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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Idealismus und Akademismus

Lebens, es wird nicht Leben. Was wir meinen, läßt sich am besten verdeut¬
lichen an der alten Sage von Pygmalions Marmorbildwerk, das ein lebendiges
Weib wurde. Da der Stein Fleisch und Blut ward, atmete und sich erhob,
klopfenden Herzens in Glück und Glut des Bildners Kuß erwiderte, war die
geheimnisvolle Wandlung vollendet, die dem echten Dichter vorschwebt, und
nach der jeder mit jedem Gebilde trachten sollte. Nun denke man sich, es
käme einer, der versicherte, das sei zu viel, ein rosiger Hauch, ein unmerklicher
Pulsschlag, ein gelegentlicher Atemzug in langen Pausen genüge schon, die
Hauptsache sei, daß das Gleichmaß der Gestalt und der Fluß der Linien un¬
gestört bleibe. Genau so beruhigt sich der Akademismus und die von ihm er¬
griffne und durchdrungne künstlerische Bildung bei Dingen, die erst mitsprechen
dürfen, wenn die erste und unerläßlichste Wirkung: der Herzschlag und die
ausströmende Wärme des vollen poetischen Lebens erreicht sind.

Es war müssig und ein wunderlicher Irrtum zugleich, als Graf Schack
gegen das Ende seines Lebens die Mängel klassischer und seit Jahrhunderten
gepriesener Werke mit Eifer aufzuspüren begann, um an ihnen nachzuweisen, daß
sich überall Einwände erheben lassen und überall Schranken aufthun. Die
Hauptsache entging ihm: daß allen diesen Werken nicht bloß gewisse Einzel¬
vorzüge innewohnten, sondern daß sie um des starken Atemzuges echter Wirk¬
lichkeit willen ihre Wirkung durch Jahrzehnte und Jahrhunderte bewahren.
Die Täuschung aber, die hier unterlief, ist von allgemeiner Bedeutung, sie
zeigt, daß nach all den heißen Kunstkümpfen der jüngsten Vergangenheit die
Anschauung, die poetische Werke mehr nach ihrem äußern Bau als nach ihrem
innersten Gehalt beurteilt, noch immer verbreitet ist. Die Wiederemporrichtung
des poetischen Idealismus, als tiefes Bedürfnis gefühlt und von so vielen Seiten
gefordert, darf keine Neubelebung des Akademismus in sich einschließen. Das
würde sie aber, wenn Dichter wie Schack nicht nur mit Gerechtigkeit und Wohl¬
wollen innerhalb ihrer Eigenart gewürdigt, sondern als vorbildlich betrachtet und
lediglich deshalb, weil ihnen in den Tagen der schnoddrigen Oberflächlichkeit
und der Überschätzung wüster Augenblicksphotographien auch die gebührende
Teilnahme versagt worden ist, den maßgebenden und wegzeigenden Talenten
angereiht würden. Die rechte Teilnahme und Würdigung, die der neuen Aus¬
gabe seiner Werke zu teil werden soll, braucht sich dabei keineswegs ans die
in der That klassische Übersetzung der Heldensagen des Firdusi, des "Spanischen
Theaters" und der "Stimmen vom Ganges" einzuschränken. Sie kann, mit
Pietätvoller Würdigung des ungewöhnlichen Bildungsweges und des großen
geistigen Gesichtskreises, durch die sich Graf Schack in seiner Zeit und seinen
Umgebungen auszeichnete, auch jede glücklich erfundne und farbige poetische
Erzählung, jede glückliche und mit unbewußten subjektivem Leben getränkte
Episode der größern erzählenden und dramatischen Werke, jeden ergreifenden
Gedanken- und Gefühlsausdruck in der gesamten Poesie Schacks genießen und


Idealismus und Akademismus

Lebens, es wird nicht Leben. Was wir meinen, läßt sich am besten verdeut¬
lichen an der alten Sage von Pygmalions Marmorbildwerk, das ein lebendiges
Weib wurde. Da der Stein Fleisch und Blut ward, atmete und sich erhob,
klopfenden Herzens in Glück und Glut des Bildners Kuß erwiderte, war die
geheimnisvolle Wandlung vollendet, die dem echten Dichter vorschwebt, und
nach der jeder mit jedem Gebilde trachten sollte. Nun denke man sich, es
käme einer, der versicherte, das sei zu viel, ein rosiger Hauch, ein unmerklicher
Pulsschlag, ein gelegentlicher Atemzug in langen Pausen genüge schon, die
Hauptsache sei, daß das Gleichmaß der Gestalt und der Fluß der Linien un¬
gestört bleibe. Genau so beruhigt sich der Akademismus und die von ihm er¬
griffne und durchdrungne künstlerische Bildung bei Dingen, die erst mitsprechen
dürfen, wenn die erste und unerläßlichste Wirkung: der Herzschlag und die
ausströmende Wärme des vollen poetischen Lebens erreicht sind.

Es war müssig und ein wunderlicher Irrtum zugleich, als Graf Schack
gegen das Ende seines Lebens die Mängel klassischer und seit Jahrhunderten
gepriesener Werke mit Eifer aufzuspüren begann, um an ihnen nachzuweisen, daß
sich überall Einwände erheben lassen und überall Schranken aufthun. Die
Hauptsache entging ihm: daß allen diesen Werken nicht bloß gewisse Einzel¬
vorzüge innewohnten, sondern daß sie um des starken Atemzuges echter Wirk¬
lichkeit willen ihre Wirkung durch Jahrzehnte und Jahrhunderte bewahren.
Die Täuschung aber, die hier unterlief, ist von allgemeiner Bedeutung, sie
zeigt, daß nach all den heißen Kunstkümpfen der jüngsten Vergangenheit die
Anschauung, die poetische Werke mehr nach ihrem äußern Bau als nach ihrem
innersten Gehalt beurteilt, noch immer verbreitet ist. Die Wiederemporrichtung
des poetischen Idealismus, als tiefes Bedürfnis gefühlt und von so vielen Seiten
gefordert, darf keine Neubelebung des Akademismus in sich einschließen. Das
würde sie aber, wenn Dichter wie Schack nicht nur mit Gerechtigkeit und Wohl¬
wollen innerhalb ihrer Eigenart gewürdigt, sondern als vorbildlich betrachtet und
lediglich deshalb, weil ihnen in den Tagen der schnoddrigen Oberflächlichkeit
und der Überschätzung wüster Augenblicksphotographien auch die gebührende
Teilnahme versagt worden ist, den maßgebenden und wegzeigenden Talenten
angereiht würden. Die rechte Teilnahme und Würdigung, die der neuen Aus¬
gabe seiner Werke zu teil werden soll, braucht sich dabei keineswegs ans die
in der That klassische Übersetzung der Heldensagen des Firdusi, des „Spanischen
Theaters" und der „Stimmen vom Ganges" einzuschränken. Sie kann, mit
Pietätvoller Würdigung des ungewöhnlichen Bildungsweges und des großen
geistigen Gesichtskreises, durch die sich Graf Schack in seiner Zeit und seinen
Umgebungen auszeichnete, auch jede glücklich erfundne und farbige poetische
Erzählung, jede glückliche und mit unbewußten subjektivem Leben getränkte
Episode der größern erzählenden und dramatischen Werke, jeden ergreifenden
Gedanken- und Gefühlsausdruck in der gesamten Poesie Schacks genießen und


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[0566] Idealismus und Akademismus Lebens, es wird nicht Leben. Was wir meinen, läßt sich am besten verdeut¬ lichen an der alten Sage von Pygmalions Marmorbildwerk, das ein lebendiges Weib wurde. Da der Stein Fleisch und Blut ward, atmete und sich erhob, klopfenden Herzens in Glück und Glut des Bildners Kuß erwiderte, war die geheimnisvolle Wandlung vollendet, die dem echten Dichter vorschwebt, und nach der jeder mit jedem Gebilde trachten sollte. Nun denke man sich, es käme einer, der versicherte, das sei zu viel, ein rosiger Hauch, ein unmerklicher Pulsschlag, ein gelegentlicher Atemzug in langen Pausen genüge schon, die Hauptsache sei, daß das Gleichmaß der Gestalt und der Fluß der Linien un¬ gestört bleibe. Genau so beruhigt sich der Akademismus und die von ihm er¬ griffne und durchdrungne künstlerische Bildung bei Dingen, die erst mitsprechen dürfen, wenn die erste und unerläßlichste Wirkung: der Herzschlag und die ausströmende Wärme des vollen poetischen Lebens erreicht sind. Es war müssig und ein wunderlicher Irrtum zugleich, als Graf Schack gegen das Ende seines Lebens die Mängel klassischer und seit Jahrhunderten gepriesener Werke mit Eifer aufzuspüren begann, um an ihnen nachzuweisen, daß sich überall Einwände erheben lassen und überall Schranken aufthun. Die Hauptsache entging ihm: daß allen diesen Werken nicht bloß gewisse Einzel¬ vorzüge innewohnten, sondern daß sie um des starken Atemzuges echter Wirk¬ lichkeit willen ihre Wirkung durch Jahrzehnte und Jahrhunderte bewahren. Die Täuschung aber, die hier unterlief, ist von allgemeiner Bedeutung, sie zeigt, daß nach all den heißen Kunstkümpfen der jüngsten Vergangenheit die Anschauung, die poetische Werke mehr nach ihrem äußern Bau als nach ihrem innersten Gehalt beurteilt, noch immer verbreitet ist. Die Wiederemporrichtung des poetischen Idealismus, als tiefes Bedürfnis gefühlt und von so vielen Seiten gefordert, darf keine Neubelebung des Akademismus in sich einschließen. Das würde sie aber, wenn Dichter wie Schack nicht nur mit Gerechtigkeit und Wohl¬ wollen innerhalb ihrer Eigenart gewürdigt, sondern als vorbildlich betrachtet und lediglich deshalb, weil ihnen in den Tagen der schnoddrigen Oberflächlichkeit und der Überschätzung wüster Augenblicksphotographien auch die gebührende Teilnahme versagt worden ist, den maßgebenden und wegzeigenden Talenten angereiht würden. Die rechte Teilnahme und Würdigung, die der neuen Aus¬ gabe seiner Werke zu teil werden soll, braucht sich dabei keineswegs ans die in der That klassische Übersetzung der Heldensagen des Firdusi, des „Spanischen Theaters" und der „Stimmen vom Ganges" einzuschränken. Sie kann, mit Pietätvoller Würdigung des ungewöhnlichen Bildungsweges und des großen geistigen Gesichtskreises, durch die sich Graf Schack in seiner Zeit und seinen Umgebungen auszeichnete, auch jede glücklich erfundne und farbige poetische Erzählung, jede glückliche und mit unbewußten subjektivem Leben getränkte Episode der größern erzählenden und dramatischen Werke, jeden ergreifenden Gedanken- und Gefühlsausdruck in der gesamten Poesie Schacks genießen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/566>, abgerufen am 22.05.2024.