Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die älteste Besiedlung Deutschlands

der Kelten, Römer, Finnen und Slawen in drei stattlichen Bänden und
einem umfänglichen Atlas vorliegt,*) will er die "Besiedlung auf dem gesamten
Gebiete unsrer modernen Kulturstaaten" räumlich und zeitlich gesichtet auf
Grund einer möglichst lückenlosen, fast statistischen Beobachtung darstellen.
Er ist auf diese Aufgabe von einer ganz praktischen Arbeit her gekommen,
nämlich von der Untersuchung des Bodens und der landwirtschaftlichen Ver¬
hältnisse des preußischen Staats, die er auf Grund alles erreichbaren Materials
schon in einem umfassenden statistisch-beschreibenden Werke dargestellt hat; daran
haben sich zunächst grundlegende Studien über die Aussetzung der deutscheu
Dörfer in Schlesien und andres derart geschlossen, die Meitzen weit über die
Grenzen des deutschen Agrarwesens hinausführen mußten. So ist er zu einer
ganz neuen, man möchte sagen genialen Methode gekommen, die Grundlagen
der nordeuropäischen Besiedlung aufzuhellen. Er geht nicht von den mehr
oder weniger lückenhaften und vieldeutigen geschichtlichen oder urkundlichen
Nachrichten aus, sondern von dem frühesten erreichbaren Kartenbilde charakte¬
ristischer Dorffluren, da die Verteilung des Grund und Bodens von der ersten
Anlage an bis ans die jüngsten Grundstückzusammenlegungen und Gemeinheits¬
teilungen im wesentlichen unverändert geblieben ist, oder wenigstens deu
Rückschluß auf die älteste Anlage gestattet, auch wo diese nicht mehr ganz
erhalten ist. Um die reiugermanische Anlage festzustellen, untersucht er zunächst
die Zustände solcher Landschaften, die nachweislich niemals von einer andern
als germanischen Bevölkerung fest besiedelt gewesen sind (eine bloß nomadische
Urbevölkerung kommt nicht in Betracht); ebenso verfährt er, um die echte
keltische, römische, slawische und finnische Vesiedlungsweise festzustellen. Denn
über die Gebiete aller dieser Stämme haben sich die Deutschen ausgebreitet
und auf den von ihnen geschaffnen Grundlagen sich festgesetzt. Damit bringt
nun Meitzen stets die geschichtlichen Nachrichten in Verbindung und zieht zu¬
gleich für die Erläuterung der ältesten nomadischen oder halbnomadischen
Kulturstufe die erst jetzt recht bekannt gewordnen Verhältnisse der mittelasiatischen
Nomadenvölkcr heran, wie er andrerseits stets die wirtschaftlichen Möglichkeiten
vom Standpunkte des Praktikers aus erörtert. So entsteht ein merkwürdig
lebensvolles, fest nmrißnes Bild eines der bedeutendsten Vorgänge der gesamten
europäischen Geschichte.

Das altgermanische Volksland, d. h. das Gebiet, auf dem von Anfang
an nur Germanen fest angesiedelt gewesen sind, umfaßt nur einen kleinen Teil
des heutigen deutscheu Bodens. Diesen Strich begrenzt im Osten eine Linie,
die von der Kieler Föhrde südlich bis zur Elbe geht, diese oberhalb Hamburgs
überschreitet, dann mit einer westlichen Ausbiegung kurz unterhalb der Havel-



") Wanderungen, Anbau und Agrarrccht der Völker Europas nördlich der
Alpen, Erste Abteilung. Berlin, Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung), l"M.
Die älteste Besiedlung Deutschlands

der Kelten, Römer, Finnen und Slawen in drei stattlichen Bänden und
einem umfänglichen Atlas vorliegt,*) will er die „Besiedlung auf dem gesamten
Gebiete unsrer modernen Kulturstaaten" räumlich und zeitlich gesichtet auf
Grund einer möglichst lückenlosen, fast statistischen Beobachtung darstellen.
Er ist auf diese Aufgabe von einer ganz praktischen Arbeit her gekommen,
nämlich von der Untersuchung des Bodens und der landwirtschaftlichen Ver¬
hältnisse des preußischen Staats, die er auf Grund alles erreichbaren Materials
schon in einem umfassenden statistisch-beschreibenden Werke dargestellt hat; daran
haben sich zunächst grundlegende Studien über die Aussetzung der deutscheu
Dörfer in Schlesien und andres derart geschlossen, die Meitzen weit über die
Grenzen des deutschen Agrarwesens hinausführen mußten. So ist er zu einer
ganz neuen, man möchte sagen genialen Methode gekommen, die Grundlagen
der nordeuropäischen Besiedlung aufzuhellen. Er geht nicht von den mehr
oder weniger lückenhaften und vieldeutigen geschichtlichen oder urkundlichen
Nachrichten aus, sondern von dem frühesten erreichbaren Kartenbilde charakte¬
ristischer Dorffluren, da die Verteilung des Grund und Bodens von der ersten
Anlage an bis ans die jüngsten Grundstückzusammenlegungen und Gemeinheits¬
teilungen im wesentlichen unverändert geblieben ist, oder wenigstens deu
Rückschluß auf die älteste Anlage gestattet, auch wo diese nicht mehr ganz
erhalten ist. Um die reiugermanische Anlage festzustellen, untersucht er zunächst
die Zustände solcher Landschaften, die nachweislich niemals von einer andern
als germanischen Bevölkerung fest besiedelt gewesen sind (eine bloß nomadische
Urbevölkerung kommt nicht in Betracht); ebenso verfährt er, um die echte
keltische, römische, slawische und finnische Vesiedlungsweise festzustellen. Denn
über die Gebiete aller dieser Stämme haben sich die Deutschen ausgebreitet
und auf den von ihnen geschaffnen Grundlagen sich festgesetzt. Damit bringt
nun Meitzen stets die geschichtlichen Nachrichten in Verbindung und zieht zu¬
gleich für die Erläuterung der ältesten nomadischen oder halbnomadischen
Kulturstufe die erst jetzt recht bekannt gewordnen Verhältnisse der mittelasiatischen
Nomadenvölkcr heran, wie er andrerseits stets die wirtschaftlichen Möglichkeiten
vom Standpunkte des Praktikers aus erörtert. So entsteht ein merkwürdig
lebensvolles, fest nmrißnes Bild eines der bedeutendsten Vorgänge der gesamten
europäischen Geschichte.

Das altgermanische Volksland, d. h. das Gebiet, auf dem von Anfang
an nur Germanen fest angesiedelt gewesen sind, umfaßt nur einen kleinen Teil
des heutigen deutscheu Bodens. Diesen Strich begrenzt im Osten eine Linie,
die von der Kieler Föhrde südlich bis zur Elbe geht, diese oberhalb Hamburgs
überschreitet, dann mit einer westlichen Ausbiegung kurz unterhalb der Havel-



") Wanderungen, Anbau und Agrarrccht der Völker Europas nördlich der
Alpen, Erste Abteilung. Berlin, Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung), l«M.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0614" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226200"/>
          <fw type="header" place="top"> Die älteste Besiedlung Deutschlands</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1548" prev="#ID_1547"> der Kelten, Römer, Finnen und Slawen in drei stattlichen Bänden und<lb/>
einem umfänglichen Atlas vorliegt,*) will er die &#x201E;Besiedlung auf dem gesamten<lb/>
Gebiete unsrer modernen Kulturstaaten" räumlich und zeitlich gesichtet auf<lb/>
Grund einer möglichst lückenlosen, fast statistischen Beobachtung darstellen.<lb/>
Er ist auf diese Aufgabe von einer ganz praktischen Arbeit her gekommen,<lb/>
nämlich von der Untersuchung des Bodens und der landwirtschaftlichen Ver¬<lb/>
hältnisse des preußischen Staats, die er auf Grund alles erreichbaren Materials<lb/>
schon in einem umfassenden statistisch-beschreibenden Werke dargestellt hat; daran<lb/>
haben sich zunächst grundlegende Studien über die Aussetzung der deutscheu<lb/>
Dörfer in Schlesien und andres derart geschlossen, die Meitzen weit über die<lb/>
Grenzen des deutschen Agrarwesens hinausführen mußten. So ist er zu einer<lb/>
ganz neuen, man möchte sagen genialen Methode gekommen, die Grundlagen<lb/>
der nordeuropäischen Besiedlung aufzuhellen. Er geht nicht von den mehr<lb/>
oder weniger lückenhaften und vieldeutigen geschichtlichen oder urkundlichen<lb/>
Nachrichten aus, sondern von dem frühesten erreichbaren Kartenbilde charakte¬<lb/>
ristischer Dorffluren, da die Verteilung des Grund und Bodens von der ersten<lb/>
Anlage an bis ans die jüngsten Grundstückzusammenlegungen und Gemeinheits¬<lb/>
teilungen im wesentlichen unverändert geblieben ist, oder wenigstens deu<lb/>
Rückschluß auf die älteste Anlage gestattet, auch wo diese nicht mehr ganz<lb/>
erhalten ist. Um die reiugermanische Anlage festzustellen, untersucht er zunächst<lb/>
die Zustände solcher Landschaften, die nachweislich niemals von einer andern<lb/>
als germanischen Bevölkerung fest besiedelt gewesen sind (eine bloß nomadische<lb/>
Urbevölkerung kommt nicht in Betracht); ebenso verfährt er, um die echte<lb/>
keltische, römische, slawische und finnische Vesiedlungsweise festzustellen. Denn<lb/>
über die Gebiete aller dieser Stämme haben sich die Deutschen ausgebreitet<lb/>
und auf den von ihnen geschaffnen Grundlagen sich festgesetzt. Damit bringt<lb/>
nun Meitzen stets die geschichtlichen Nachrichten in Verbindung und zieht zu¬<lb/>
gleich für die Erläuterung der ältesten nomadischen oder halbnomadischen<lb/>
Kulturstufe die erst jetzt recht bekannt gewordnen Verhältnisse der mittelasiatischen<lb/>
Nomadenvölkcr heran, wie er andrerseits stets die wirtschaftlichen Möglichkeiten<lb/>
vom Standpunkte des Praktikers aus erörtert. So entsteht ein merkwürdig<lb/>
lebensvolles, fest nmrißnes Bild eines der bedeutendsten Vorgänge der gesamten<lb/>
europäischen Geschichte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1549" next="#ID_1550"> Das altgermanische Volksland, d. h. das Gebiet, auf dem von Anfang<lb/>
an nur Germanen fest angesiedelt gewesen sind, umfaßt nur einen kleinen Teil<lb/>
des heutigen deutscheu Bodens. Diesen Strich begrenzt im Osten eine Linie,<lb/>
die von der Kieler Föhrde südlich bis zur Elbe geht, diese oberhalb Hamburgs<lb/>
überschreitet, dann mit einer westlichen Ausbiegung kurz unterhalb der Havel-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_63" place="foot"> ") Wanderungen, Anbau und Agrarrccht der Völker Europas nördlich der<lb/>
Alpen,  Erste Abteilung.  Berlin, Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung), l«M.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0614] Die älteste Besiedlung Deutschlands der Kelten, Römer, Finnen und Slawen in drei stattlichen Bänden und einem umfänglichen Atlas vorliegt,*) will er die „Besiedlung auf dem gesamten Gebiete unsrer modernen Kulturstaaten" räumlich und zeitlich gesichtet auf Grund einer möglichst lückenlosen, fast statistischen Beobachtung darstellen. Er ist auf diese Aufgabe von einer ganz praktischen Arbeit her gekommen, nämlich von der Untersuchung des Bodens und der landwirtschaftlichen Ver¬ hältnisse des preußischen Staats, die er auf Grund alles erreichbaren Materials schon in einem umfassenden statistisch-beschreibenden Werke dargestellt hat; daran haben sich zunächst grundlegende Studien über die Aussetzung der deutscheu Dörfer in Schlesien und andres derart geschlossen, die Meitzen weit über die Grenzen des deutschen Agrarwesens hinausführen mußten. So ist er zu einer ganz neuen, man möchte sagen genialen Methode gekommen, die Grundlagen der nordeuropäischen Besiedlung aufzuhellen. Er geht nicht von den mehr oder weniger lückenhaften und vieldeutigen geschichtlichen oder urkundlichen Nachrichten aus, sondern von dem frühesten erreichbaren Kartenbilde charakte¬ ristischer Dorffluren, da die Verteilung des Grund und Bodens von der ersten Anlage an bis ans die jüngsten Grundstückzusammenlegungen und Gemeinheits¬ teilungen im wesentlichen unverändert geblieben ist, oder wenigstens deu Rückschluß auf die älteste Anlage gestattet, auch wo diese nicht mehr ganz erhalten ist. Um die reiugermanische Anlage festzustellen, untersucht er zunächst die Zustände solcher Landschaften, die nachweislich niemals von einer andern als germanischen Bevölkerung fest besiedelt gewesen sind (eine bloß nomadische Urbevölkerung kommt nicht in Betracht); ebenso verfährt er, um die echte keltische, römische, slawische und finnische Vesiedlungsweise festzustellen. Denn über die Gebiete aller dieser Stämme haben sich die Deutschen ausgebreitet und auf den von ihnen geschaffnen Grundlagen sich festgesetzt. Damit bringt nun Meitzen stets die geschichtlichen Nachrichten in Verbindung und zieht zu¬ gleich für die Erläuterung der ältesten nomadischen oder halbnomadischen Kulturstufe die erst jetzt recht bekannt gewordnen Verhältnisse der mittelasiatischen Nomadenvölkcr heran, wie er andrerseits stets die wirtschaftlichen Möglichkeiten vom Standpunkte des Praktikers aus erörtert. So entsteht ein merkwürdig lebensvolles, fest nmrißnes Bild eines der bedeutendsten Vorgänge der gesamten europäischen Geschichte. Das altgermanische Volksland, d. h. das Gebiet, auf dem von Anfang an nur Germanen fest angesiedelt gewesen sind, umfaßt nur einen kleinen Teil des heutigen deutscheu Bodens. Diesen Strich begrenzt im Osten eine Linie, die von der Kieler Föhrde südlich bis zur Elbe geht, diese oberhalb Hamburgs überschreitet, dann mit einer westlichen Ausbiegung kurz unterhalb der Havel- ") Wanderungen, Anbau und Agrarrccht der Völker Europas nördlich der Alpen, Erste Abteilung. Berlin, Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung), l«M.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/614
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/614>, abgerufen am 16.05.2024.