Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gelegentliche Beobachtungen über den Kleinhandel

letzten zwanzig Jahren in jeder deutschen Stadt die Grundrente ungeheuer ge¬
wachsen ist; mit den Kaufpreisen der Häuser sind natürlich auch die Mieter
für die Geschäftslokale gestiegen und haben so den Reingewinn bedeutend
hinabgesetzt. Aber selbst wenn der Geschäftsmann ein eignes Haus hat, was
in vielen Fällen ja geradezu eine Bedingung für den Geschäftsbetrieb ist, so
ist er doch kaum in einer bessern Lage, als sein Kollege, der zur Miete wohnt.

Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch die Wohnungsfrage bei den Klein¬
händlern berühren, mit der viele andre Erscheinungen zusammenhängen. Es
ist weit gefehlt, wenn man annimmt, es gäbe nur eine Arbeiterwohnungsfrage,
nein, in jeder äußerlich so glanzvoll mit prächtig beleuchteten Schaufenstern
daliegenden Hauptgeschäftsstraße der Städte mittlerer Größe giebt es eine
Wohnungsfrage der Ladenbesitzer und eine der Angestellten dieser Geschäfte.
Familie und Personal wohnen oft in menschenunwürdigen Löchern. Je größer
die Stadt, desto schwieriger wird es, Wohnung und Geschäftsraum in einem
Hause zu vereinigen. Die Großstadtentwicklung, die in einer City die Hauser
bis zum vierten Stocke mit Geschäftsräumen erfüllt, ist hier einmal menschen¬
freundlich, sie treibt die Leute aus der Stickluft der Hinterhäuser in die Vor¬
städte, wo sich die müden stumpfen Augen wieder am Anblick grüner Gurten
laben können und die Lunge reine Luft atmet.

Eine andre Beobachtung schließlich, deren Richtigkeit aber noch nicht so
nachgewiesen worden ist, daß man daraus Schlüsse ziehen könnte, ist die, daß
in sehr vielen Orten die Zahl eingewanderter fremder, d. h. nicht ortsein-
geborner Geschäftsleute sehr zunimmt, und daß gerade diese es häufig sind,
deren Geschäfte einen schnellen Aufschwung nehmen. Mit dem Sprichworte:
Neue Besen kehren gut! wird man das kaum hinreichend erklären können.
Vielmehr möchte es uns scheinen, als ob hier die Inzucht eine Rolle spielt.
Die Söhne der in einer Stadt eingebornen Kaufleute sehen sich vielleicht in
der Lehrzeit -- auch nicht immer! -- in der Welt, d. h. in einer andern
deutschen Stadt etwas um, kehren aber bald nach der Heimat zurück und setzen
sich ins warme Nest. Sie sind geneigt, dem großen persönlichen Bekannten-
und Verwandtenkreis und ihrer Eigenschaft als eingebornen Bürgern so viel
zu vertrauen, daß sie glauben, der Kundenkreis müsse ihnen verbleiben, auch
wenn sie nicht die äußerste Rührigkeit, allen Scharfsinn und alle Umsicht ent¬
wickeln; vielleicht halten sie auch eine besondre Artigkeit und Zuvorkommenheit
in dem Verkehre mit dem Publikum für unter ihrer Bürgerwürde. Ein als
Fremder eingewanderter Kaufmann muß den Mangel persönlicher Beziehungen
und allgemeinen Vertrauens auf einem Boden, auf dem er noch nicht festen
Fuß gefaßt hat, durch die Aufbietung aller Kräfte wett machen; er muß alle
seine Fähigkeiten entwickeln, und daneben steht ihm wohl auch eine größere,
in mannigfaltigen Verhältnissen erworbne Erfahrung zu Gebote, die jenen ein¬
gebornen Kaufleute,? abgeht, weil sie zu früh ansässig geworden sind.


Gelegentliche Beobachtungen über den Kleinhandel

letzten zwanzig Jahren in jeder deutschen Stadt die Grundrente ungeheuer ge¬
wachsen ist; mit den Kaufpreisen der Häuser sind natürlich auch die Mieter
für die Geschäftslokale gestiegen und haben so den Reingewinn bedeutend
hinabgesetzt. Aber selbst wenn der Geschäftsmann ein eignes Haus hat, was
in vielen Fällen ja geradezu eine Bedingung für den Geschäftsbetrieb ist, so
ist er doch kaum in einer bessern Lage, als sein Kollege, der zur Miete wohnt.

Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch die Wohnungsfrage bei den Klein¬
händlern berühren, mit der viele andre Erscheinungen zusammenhängen. Es
ist weit gefehlt, wenn man annimmt, es gäbe nur eine Arbeiterwohnungsfrage,
nein, in jeder äußerlich so glanzvoll mit prächtig beleuchteten Schaufenstern
daliegenden Hauptgeschäftsstraße der Städte mittlerer Größe giebt es eine
Wohnungsfrage der Ladenbesitzer und eine der Angestellten dieser Geschäfte.
Familie und Personal wohnen oft in menschenunwürdigen Löchern. Je größer
die Stadt, desto schwieriger wird es, Wohnung und Geschäftsraum in einem
Hause zu vereinigen. Die Großstadtentwicklung, die in einer City die Hauser
bis zum vierten Stocke mit Geschäftsräumen erfüllt, ist hier einmal menschen¬
freundlich, sie treibt die Leute aus der Stickluft der Hinterhäuser in die Vor¬
städte, wo sich die müden stumpfen Augen wieder am Anblick grüner Gurten
laben können und die Lunge reine Luft atmet.

Eine andre Beobachtung schließlich, deren Richtigkeit aber noch nicht so
nachgewiesen worden ist, daß man daraus Schlüsse ziehen könnte, ist die, daß
in sehr vielen Orten die Zahl eingewanderter fremder, d. h. nicht ortsein-
geborner Geschäftsleute sehr zunimmt, und daß gerade diese es häufig sind,
deren Geschäfte einen schnellen Aufschwung nehmen. Mit dem Sprichworte:
Neue Besen kehren gut! wird man das kaum hinreichend erklären können.
Vielmehr möchte es uns scheinen, als ob hier die Inzucht eine Rolle spielt.
Die Söhne der in einer Stadt eingebornen Kaufleute sehen sich vielleicht in
der Lehrzeit — auch nicht immer! — in der Welt, d. h. in einer andern
deutschen Stadt etwas um, kehren aber bald nach der Heimat zurück und setzen
sich ins warme Nest. Sie sind geneigt, dem großen persönlichen Bekannten-
und Verwandtenkreis und ihrer Eigenschaft als eingebornen Bürgern so viel
zu vertrauen, daß sie glauben, der Kundenkreis müsse ihnen verbleiben, auch
wenn sie nicht die äußerste Rührigkeit, allen Scharfsinn und alle Umsicht ent¬
wickeln; vielleicht halten sie auch eine besondre Artigkeit und Zuvorkommenheit
in dem Verkehre mit dem Publikum für unter ihrer Bürgerwürde. Ein als
Fremder eingewanderter Kaufmann muß den Mangel persönlicher Beziehungen
und allgemeinen Vertrauens auf einem Boden, auf dem er noch nicht festen
Fuß gefaßt hat, durch die Aufbietung aller Kräfte wett machen; er muß alle
seine Fähigkeiten entwickeln, und daneben steht ihm wohl auch eine größere,
in mannigfaltigen Verhältnissen erworbne Erfahrung zu Gebote, die jenen ein¬
gebornen Kaufleute,? abgeht, weil sie zu früh ansässig geworden sind.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0274" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228576"/>
          <fw type="header" place="top"> Gelegentliche Beobachtungen über den Kleinhandel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_986"> letzten zwanzig Jahren in jeder deutschen Stadt die Grundrente ungeheuer ge¬<lb/>
wachsen ist; mit den Kaufpreisen der Häuser sind natürlich auch die Mieter<lb/>
für die Geschäftslokale gestiegen und haben so den Reingewinn bedeutend<lb/>
hinabgesetzt. Aber selbst wenn der Geschäftsmann ein eignes Haus hat, was<lb/>
in vielen Fällen ja geradezu eine Bedingung für den Geschäftsbetrieb ist, so<lb/>
ist er doch kaum in einer bessern Lage, als sein Kollege, der zur Miete wohnt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_987"> Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch die Wohnungsfrage bei den Klein¬<lb/>
händlern berühren, mit der viele andre Erscheinungen zusammenhängen. Es<lb/>
ist weit gefehlt, wenn man annimmt, es gäbe nur eine Arbeiterwohnungsfrage,<lb/>
nein, in jeder äußerlich so glanzvoll mit prächtig beleuchteten Schaufenstern<lb/>
daliegenden Hauptgeschäftsstraße der Städte mittlerer Größe giebt es eine<lb/>
Wohnungsfrage der Ladenbesitzer und eine der Angestellten dieser Geschäfte.<lb/>
Familie und Personal wohnen oft in menschenunwürdigen Löchern. Je größer<lb/>
die Stadt, desto schwieriger wird es, Wohnung und Geschäftsraum in einem<lb/>
Hause zu vereinigen. Die Großstadtentwicklung, die in einer City die Hauser<lb/>
bis zum vierten Stocke mit Geschäftsräumen erfüllt, ist hier einmal menschen¬<lb/>
freundlich, sie treibt die Leute aus der Stickluft der Hinterhäuser in die Vor¬<lb/>
städte, wo sich die müden stumpfen Augen wieder am Anblick grüner Gurten<lb/>
laben können und die Lunge reine Luft atmet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_988"> Eine andre Beobachtung schließlich, deren Richtigkeit aber noch nicht so<lb/>
nachgewiesen worden ist, daß man daraus Schlüsse ziehen könnte, ist die, daß<lb/>
in sehr vielen Orten die Zahl eingewanderter fremder, d. h. nicht ortsein-<lb/>
geborner Geschäftsleute sehr zunimmt, und daß gerade diese es häufig sind,<lb/>
deren Geschäfte einen schnellen Aufschwung nehmen. Mit dem Sprichworte:<lb/>
Neue Besen kehren gut! wird man das kaum hinreichend erklären können.<lb/>
Vielmehr möchte es uns scheinen, als ob hier die Inzucht eine Rolle spielt.<lb/>
Die Söhne der in einer Stadt eingebornen Kaufleute sehen sich vielleicht in<lb/>
der Lehrzeit &#x2014; auch nicht immer! &#x2014; in der Welt, d. h. in einer andern<lb/>
deutschen Stadt etwas um, kehren aber bald nach der Heimat zurück und setzen<lb/>
sich ins warme Nest. Sie sind geneigt, dem großen persönlichen Bekannten-<lb/>
und Verwandtenkreis und ihrer Eigenschaft als eingebornen Bürgern so viel<lb/>
zu vertrauen, daß sie glauben, der Kundenkreis müsse ihnen verbleiben, auch<lb/>
wenn sie nicht die äußerste Rührigkeit, allen Scharfsinn und alle Umsicht ent¬<lb/>
wickeln; vielleicht halten sie auch eine besondre Artigkeit und Zuvorkommenheit<lb/>
in dem Verkehre mit dem Publikum für unter ihrer Bürgerwürde. Ein als<lb/>
Fremder eingewanderter Kaufmann muß den Mangel persönlicher Beziehungen<lb/>
und allgemeinen Vertrauens auf einem Boden, auf dem er noch nicht festen<lb/>
Fuß gefaßt hat, durch die Aufbietung aller Kräfte wett machen; er muß alle<lb/>
seine Fähigkeiten entwickeln, und daneben steht ihm wohl auch eine größere,<lb/>
in mannigfaltigen Verhältnissen erworbne Erfahrung zu Gebote, die jenen ein¬<lb/>
gebornen Kaufleute,? abgeht, weil sie zu früh ansässig geworden sind.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0274] Gelegentliche Beobachtungen über den Kleinhandel letzten zwanzig Jahren in jeder deutschen Stadt die Grundrente ungeheuer ge¬ wachsen ist; mit den Kaufpreisen der Häuser sind natürlich auch die Mieter für die Geschäftslokale gestiegen und haben so den Reingewinn bedeutend hinabgesetzt. Aber selbst wenn der Geschäftsmann ein eignes Haus hat, was in vielen Fällen ja geradezu eine Bedingung für den Geschäftsbetrieb ist, so ist er doch kaum in einer bessern Lage, als sein Kollege, der zur Miete wohnt. Bei dieser Gelegenheit wollen wir auch die Wohnungsfrage bei den Klein¬ händlern berühren, mit der viele andre Erscheinungen zusammenhängen. Es ist weit gefehlt, wenn man annimmt, es gäbe nur eine Arbeiterwohnungsfrage, nein, in jeder äußerlich so glanzvoll mit prächtig beleuchteten Schaufenstern daliegenden Hauptgeschäftsstraße der Städte mittlerer Größe giebt es eine Wohnungsfrage der Ladenbesitzer und eine der Angestellten dieser Geschäfte. Familie und Personal wohnen oft in menschenunwürdigen Löchern. Je größer die Stadt, desto schwieriger wird es, Wohnung und Geschäftsraum in einem Hause zu vereinigen. Die Großstadtentwicklung, die in einer City die Hauser bis zum vierten Stocke mit Geschäftsräumen erfüllt, ist hier einmal menschen¬ freundlich, sie treibt die Leute aus der Stickluft der Hinterhäuser in die Vor¬ städte, wo sich die müden stumpfen Augen wieder am Anblick grüner Gurten laben können und die Lunge reine Luft atmet. Eine andre Beobachtung schließlich, deren Richtigkeit aber noch nicht so nachgewiesen worden ist, daß man daraus Schlüsse ziehen könnte, ist die, daß in sehr vielen Orten die Zahl eingewanderter fremder, d. h. nicht ortsein- geborner Geschäftsleute sehr zunimmt, und daß gerade diese es häufig sind, deren Geschäfte einen schnellen Aufschwung nehmen. Mit dem Sprichworte: Neue Besen kehren gut! wird man das kaum hinreichend erklären können. Vielmehr möchte es uns scheinen, als ob hier die Inzucht eine Rolle spielt. Die Söhne der in einer Stadt eingebornen Kaufleute sehen sich vielleicht in der Lehrzeit — auch nicht immer! — in der Welt, d. h. in einer andern deutschen Stadt etwas um, kehren aber bald nach der Heimat zurück und setzen sich ins warme Nest. Sie sind geneigt, dem großen persönlichen Bekannten- und Verwandtenkreis und ihrer Eigenschaft als eingebornen Bürgern so viel zu vertrauen, daß sie glauben, der Kundenkreis müsse ihnen verbleiben, auch wenn sie nicht die äußerste Rührigkeit, allen Scharfsinn und alle Umsicht ent¬ wickeln; vielleicht halten sie auch eine besondre Artigkeit und Zuvorkommenheit in dem Verkehre mit dem Publikum für unter ihrer Bürgerwürde. Ein als Fremder eingewanderter Kaufmann muß den Mangel persönlicher Beziehungen und allgemeinen Vertrauens auf einem Boden, auf dem er noch nicht festen Fuß gefaßt hat, durch die Aufbietung aller Kräfte wett machen; er muß alle seine Fähigkeiten entwickeln, und daneben steht ihm wohl auch eine größere, in mannigfaltigen Verhältnissen erworbne Erfahrung zu Gebote, die jenen ein¬ gebornen Kaufleute,? abgeht, weil sie zu früh ansässig geworden sind.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/274
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/274>, abgerufen am 16.05.2024.