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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

grenzenlosen Phantasie? Woher das Schuldgefühl, das ihn am Ende seiner
Tage unter das Kreuz Christi zwingt? Was ist sein Verhältnis zur Frauen¬
welt? Schließlich sind die Tiefen einer solchen Persönlichkeit nicht zu ergründen,
auszumessen, in volle Beleuchtung zu rücken. Ein ungefähres Bild muß uns
genügen.

Alles in allem erscheint er in seinen Gedichten wie in seinen Werken als
ein Mann, der, mit einer heißen Leidenschaft für die Schönheit, mit einer außer¬
ordentlichen Empfänglichkeit für die Reize der menschlichen Gestalt ausgestattet,
seine ganze Energie von Jugend auf bis zum Ende daran setzt, diese Leiden¬
schaft in Thaten der Kunst zu verwandeln. Was er vermag, stellt er in den
Dienst der einen Göttin, die er als iäolo und rnonaroei. seiner Seele feiert.
Ob die Sonette einen Signore oder eine Donna anreden, zuletzt ist es die
über den Sternen thronende Schönheit, die er in ihren Abbildern und Bei¬
spielen zu fassen sucht, die seine Seele in Flammen setzt, seinen Kopf zu ruhe¬
losen Grübeleien zwingt, Phantasie und Willen zu den höchsten Zielen der
Kunst befeuert. Sie ist es, vor der er sich demütigt, die ihn beseligt und
vernichtet, die er vollkommen erst nach dein Tode zu erkennen hofft, und an
der er zuletzt verzweifelt.

Daß in Michelangelos Gedichten etwas besondres sei, das erkannten schon
die Zeitgenossen. "Er weiß etwas zu sagen, Ihr macht bloße Worte" -- ol
äicze ooss v voi xg-rolo, so sagte Franz Berni in einem Gedicht an Sebastian
del Piombo, das ganz dem Preise Michelangelos gewidmet ist. Bei der pomp¬
haften Totenfeier, die die Künstlerschaft von Florenz nach dem Hingange Michel¬
angelos in San Lorenzo veranstaltete, war unter den Symbolen, die den Ruhm
des großen Toten vergegenwärtigen sollten, auch die Dichtkunst nicht vergessen.
An den vier Ecken des Katafalks waren vier Statuen aufgestellt, die die Archi¬
tektur, die Skulptur, die Malerei und die Dichtkunst darstellte", und die Felder
der vier Seiten waren mit Malereien geschmückt, die auf eben diese Künste
Bezug hatten: die eine von ihnen stellte Michelangelo dar in dichterisches Nach¬
sinnen vertieft, und ringsum schlangen die Musen ihren Reigen, geführt von
Apollo", der einen Kranz auf Michelangelos Haupt drückte -- helle, heidnische
Sinnbilder, mit denen die Kunst der Renaissance ihrem großen Führer noch
einmal ihre Huldigung aussprach, während ringsum die Welt sich verwandelt
hatte unter dem Druck angstvoller religiöser Anfechtungen und uuter den Ketzer¬
W. L. gerichten einer unerbittlichen Inquisition.




Die Gedichte Michelangelos

grenzenlosen Phantasie? Woher das Schuldgefühl, das ihn am Ende seiner
Tage unter das Kreuz Christi zwingt? Was ist sein Verhältnis zur Frauen¬
welt? Schließlich sind die Tiefen einer solchen Persönlichkeit nicht zu ergründen,
auszumessen, in volle Beleuchtung zu rücken. Ein ungefähres Bild muß uns
genügen.

Alles in allem erscheint er in seinen Gedichten wie in seinen Werken als
ein Mann, der, mit einer heißen Leidenschaft für die Schönheit, mit einer außer¬
ordentlichen Empfänglichkeit für die Reize der menschlichen Gestalt ausgestattet,
seine ganze Energie von Jugend auf bis zum Ende daran setzt, diese Leiden¬
schaft in Thaten der Kunst zu verwandeln. Was er vermag, stellt er in den
Dienst der einen Göttin, die er als iäolo und rnonaroei. seiner Seele feiert.
Ob die Sonette einen Signore oder eine Donna anreden, zuletzt ist es die
über den Sternen thronende Schönheit, die er in ihren Abbildern und Bei¬
spielen zu fassen sucht, die seine Seele in Flammen setzt, seinen Kopf zu ruhe¬
losen Grübeleien zwingt, Phantasie und Willen zu den höchsten Zielen der
Kunst befeuert. Sie ist es, vor der er sich demütigt, die ihn beseligt und
vernichtet, die er vollkommen erst nach dein Tode zu erkennen hofft, und an
der er zuletzt verzweifelt.

Daß in Michelangelos Gedichten etwas besondres sei, das erkannten schon
die Zeitgenossen. „Er weiß etwas zu sagen, Ihr macht bloße Worte" — ol
äicze ooss v voi xg-rolo, so sagte Franz Berni in einem Gedicht an Sebastian
del Piombo, das ganz dem Preise Michelangelos gewidmet ist. Bei der pomp¬
haften Totenfeier, die die Künstlerschaft von Florenz nach dem Hingange Michel¬
angelos in San Lorenzo veranstaltete, war unter den Symbolen, die den Ruhm
des großen Toten vergegenwärtigen sollten, auch die Dichtkunst nicht vergessen.
An den vier Ecken des Katafalks waren vier Statuen aufgestellt, die die Archi¬
tektur, die Skulptur, die Malerei und die Dichtkunst darstellte», und die Felder
der vier Seiten waren mit Malereien geschmückt, die auf eben diese Künste
Bezug hatten: die eine von ihnen stellte Michelangelo dar in dichterisches Nach¬
sinnen vertieft, und ringsum schlangen die Musen ihren Reigen, geführt von
Apollo», der einen Kranz auf Michelangelos Haupt drückte — helle, heidnische
Sinnbilder, mit denen die Kunst der Renaissance ihrem großen Führer noch
einmal ihre Huldigung aussprach, während ringsum die Welt sich verwandelt
hatte unter dem Druck angstvoller religiöser Anfechtungen und uuter den Ketzer¬
W. L. gerichten einer unerbittlichen Inquisition.




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[0576] Die Gedichte Michelangelos grenzenlosen Phantasie? Woher das Schuldgefühl, das ihn am Ende seiner Tage unter das Kreuz Christi zwingt? Was ist sein Verhältnis zur Frauen¬ welt? Schließlich sind die Tiefen einer solchen Persönlichkeit nicht zu ergründen, auszumessen, in volle Beleuchtung zu rücken. Ein ungefähres Bild muß uns genügen. Alles in allem erscheint er in seinen Gedichten wie in seinen Werken als ein Mann, der, mit einer heißen Leidenschaft für die Schönheit, mit einer außer¬ ordentlichen Empfänglichkeit für die Reize der menschlichen Gestalt ausgestattet, seine ganze Energie von Jugend auf bis zum Ende daran setzt, diese Leiden¬ schaft in Thaten der Kunst zu verwandeln. Was er vermag, stellt er in den Dienst der einen Göttin, die er als iäolo und rnonaroei. seiner Seele feiert. Ob die Sonette einen Signore oder eine Donna anreden, zuletzt ist es die über den Sternen thronende Schönheit, die er in ihren Abbildern und Bei¬ spielen zu fassen sucht, die seine Seele in Flammen setzt, seinen Kopf zu ruhe¬ losen Grübeleien zwingt, Phantasie und Willen zu den höchsten Zielen der Kunst befeuert. Sie ist es, vor der er sich demütigt, die ihn beseligt und vernichtet, die er vollkommen erst nach dein Tode zu erkennen hofft, und an der er zuletzt verzweifelt. Daß in Michelangelos Gedichten etwas besondres sei, das erkannten schon die Zeitgenossen. „Er weiß etwas zu sagen, Ihr macht bloße Worte" — ol äicze ooss v voi xg-rolo, so sagte Franz Berni in einem Gedicht an Sebastian del Piombo, das ganz dem Preise Michelangelos gewidmet ist. Bei der pomp¬ haften Totenfeier, die die Künstlerschaft von Florenz nach dem Hingange Michel¬ angelos in San Lorenzo veranstaltete, war unter den Symbolen, die den Ruhm des großen Toten vergegenwärtigen sollten, auch die Dichtkunst nicht vergessen. An den vier Ecken des Katafalks waren vier Statuen aufgestellt, die die Archi¬ tektur, die Skulptur, die Malerei und die Dichtkunst darstellte», und die Felder der vier Seiten waren mit Malereien geschmückt, die auf eben diese Künste Bezug hatten: die eine von ihnen stellte Michelangelo dar in dichterisches Nach¬ sinnen vertieft, und ringsum schlangen die Musen ihren Reigen, geführt von Apollo», der einen Kranz auf Michelangelos Haupt drückte — helle, heidnische Sinnbilder, mit denen die Kunst der Renaissance ihrem großen Führer noch einmal ihre Huldigung aussprach, während ringsum die Welt sich verwandelt hatte unter dem Druck angstvoller religiöser Anfechtungen und uuter den Ketzer¬ W. L. gerichten einer unerbittlichen Inquisition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/576>, abgerufen am 16.05.2024.