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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Aorupreise und Industrie

auch anderwärts vorzugsweise der Handel übernommen, und zwar der Gro߬
handel, der Einfuhrhandel. Ihn trifft der Kornzoll zunächst, indem er seine
Korncinfuhr verteuert und also seinen Handelsgewinn herabsetzt. Erst in
zweiter Linie wird die Industrie getroffen, soweit eine Verteuerung des ein¬
geführten Korns auf dem Lokalmarkt die Folge ist. Dem Handel kommt es noch
weniger als der Industrie auf volkswirtschaftliche Spekulation oder gar sittliche
Erwägungen an: er wird bloß durch die kaufmännische Spekulation, durch den
Gewinn bestimmt, durch reinen und berechtigten Eigennutz. Es fragt sich, ob
der Staat dem Eigennutz des Händlers ein größeres Gewicht beilegen soll
als dem des Ackerbauers. Und hier sollte es doch wohl noch klarer sein als
bei der Industrie, auf welcher Seite das Volkswohl, der Staat das größere
Interesse zu vertreten hat. Man kann unmöglich zweifeln, ob wir den Außen¬
handel mit Getreide oder den heimischen Getreidebau am Leben erhalten sollten,
wenn einmal die Lebensfrage so gestellt werden müßte. Wenn wir in diesem
Streit für die Erhaltung unsers Getreidebaues auf andre Gcwerbegruppen
Rücksicht zu nehmen haben, so sind es weit weniger unsre Handelskammern
als unsre Jndustriekcimmern, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben.

Die Industrie hat ein Interesse an billigen Brotpreisen, der Staat hat
nur daran ein Interesse, daß der Brotpreis in günstigem Verhältnis stehe zum
Arbeitslohn. Für den Staat, für die Volkswirtschaft ist es, wenigstens bei
uns, mindestens ebenso wünschenswert, daß die Kornpreise in einer den Er¬
zeugungskosten angemessenen Hohe bleiben, als daß der industrielle Arbeitslohn
in den den Erzcugungskvsten angemessenen Grenzen bleibe. Denn es ist
wünschenswert, daß uns ein großer und starker Stand von Ackerbauern er¬
halten bleibe, weit wünschenswerter, ja notwendiger, als daß wir Strümpfe
nach Amerika oder Handschuhe nach England verkaufen.

Amerika scheint Heuer eine gute Weizenernte zu haben. Dennoch stiegen
die Weizenpreise gerade in Newhork im August mit großer Eile, offenbar weil
man damals eben erfuhr, daß in Europa die Ernte im ganzen dürftig aus¬
fallen werde. So werden die Ackerbaustaaten stets spekuliren, und je weniger
wir selbst produziren, um so leichter wird Amerika seine Preise steigern können.
Ans unsre Brotpreise haben unsre Kornzölle nie großen Einfluß gehabt;
sie verlieren aber jede Bedeutung in solchen Lagen, wie die heurige ist.
Amerika macht seine Preise, und wir müssen sie zahlen; auch der "arme
Mann" muß sie zahlen, wenn es nicht sein Brodherr für ihn thut. Aber es
kann kommen, daß wir in Europa eine Mißernte unter weit schlimmern Be¬
dingungen erleben, als sie gegenwärtig sind.

Unser Hauptlieferant von Korn ist Nußland. Von dort haben wir aber
Heuer nichts zu erwarten, ebenso wenig von Ungarn und den Donaulündern.
Wir rechnen also auf Amerika, Indien und Australien. Nun stelle man sich
vor, daß Amerika oder England, oder gar beide, in einen Seekrieg verwickelt


Aorupreise und Industrie

auch anderwärts vorzugsweise der Handel übernommen, und zwar der Gro߬
handel, der Einfuhrhandel. Ihn trifft der Kornzoll zunächst, indem er seine
Korncinfuhr verteuert und also seinen Handelsgewinn herabsetzt. Erst in
zweiter Linie wird die Industrie getroffen, soweit eine Verteuerung des ein¬
geführten Korns auf dem Lokalmarkt die Folge ist. Dem Handel kommt es noch
weniger als der Industrie auf volkswirtschaftliche Spekulation oder gar sittliche
Erwägungen an: er wird bloß durch die kaufmännische Spekulation, durch den
Gewinn bestimmt, durch reinen und berechtigten Eigennutz. Es fragt sich, ob
der Staat dem Eigennutz des Händlers ein größeres Gewicht beilegen soll
als dem des Ackerbauers. Und hier sollte es doch wohl noch klarer sein als
bei der Industrie, auf welcher Seite das Volkswohl, der Staat das größere
Interesse zu vertreten hat. Man kann unmöglich zweifeln, ob wir den Außen¬
handel mit Getreide oder den heimischen Getreidebau am Leben erhalten sollten,
wenn einmal die Lebensfrage so gestellt werden müßte. Wenn wir in diesem
Streit für die Erhaltung unsers Getreidebaues auf andre Gcwerbegruppen
Rücksicht zu nehmen haben, so sind es weit weniger unsre Handelskammern
als unsre Jndustriekcimmern, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben.

Die Industrie hat ein Interesse an billigen Brotpreisen, der Staat hat
nur daran ein Interesse, daß der Brotpreis in günstigem Verhältnis stehe zum
Arbeitslohn. Für den Staat, für die Volkswirtschaft ist es, wenigstens bei
uns, mindestens ebenso wünschenswert, daß die Kornpreise in einer den Er¬
zeugungskosten angemessenen Hohe bleiben, als daß der industrielle Arbeitslohn
in den den Erzcugungskvsten angemessenen Grenzen bleibe. Denn es ist
wünschenswert, daß uns ein großer und starker Stand von Ackerbauern er¬
halten bleibe, weit wünschenswerter, ja notwendiger, als daß wir Strümpfe
nach Amerika oder Handschuhe nach England verkaufen.

Amerika scheint Heuer eine gute Weizenernte zu haben. Dennoch stiegen
die Weizenpreise gerade in Newhork im August mit großer Eile, offenbar weil
man damals eben erfuhr, daß in Europa die Ernte im ganzen dürftig aus¬
fallen werde. So werden die Ackerbaustaaten stets spekuliren, und je weniger
wir selbst produziren, um so leichter wird Amerika seine Preise steigern können.
Ans unsre Brotpreise haben unsre Kornzölle nie großen Einfluß gehabt;
sie verlieren aber jede Bedeutung in solchen Lagen, wie die heurige ist.
Amerika macht seine Preise, und wir müssen sie zahlen; auch der „arme
Mann" muß sie zahlen, wenn es nicht sein Brodherr für ihn thut. Aber es
kann kommen, daß wir in Europa eine Mißernte unter weit schlimmern Be¬
dingungen erleben, als sie gegenwärtig sind.

Unser Hauptlieferant von Korn ist Nußland. Von dort haben wir aber
Heuer nichts zu erwarten, ebenso wenig von Ungarn und den Donaulündern.
Wir rechnen also auf Amerika, Indien und Australien. Nun stelle man sich
vor, daß Amerika oder England, oder gar beide, in einen Seekrieg verwickelt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/16>, abgerufen am 26.05.2024.