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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

logenste Kind ist für Fremde ein Ausbund von Wahrheit: "Meine Kinder
thun so was nicht!""

Nur bei der zwölften Frage: Wie muß ein tüchtiger Mensch beschaffen
sein? hat Rade aus allen achtundvierzig Antworten etwas mitgeteilt. Man
sieht, daß vieles der Ausdruck eignen Denkens ist, vieles ist aber auch an¬
gelernte Phrase. Die Frage war vielleicht zu schwer gestellt. Man muß es
im ganzen durchlesen, um urteilen zu können. Wenn Rade die in den Ant¬
worten hervortretende "ausnehmende Schätzung der Schulbildung" auffällt,
und er darüber sagt: "Kein andrer Stand würde sie bei der Zeichnung seines
Ideals eine solche Rolle spielen lassen --" so hat er dabei wohl die Rolle,
die die Schule z. B. in der sozialen Heilmittellehre des manchesterlichen Frei¬
sinns von jeher spielt, nicht genügend beachtet. Das nicht hoch genug anzu¬
erkennende Streben in unserm Arbeiter- und Bürgerstande, den Kindern eine
gute Schulbildung zu verschaffen, verdiente doch recht scharf unterschieden zu
werden von der Überschätzung der "höhern" Schulbildung, die sich bei den
sozialistisch "Emporentwickelten" ebenso findet wie bei den Frauenemanzipa-
toren. Das Verständnis und die Wertschätzung der Gedankenwelt und des
Bildungsstandes der "unwissenschaftlichen" Arbeiter und der ungelehrten Frauen
aller Stände in ihrer so berechtigten Eigentümlichkeit wieder zu Ehren zu
bringen, wäre sicher eine verdienstliche Aufgabe des Evangelisch-sozialen Kon-
gresses. Leider liegt sie ihm, wie es scheint, noch himmelweit fern. Soviel
über den Inhalt der Antworten. Aus den Betrachtungen, die Rade daran
anknüpfte, und der Debatte sei noch folgendes kurz hervorgehoben.

Bemerkenswert war vor allem, wie Rade sich zu den, wie er sagte, viel
versenken sozialen Pastoren stellte. Er will von der politischen Thätigkeit
eines Nauman, eines Göhre nicht reden, aber das einfache Dasein dieser
Leute, daß sie als Pastoren so geredet und so gehandelt hätten, das sei eine
Brücke, vielleicht für viele Arbeiter die stärkste Brücke, die sie uoch verbinde
mit dem Christentum, und er glaube, die Verantwortung aller Instanzen sei
sehr groß, die nichts andres zu thun hätten, als diese Brücke womöglich ab¬
zubrechen. Rade wird sich nicht beschweren dürfen, wenn manche in dieser Auf¬
fassung doch eine etwas zu starke Dosis von Opportunismus finden, die sogar
Gefahr läuft, dem Jesuitismus sehr nahe zu kommen. Mit den Wölfen zu
heulen ist ja von sprichwörtlichen Nutzen, und die Jesuiten haben das immer
meisterlich verstanden. Das Heulen durch Naumann und Göhre besorgen zu
lassen, ohne selbst mit zu heulen, wäre vollends ein Meisterstück kirchlicher
Diplomatie. Rade meinte es wohl nicht so böse, aber mit dem Feuer soll
man nicht spielen. Wer dem Jesuitismus den kleinen Finger giebt, verfällt
ihm leicht mit Haut und Haar und verscherzt alles Vertrauen. Wie unvor¬
sichtig er in dieser Beziehung ist, das beweist er durch den ungeheuerlichen,
Naumann entlehnten Satz, mit dem er den Hinweis auf die politischen Pastoren


Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

logenste Kind ist für Fremde ein Ausbund von Wahrheit: »Meine Kinder
thun so was nicht!«"

Nur bei der zwölften Frage: Wie muß ein tüchtiger Mensch beschaffen
sein? hat Rade aus allen achtundvierzig Antworten etwas mitgeteilt. Man
sieht, daß vieles der Ausdruck eignen Denkens ist, vieles ist aber auch an¬
gelernte Phrase. Die Frage war vielleicht zu schwer gestellt. Man muß es
im ganzen durchlesen, um urteilen zu können. Wenn Rade die in den Ant¬
worten hervortretende „ausnehmende Schätzung der Schulbildung" auffällt,
und er darüber sagt: „Kein andrer Stand würde sie bei der Zeichnung seines
Ideals eine solche Rolle spielen lassen —" so hat er dabei wohl die Rolle,
die die Schule z. B. in der sozialen Heilmittellehre des manchesterlichen Frei¬
sinns von jeher spielt, nicht genügend beachtet. Das nicht hoch genug anzu¬
erkennende Streben in unserm Arbeiter- und Bürgerstande, den Kindern eine
gute Schulbildung zu verschaffen, verdiente doch recht scharf unterschieden zu
werden von der Überschätzung der „höhern" Schulbildung, die sich bei den
sozialistisch „Emporentwickelten" ebenso findet wie bei den Frauenemanzipa-
toren. Das Verständnis und die Wertschätzung der Gedankenwelt und des
Bildungsstandes der „unwissenschaftlichen" Arbeiter und der ungelehrten Frauen
aller Stände in ihrer so berechtigten Eigentümlichkeit wieder zu Ehren zu
bringen, wäre sicher eine verdienstliche Aufgabe des Evangelisch-sozialen Kon-
gresses. Leider liegt sie ihm, wie es scheint, noch himmelweit fern. Soviel
über den Inhalt der Antworten. Aus den Betrachtungen, die Rade daran
anknüpfte, und der Debatte sei noch folgendes kurz hervorgehoben.

Bemerkenswert war vor allem, wie Rade sich zu den, wie er sagte, viel
versenken sozialen Pastoren stellte. Er will von der politischen Thätigkeit
eines Nauman, eines Göhre nicht reden, aber das einfache Dasein dieser
Leute, daß sie als Pastoren so geredet und so gehandelt hätten, das sei eine
Brücke, vielleicht für viele Arbeiter die stärkste Brücke, die sie uoch verbinde
mit dem Christentum, und er glaube, die Verantwortung aller Instanzen sei
sehr groß, die nichts andres zu thun hätten, als diese Brücke womöglich ab¬
zubrechen. Rade wird sich nicht beschweren dürfen, wenn manche in dieser Auf¬
fassung doch eine etwas zu starke Dosis von Opportunismus finden, die sogar
Gefahr läuft, dem Jesuitismus sehr nahe zu kommen. Mit den Wölfen zu
heulen ist ja von sprichwörtlichen Nutzen, und die Jesuiten haben das immer
meisterlich verstanden. Das Heulen durch Naumann und Göhre besorgen zu
lassen, ohne selbst mit zu heulen, wäre vollends ein Meisterstück kirchlicher
Diplomatie. Rade meinte es wohl nicht so böse, aber mit dem Feuer soll
man nicht spielen. Wer dem Jesuitismus den kleinen Finger giebt, verfällt
ihm leicht mit Haut und Haar und verscherzt alles Vertrauen. Wie unvor¬
sichtig er in dieser Beziehung ist, das beweist er durch den ungeheuerlichen,
Naumann entlehnten Satz, mit dem er den Hinweis auf die politischen Pastoren


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[0360] Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses logenste Kind ist für Fremde ein Ausbund von Wahrheit: »Meine Kinder thun so was nicht!«" Nur bei der zwölften Frage: Wie muß ein tüchtiger Mensch beschaffen sein? hat Rade aus allen achtundvierzig Antworten etwas mitgeteilt. Man sieht, daß vieles der Ausdruck eignen Denkens ist, vieles ist aber auch an¬ gelernte Phrase. Die Frage war vielleicht zu schwer gestellt. Man muß es im ganzen durchlesen, um urteilen zu können. Wenn Rade die in den Ant¬ worten hervortretende „ausnehmende Schätzung der Schulbildung" auffällt, und er darüber sagt: „Kein andrer Stand würde sie bei der Zeichnung seines Ideals eine solche Rolle spielen lassen —" so hat er dabei wohl die Rolle, die die Schule z. B. in der sozialen Heilmittellehre des manchesterlichen Frei¬ sinns von jeher spielt, nicht genügend beachtet. Das nicht hoch genug anzu¬ erkennende Streben in unserm Arbeiter- und Bürgerstande, den Kindern eine gute Schulbildung zu verschaffen, verdiente doch recht scharf unterschieden zu werden von der Überschätzung der „höhern" Schulbildung, die sich bei den sozialistisch „Emporentwickelten" ebenso findet wie bei den Frauenemanzipa- toren. Das Verständnis und die Wertschätzung der Gedankenwelt und des Bildungsstandes der „unwissenschaftlichen" Arbeiter und der ungelehrten Frauen aller Stände in ihrer so berechtigten Eigentümlichkeit wieder zu Ehren zu bringen, wäre sicher eine verdienstliche Aufgabe des Evangelisch-sozialen Kon- gresses. Leider liegt sie ihm, wie es scheint, noch himmelweit fern. Soviel über den Inhalt der Antworten. Aus den Betrachtungen, die Rade daran anknüpfte, und der Debatte sei noch folgendes kurz hervorgehoben. Bemerkenswert war vor allem, wie Rade sich zu den, wie er sagte, viel versenken sozialen Pastoren stellte. Er will von der politischen Thätigkeit eines Nauman, eines Göhre nicht reden, aber das einfache Dasein dieser Leute, daß sie als Pastoren so geredet und so gehandelt hätten, das sei eine Brücke, vielleicht für viele Arbeiter die stärkste Brücke, die sie uoch verbinde mit dem Christentum, und er glaube, die Verantwortung aller Instanzen sei sehr groß, die nichts andres zu thun hätten, als diese Brücke womöglich ab¬ zubrechen. Rade wird sich nicht beschweren dürfen, wenn manche in dieser Auf¬ fassung doch eine etwas zu starke Dosis von Opportunismus finden, die sogar Gefahr läuft, dem Jesuitismus sehr nahe zu kommen. Mit den Wölfen zu heulen ist ja von sprichwörtlichen Nutzen, und die Jesuiten haben das immer meisterlich verstanden. Das Heulen durch Naumann und Göhre besorgen zu lassen, ohne selbst mit zu heulen, wäre vollends ein Meisterstück kirchlicher Diplomatie. Rade meinte es wohl nicht so böse, aber mit dem Feuer soll man nicht spielen. Wer dem Jesuitismus den kleinen Finger giebt, verfällt ihm leicht mit Haut und Haar und verscherzt alles Vertrauen. Wie unvor¬ sichtig er in dieser Beziehung ist, das beweist er durch den ungeheuerlichen, Naumann entlehnten Satz, mit dem er den Hinweis auf die politischen Pastoren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/360>, abgerufen am 01.11.2024.