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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

müßte, gemütlich und heiter mit seinen Kindern spielen kann, als wüßte er
sie im Schutze eines himmlischen Vaters geborgen und des ewigen Lebens
sicher. Aber den klar und folgerichtig Denkenden und beharrlich Grübelnden
macht der Atheismus verrückt. Zunächst durch die beständige Mißhandlung
des Kausalitätsbedürfnisses. Die Welt ohne zureichenden Grund! Die Materie
Entstehungsgrund des Geistes! Unsinn! Nur ein bewußter Geist kann Ent¬
stehungsgrund der Menschengeister sein, und zwar einer, der größer ist als sie
alle zusammengenommen, nach dem auch von Nietzsche erwähnten Gesetz der
Mechanik, daß keine Triebkraft voll in Arbeit übergeht, weil beim Übergang
allerlei Reibungen einen Teil verschlingen. Der Widersinn schwindet nur dann,
wenn man annimmt -- und diese Annahme hat Nietzsche zuletzt gewagt --,
daß die Welt von Ewigkeit so gewesen sei, wie sie hente ist; dann ist diese
Welt class. 8ni, wie nach der Annahme des Theismus Gott vMLii, sui ist;
die bewußten Menschengeister sind dann nicht geschaffen oder entstanden, sondern
immer dagewesen und werden in den neuen Leibern, die an die Stelle der
verstorbnen treten, wiedergeboren; von Entwicklung, Kant-Laplacischer Theorie,
Darwinismus kann dann natürlich keine Rede mehr sein. Aber dieser Annahme
widersprechen die geologischen Thatsachen; im Zeitalter der Niesensaurier haben
keine Menschen auf Erden gelebt. Und zur Mißhandlung des Erkenntnistriebes
gesellt sich die des Gemüts und der sittlichen Triebe; diese fordern Glückseligkeit
und die dereinstige Wiederherstellung der auf Erden so vielfach verletzten Ge¬
rechtigkeit. Für den Denkkräftigen, den nicht eine nach außen gerichtete Thätigkeit
des Grübelns überhebt, giebt es bei dem heute erreichten Grade und Umfange
der Welterkenntnis nur eine Philosophie, die ihn vor Verzweiflung und Wahn¬
sinn bewahren kann, das ist die des Theismus und des Unsterblichkeitsglanbens,
die ihn die Vollendung und Berichtigung des unvollkommnen Erdendaseins
im Jenseits hoffen lehrt. Ist er durch diese gläubige Hoffnung einmal be¬
ruhigt, dann sieht er wohl auch schon im Diesseits mehr Schönheit und Ver¬
nunft und weniger Häßliches und unvernünftigen Zufall als die Nietzsches.
Vieles freilich wird auch ihm nicht gefallen, und der "große Ekel" an den
"viel zu Vielen" wird ihn manchmal anwandeln, mag er sie in Masse auf
einem großstädtischen Bahnhofe beisammen sehen und -- riechen oder jeden
einzeln beschauen. Aber damit wird eine gesunde Natur wohl auch ohne
Philosophie fertig. Sie hat dagegen drei Mittel. Man arbeitet durch fleißige
Gewährung leiblicher und geistiger Hilfe daran, ein Paar von den Häßlichen
em wenig schöner zu machen; man gewöhnt sich daran, das Gewimmel der
Unvollkommnen, der komischen Käuze, humoristisch zu betrachten; und man
bedenkt, daß man selbst wahrscheinlich manchen andern ebenso schlecht gefällt,
wie diese uns gefallen. Will man aber sich selber los werden und die Welt
entweder anders haben, als sie Gott geschaffen hat, oder gar nicht, so ist das
die Überschreitung der Grenzen der Geschöpflichkeit, die die frommen Griechen


Friedrich Nietzsche

müßte, gemütlich und heiter mit seinen Kindern spielen kann, als wüßte er
sie im Schutze eines himmlischen Vaters geborgen und des ewigen Lebens
sicher. Aber den klar und folgerichtig Denkenden und beharrlich Grübelnden
macht der Atheismus verrückt. Zunächst durch die beständige Mißhandlung
des Kausalitätsbedürfnisses. Die Welt ohne zureichenden Grund! Die Materie
Entstehungsgrund des Geistes! Unsinn! Nur ein bewußter Geist kann Ent¬
stehungsgrund der Menschengeister sein, und zwar einer, der größer ist als sie
alle zusammengenommen, nach dem auch von Nietzsche erwähnten Gesetz der
Mechanik, daß keine Triebkraft voll in Arbeit übergeht, weil beim Übergang
allerlei Reibungen einen Teil verschlingen. Der Widersinn schwindet nur dann,
wenn man annimmt — und diese Annahme hat Nietzsche zuletzt gewagt —,
daß die Welt von Ewigkeit so gewesen sei, wie sie hente ist; dann ist diese
Welt class. 8ni, wie nach der Annahme des Theismus Gott vMLii, sui ist;
die bewußten Menschengeister sind dann nicht geschaffen oder entstanden, sondern
immer dagewesen und werden in den neuen Leibern, die an die Stelle der
verstorbnen treten, wiedergeboren; von Entwicklung, Kant-Laplacischer Theorie,
Darwinismus kann dann natürlich keine Rede mehr sein. Aber dieser Annahme
widersprechen die geologischen Thatsachen; im Zeitalter der Niesensaurier haben
keine Menschen auf Erden gelebt. Und zur Mißhandlung des Erkenntnistriebes
gesellt sich die des Gemüts und der sittlichen Triebe; diese fordern Glückseligkeit
und die dereinstige Wiederherstellung der auf Erden so vielfach verletzten Ge¬
rechtigkeit. Für den Denkkräftigen, den nicht eine nach außen gerichtete Thätigkeit
des Grübelns überhebt, giebt es bei dem heute erreichten Grade und Umfange
der Welterkenntnis nur eine Philosophie, die ihn vor Verzweiflung und Wahn¬
sinn bewahren kann, das ist die des Theismus und des Unsterblichkeitsglanbens,
die ihn die Vollendung und Berichtigung des unvollkommnen Erdendaseins
im Jenseits hoffen lehrt. Ist er durch diese gläubige Hoffnung einmal be¬
ruhigt, dann sieht er wohl auch schon im Diesseits mehr Schönheit und Ver¬
nunft und weniger Häßliches und unvernünftigen Zufall als die Nietzsches.
Vieles freilich wird auch ihm nicht gefallen, und der „große Ekel" an den
»viel zu Vielen" wird ihn manchmal anwandeln, mag er sie in Masse auf
einem großstädtischen Bahnhofe beisammen sehen und — riechen oder jeden
einzeln beschauen. Aber damit wird eine gesunde Natur wohl auch ohne
Philosophie fertig. Sie hat dagegen drei Mittel. Man arbeitet durch fleißige
Gewährung leiblicher und geistiger Hilfe daran, ein Paar von den Häßlichen
em wenig schöner zu machen; man gewöhnt sich daran, das Gewimmel der
Unvollkommnen, der komischen Käuze, humoristisch zu betrachten; und man
bedenkt, daß man selbst wahrscheinlich manchen andern ebenso schlecht gefällt,
wie diese uns gefallen. Will man aber sich selber los werden und die Welt
entweder anders haben, als sie Gott geschaffen hat, oder gar nicht, so ist das
die Überschreitung der Grenzen der Geschöpflichkeit, die die frommen Griechen


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[0315] Friedrich Nietzsche müßte, gemütlich und heiter mit seinen Kindern spielen kann, als wüßte er sie im Schutze eines himmlischen Vaters geborgen und des ewigen Lebens sicher. Aber den klar und folgerichtig Denkenden und beharrlich Grübelnden macht der Atheismus verrückt. Zunächst durch die beständige Mißhandlung des Kausalitätsbedürfnisses. Die Welt ohne zureichenden Grund! Die Materie Entstehungsgrund des Geistes! Unsinn! Nur ein bewußter Geist kann Ent¬ stehungsgrund der Menschengeister sein, und zwar einer, der größer ist als sie alle zusammengenommen, nach dem auch von Nietzsche erwähnten Gesetz der Mechanik, daß keine Triebkraft voll in Arbeit übergeht, weil beim Übergang allerlei Reibungen einen Teil verschlingen. Der Widersinn schwindet nur dann, wenn man annimmt — und diese Annahme hat Nietzsche zuletzt gewagt —, daß die Welt von Ewigkeit so gewesen sei, wie sie hente ist; dann ist diese Welt class. 8ni, wie nach der Annahme des Theismus Gott vMLii, sui ist; die bewußten Menschengeister sind dann nicht geschaffen oder entstanden, sondern immer dagewesen und werden in den neuen Leibern, die an die Stelle der verstorbnen treten, wiedergeboren; von Entwicklung, Kant-Laplacischer Theorie, Darwinismus kann dann natürlich keine Rede mehr sein. Aber dieser Annahme widersprechen die geologischen Thatsachen; im Zeitalter der Niesensaurier haben keine Menschen auf Erden gelebt. Und zur Mißhandlung des Erkenntnistriebes gesellt sich die des Gemüts und der sittlichen Triebe; diese fordern Glückseligkeit und die dereinstige Wiederherstellung der auf Erden so vielfach verletzten Ge¬ rechtigkeit. Für den Denkkräftigen, den nicht eine nach außen gerichtete Thätigkeit des Grübelns überhebt, giebt es bei dem heute erreichten Grade und Umfange der Welterkenntnis nur eine Philosophie, die ihn vor Verzweiflung und Wahn¬ sinn bewahren kann, das ist die des Theismus und des Unsterblichkeitsglanbens, die ihn die Vollendung und Berichtigung des unvollkommnen Erdendaseins im Jenseits hoffen lehrt. Ist er durch diese gläubige Hoffnung einmal be¬ ruhigt, dann sieht er wohl auch schon im Diesseits mehr Schönheit und Ver¬ nunft und weniger Häßliches und unvernünftigen Zufall als die Nietzsches. Vieles freilich wird auch ihm nicht gefallen, und der „große Ekel" an den »viel zu Vielen" wird ihn manchmal anwandeln, mag er sie in Masse auf einem großstädtischen Bahnhofe beisammen sehen und — riechen oder jeden einzeln beschauen. Aber damit wird eine gesunde Natur wohl auch ohne Philosophie fertig. Sie hat dagegen drei Mittel. Man arbeitet durch fleißige Gewährung leiblicher und geistiger Hilfe daran, ein Paar von den Häßlichen em wenig schöner zu machen; man gewöhnt sich daran, das Gewimmel der Unvollkommnen, der komischen Käuze, humoristisch zu betrachten; und man bedenkt, daß man selbst wahrscheinlich manchen andern ebenso schlecht gefällt, wie diese uns gefallen. Will man aber sich selber los werden und die Welt entweder anders haben, als sie Gott geschaffen hat, oder gar nicht, so ist das die Überschreitung der Grenzen der Geschöpflichkeit, die die frommen Griechen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/315>, abgerufen am 16.05.2024.