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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

ist in vollem Maße und in allen wichtigen Fragen ausschlaggebend in die
Wagschale gefallen, ohne daß Deutschland mehr in den Vordergrund getreten
wäre, als es sein unmittelbares Interesse im Orient erfordert. Diese Er¬
kenntnis hat freilich vielfach große Überwindung gekostet; namentlich bei
Beginn der griechischen Wirren waren die tadelnden und besserwissenden
Stimmen ungemein zahlreich, und viele hatten dabei keine Ahnung, wie sehr
sie eigentlich jenen Bürgern von Schilda glichen, die von der Enge und Tiefe
ihres Straßcnhorizonts aus den Türmer ans der Warte belehren wollten, wo
es brenne.

Wie gesagt, es hat sich seit vorigem Jahre eine merkliche Wendung zum
Bessern vollzogen. Dazwischen liegen allerdings zwei Sensationsprozesse, die
aller Welt offenkundig gemacht haben, daß gewisse Neuigkeiten, auf die die
Zeitungen damals vorwiegend Wert legen zu müssen glaubten, in der Haupt¬
sache doch bloß auf dreisten Erfindungen einiger politischer Stegrcifritter und
Intriganten niedrigen Schlages beruhten, und daß, wenn es auch nicht
eingestanden wird, schließlich fast alle Blätter davon genascht hatten. Wenn
daraufhin das Nestreben wieder mehr hervortritt, weniger den Klatsch nach
oben zu Pflegen und sich lieber der ernsten politischen Erörterung zu widmen,
so wird daraus uur Vorteil erwachsen. Der Schaden freilich, den das Vater¬
land und die nationalen Parteien durch jenen Fehler haben werden, wird erst
bei den nächsten Neichstagswahlen in der Rechnung erscheinen. Die Wühler,
die man in ihrer Anhänglichkeit nach oben erschüttert hat, werden die demo¬
kratischen Reihen Verstürken, und es liegt bis jetzt keine Wahrscheinlichkeit vor,
daß irgend ein glückliches Ungefähr den nationalen Geist bis dahin wieder
kräftigen werde. Die Lässigkeit, mit der die brennende Flotteufrage angefaßt
wird, läßt wenig für eine Neubelebung der sogenannten nationalen Parteien
hoffen.

Doch auch das wenige Gute soll hier Anerkennung finden, und dieses
besteht eben darin, daß unsre auswärtige Politik, namentlich in dem Verhältnis
zu Rußland und in der Orientfrage, mehr und mehr Zustimmung findet.
Freilich von der hergebrachten Schablone weiß man sich immer noch nicht ganz
frei zu macheu, von der bisher doch niemals dagewesenen Thatsache, daß alle
sechs europäischen Großmächte in einer so brennenden Frage monatelang
immer wieder zu gemeinsamem Vorgehen vereinigt worden sind, nimmt man
kaum Notiz, geschweige denn daß man Überlegungen wegen der Ursache und
über die sich mit Notwendigkeit daraus ergebenden Folgen angestellt hätte.

Vorwiegend wird der Anschauung Raum gegeben, als ob sich während
der Kaiscrbegegnung in Petersburg gewissermaßen etwas Neues ereignet, eine
neue politische Zukunft aufgethan hätte. Ein solcher Irrtum kann aber doch
bloß Leuten unterlaufen, die sich seit Jahren in die Verlüsterung des "neuen
Kurses" hineingeredet hatten und darum uicht zu erkennen vermochten, was


Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte

ist in vollem Maße und in allen wichtigen Fragen ausschlaggebend in die
Wagschale gefallen, ohne daß Deutschland mehr in den Vordergrund getreten
wäre, als es sein unmittelbares Interesse im Orient erfordert. Diese Er¬
kenntnis hat freilich vielfach große Überwindung gekostet; namentlich bei
Beginn der griechischen Wirren waren die tadelnden und besserwissenden
Stimmen ungemein zahlreich, und viele hatten dabei keine Ahnung, wie sehr
sie eigentlich jenen Bürgern von Schilda glichen, die von der Enge und Tiefe
ihres Straßcnhorizonts aus den Türmer ans der Warte belehren wollten, wo
es brenne.

Wie gesagt, es hat sich seit vorigem Jahre eine merkliche Wendung zum
Bessern vollzogen. Dazwischen liegen allerdings zwei Sensationsprozesse, die
aller Welt offenkundig gemacht haben, daß gewisse Neuigkeiten, auf die die
Zeitungen damals vorwiegend Wert legen zu müssen glaubten, in der Haupt¬
sache doch bloß auf dreisten Erfindungen einiger politischer Stegrcifritter und
Intriganten niedrigen Schlages beruhten, und daß, wenn es auch nicht
eingestanden wird, schließlich fast alle Blätter davon genascht hatten. Wenn
daraufhin das Nestreben wieder mehr hervortritt, weniger den Klatsch nach
oben zu Pflegen und sich lieber der ernsten politischen Erörterung zu widmen,
so wird daraus uur Vorteil erwachsen. Der Schaden freilich, den das Vater¬
land und die nationalen Parteien durch jenen Fehler haben werden, wird erst
bei den nächsten Neichstagswahlen in der Rechnung erscheinen. Die Wühler,
die man in ihrer Anhänglichkeit nach oben erschüttert hat, werden die demo¬
kratischen Reihen Verstürken, und es liegt bis jetzt keine Wahrscheinlichkeit vor,
daß irgend ein glückliches Ungefähr den nationalen Geist bis dahin wieder
kräftigen werde. Die Lässigkeit, mit der die brennende Flotteufrage angefaßt
wird, läßt wenig für eine Neubelebung der sogenannten nationalen Parteien
hoffen.

Doch auch das wenige Gute soll hier Anerkennung finden, und dieses
besteht eben darin, daß unsre auswärtige Politik, namentlich in dem Verhältnis
zu Rußland und in der Orientfrage, mehr und mehr Zustimmung findet.
Freilich von der hergebrachten Schablone weiß man sich immer noch nicht ganz
frei zu macheu, von der bisher doch niemals dagewesenen Thatsache, daß alle
sechs europäischen Großmächte in einer so brennenden Frage monatelang
immer wieder zu gemeinsamem Vorgehen vereinigt worden sind, nimmt man
kaum Notiz, geschweige denn daß man Überlegungen wegen der Ursache und
über die sich mit Notwendigkeit daraus ergebenden Folgen angestellt hätte.

Vorwiegend wird der Anschauung Raum gegeben, als ob sich während
der Kaiscrbegegnung in Petersburg gewissermaßen etwas Neues ereignet, eine
neue politische Zukunft aufgethan hätte. Ein solcher Irrtum kann aber doch
bloß Leuten unterlaufen, die sich seit Jahren in die Verlüsterung des „neuen
Kurses" hineingeredet hatten und darum uicht zu erkennen vermochten, was


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[0586] Der Zusammenschluß der kontinentalen Mächte ist in vollem Maße und in allen wichtigen Fragen ausschlaggebend in die Wagschale gefallen, ohne daß Deutschland mehr in den Vordergrund getreten wäre, als es sein unmittelbares Interesse im Orient erfordert. Diese Er¬ kenntnis hat freilich vielfach große Überwindung gekostet; namentlich bei Beginn der griechischen Wirren waren die tadelnden und besserwissenden Stimmen ungemein zahlreich, und viele hatten dabei keine Ahnung, wie sehr sie eigentlich jenen Bürgern von Schilda glichen, die von der Enge und Tiefe ihres Straßcnhorizonts aus den Türmer ans der Warte belehren wollten, wo es brenne. Wie gesagt, es hat sich seit vorigem Jahre eine merkliche Wendung zum Bessern vollzogen. Dazwischen liegen allerdings zwei Sensationsprozesse, die aller Welt offenkundig gemacht haben, daß gewisse Neuigkeiten, auf die die Zeitungen damals vorwiegend Wert legen zu müssen glaubten, in der Haupt¬ sache doch bloß auf dreisten Erfindungen einiger politischer Stegrcifritter und Intriganten niedrigen Schlages beruhten, und daß, wenn es auch nicht eingestanden wird, schließlich fast alle Blätter davon genascht hatten. Wenn daraufhin das Nestreben wieder mehr hervortritt, weniger den Klatsch nach oben zu Pflegen und sich lieber der ernsten politischen Erörterung zu widmen, so wird daraus uur Vorteil erwachsen. Der Schaden freilich, den das Vater¬ land und die nationalen Parteien durch jenen Fehler haben werden, wird erst bei den nächsten Neichstagswahlen in der Rechnung erscheinen. Die Wühler, die man in ihrer Anhänglichkeit nach oben erschüttert hat, werden die demo¬ kratischen Reihen Verstürken, und es liegt bis jetzt keine Wahrscheinlichkeit vor, daß irgend ein glückliches Ungefähr den nationalen Geist bis dahin wieder kräftigen werde. Die Lässigkeit, mit der die brennende Flotteufrage angefaßt wird, läßt wenig für eine Neubelebung der sogenannten nationalen Parteien hoffen. Doch auch das wenige Gute soll hier Anerkennung finden, und dieses besteht eben darin, daß unsre auswärtige Politik, namentlich in dem Verhältnis zu Rußland und in der Orientfrage, mehr und mehr Zustimmung findet. Freilich von der hergebrachten Schablone weiß man sich immer noch nicht ganz frei zu macheu, von der bisher doch niemals dagewesenen Thatsache, daß alle sechs europäischen Großmächte in einer so brennenden Frage monatelang immer wieder zu gemeinsamem Vorgehen vereinigt worden sind, nimmt man kaum Notiz, geschweige denn daß man Überlegungen wegen der Ursache und über die sich mit Notwendigkeit daraus ergebenden Folgen angestellt hätte. Vorwiegend wird der Anschauung Raum gegeben, als ob sich während der Kaiscrbegegnung in Petersburg gewissermaßen etwas Neues ereignet, eine neue politische Zukunft aufgethan hätte. Ein solcher Irrtum kann aber doch bloß Leuten unterlaufen, die sich seit Jahren in die Verlüsterung des „neuen Kurses" hineingeredet hatten und darum uicht zu erkennen vermochten, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/586>, abgerufen am 15.05.2024.