Keller bemerkt, "für Charakterisirung der politischen
Tröpfe in den obern Regionen, der unklaren und eigensüchtigen Gemüter von
feineren Korn ausgezeichnetes in seiner merkwürdigen Durchdringungs- und
Anempsindungskunst," wie er zugleich auch manche der Nachtgestalten großer
Städte zuerst wenigstens halbnaturalistisch geschildert hat. Aber auch Gutzkow
und Gotthelf stehen sich wie Städter und Bauer gegenüber, und Gutzkows
Welt bleibt doch im ganzen viel schattenhafter als die Gotthelfs.

Als Nachfolger Gotthelfs könnte man vielleicht den unter dem Namen
W. O. v. Horn schreibenden Pfarrer W. Örtel betrachten, doch ist mir das
Verhältnis der beiden nicht klar. Die wahren Jünger des Schweizers sollten
natürlich unter den modernen deutschen Naturalisten zu finden sein, aber soweit
ich es übersehen kann, ist kein einziger von ihm beeinflußt worden. Nun, das
kann, obgleich nun jetzt ja dem Naturalismus längst Valet gesagt zu haben
behauptet, immer noch kommen. Wie man überhaupt bei den großen Dichtern
der fünfziger Jahre wird Anschluß suchen müssen, wenn Man über die frucht¬
lose moderne Experimentirerci hinaus will, so wird man auch Jeremias Gott¬
helf sein Recht zu teil werden lassen und von ihm lernen, was Kraft, Gesund¬
heit, wahre Gegenständlichkeit, echte Volksmäßigkeit ist. In der Verbindung
des heimatlichen Charakters der Dichtung, wahrhaften volkstümlichen Lebens
mit dem modernen sozialen Geiste und ehrlichem künstlerischem Streben sehe
ich zunächst das Heil unsrer Litteratur. Manche Leute meinen freilich, daß
ich damit nicht in die Tiefe dränge, daß es der Kampf um eine "neue sittlich¬
religiöse Weltanschauung aus dem Grundwesen deutscher Art" sei, der sich
auch in der Litteratur vor uus entfalte, daß, wenn wir diese Weltanschauung erst
haben würden -- und wir müssen sie haben! --, alles andre von selber komme.
Nun, mögen diese Leute über ungelegten Eiern brüten! Dem mitten in der
litterarischen Bewegung stehenden muß es genügen, nach bestem Wissen und
Gewissen praktische Fingerzeige zu geben, den großen Alten ihr Recht zu ver¬
schaffen, allzu begehrliche Jungen in die Schranken zurückzuweisen, die sie sich
selbst durch ihre bisherigen Leistungen gezogen haben.




Jeremias Gotthelf

ihm ist das poetische Talent nicht das Erste, von Hans aus jedoch lange nicht
so mächtig wie das Gotthelfs, auch er ist vor allem Zeitschriftsteller und
Kämpfer und leistet, wie Keller bemerkt, „für Charakterisirung der politischen
Tröpfe in den obern Regionen, der unklaren und eigensüchtigen Gemüter von
feineren Korn ausgezeichnetes in seiner merkwürdigen Durchdringungs- und
Anempsindungskunst," wie er zugleich auch manche der Nachtgestalten großer
Städte zuerst wenigstens halbnaturalistisch geschildert hat. Aber auch Gutzkow
und Gotthelf stehen sich wie Städter und Bauer gegenüber, und Gutzkows
Welt bleibt doch im ganzen viel schattenhafter als die Gotthelfs.

Als Nachfolger Gotthelfs könnte man vielleicht den unter dem Namen
W. O. v. Horn schreibenden Pfarrer W. Örtel betrachten, doch ist mir das
Verhältnis der beiden nicht klar. Die wahren Jünger des Schweizers sollten
natürlich unter den modernen deutschen Naturalisten zu finden sein, aber soweit
ich es übersehen kann, ist kein einziger von ihm beeinflußt worden. Nun, das
kann, obgleich nun jetzt ja dem Naturalismus längst Valet gesagt zu haben
behauptet, immer noch kommen. Wie man überhaupt bei den großen Dichtern
der fünfziger Jahre wird Anschluß suchen müssen, wenn Man über die frucht¬
lose moderne Experimentirerci hinaus will, so wird man auch Jeremias Gott¬
helf sein Recht zu teil werden lassen und von ihm lernen, was Kraft, Gesund¬
heit, wahre Gegenständlichkeit, echte Volksmäßigkeit ist. In der Verbindung
des heimatlichen Charakters der Dichtung, wahrhaften volkstümlichen Lebens
mit dem modernen sozialen Geiste und ehrlichem künstlerischem Streben sehe
ich zunächst das Heil unsrer Litteratur. Manche Leute meinen freilich, daß
ich damit nicht in die Tiefe dränge, daß es der Kampf um eine „neue sittlich¬
religiöse Weltanschauung aus dem Grundwesen deutscher Art" sei, der sich
auch in der Litteratur vor uus entfalte, daß, wenn wir diese Weltanschauung erst
haben würden — und wir müssen sie haben! —, alles andre von selber komme.
Nun, mögen diese Leute über ungelegten Eiern brüten! Dem mitten in der
litterarischen Bewegung stehenden muß es genügen, nach bestem Wissen und
Gewissen praktische Fingerzeige zu geben, den großen Alten ihr Recht zu ver¬
schaffen, allzu begehrliche Jungen in die Schranken zurückzuweisen, die sie sich
selbst durch ihre bisherigen Leistungen gezogen haben.




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[0518] Jeremias Gotthelf ihm ist das poetische Talent nicht das Erste, von Hans aus jedoch lange nicht so mächtig wie das Gotthelfs, auch er ist vor allem Zeitschriftsteller und Kämpfer und leistet, wie Keller bemerkt, „für Charakterisirung der politischen Tröpfe in den obern Regionen, der unklaren und eigensüchtigen Gemüter von feineren Korn ausgezeichnetes in seiner merkwürdigen Durchdringungs- und Anempsindungskunst," wie er zugleich auch manche der Nachtgestalten großer Städte zuerst wenigstens halbnaturalistisch geschildert hat. Aber auch Gutzkow und Gotthelf stehen sich wie Städter und Bauer gegenüber, und Gutzkows Welt bleibt doch im ganzen viel schattenhafter als die Gotthelfs. Als Nachfolger Gotthelfs könnte man vielleicht den unter dem Namen W. O. v. Horn schreibenden Pfarrer W. Örtel betrachten, doch ist mir das Verhältnis der beiden nicht klar. Die wahren Jünger des Schweizers sollten natürlich unter den modernen deutschen Naturalisten zu finden sein, aber soweit ich es übersehen kann, ist kein einziger von ihm beeinflußt worden. Nun, das kann, obgleich nun jetzt ja dem Naturalismus längst Valet gesagt zu haben behauptet, immer noch kommen. Wie man überhaupt bei den großen Dichtern der fünfziger Jahre wird Anschluß suchen müssen, wenn Man über die frucht¬ lose moderne Experimentirerci hinaus will, so wird man auch Jeremias Gott¬ helf sein Recht zu teil werden lassen und von ihm lernen, was Kraft, Gesund¬ heit, wahre Gegenständlichkeit, echte Volksmäßigkeit ist. In der Verbindung des heimatlichen Charakters der Dichtung, wahrhaften volkstümlichen Lebens mit dem modernen sozialen Geiste und ehrlichem künstlerischem Streben sehe ich zunächst das Heil unsrer Litteratur. Manche Leute meinen freilich, daß ich damit nicht in die Tiefe dränge, daß es der Kampf um eine „neue sittlich¬ religiöse Weltanschauung aus dem Grundwesen deutscher Art" sei, der sich auch in der Litteratur vor uus entfalte, daß, wenn wir diese Weltanschauung erst haben würden — und wir müssen sie haben! —, alles andre von selber komme. Nun, mögen diese Leute über ungelegten Eiern brüten! Dem mitten in der litterarischen Bewegung stehenden muß es genügen, nach bestem Wissen und Gewissen praktische Fingerzeige zu geben, den großen Alten ihr Recht zu ver¬ schaffen, allzu begehrliche Jungen in die Schranken zurückzuweisen, die sie sich selbst durch ihre bisherigen Leistungen gezogen haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/518>, abgerufen am 22.05.2024.