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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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zu thun hat, gar nicht vorhanden. Denn erstens giebt es für sie gar keine
Verhältnisse, in denen irgend etwas nach christlichen Grundsätzen zu ordnen
wäre; sie bilden zusammen einen Sumpf, keine menschliche Gesellschaft. Und
zweitens wird von den menschlichgestaltigen Schlammklümpchen, die den Sumpf
bilden, die frohe Votschaft des Neuen Testaments gar nicht verstanden; sie
müßten erst aus ihrem^ untermenschlichen Dasein emporgehoben und zu Menschen
gemacht werden, wenn sie fähig werden sollten, der Predigt vom christlichen
Übermenschentum auch nur einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Daß diese Art von Erlösung versucht werde, dazu kann ja nun freilich christ¬
liche Liebe treiben, aber die Mittel der Erlösung einer Volksmasse aus unter¬
menschlichen Zustünden sind durchaus weltlicher, volkswirtschaftlicher Natur.
Der Verfasser täuscht sich auch, wenn er glaubt, daß es das Christentum sei,
was die Sklaverei beseitigt habe. Die mittelalterliche Hörigkeit ist schon im
römischen Reiche vorbereitet worden durch die Institutionen des Kolonats und
der Alsoas g-äserixtio, allerdings in den ersten Jahrhunderten der christlichen
Zeitrechnung, aber in rein heidnischen Kreisen, die vom Christentum gar keine
Kenntnis hatten, bloß infolge des Umstandes, daß die Bewirtschaftung der
Latifundien mit Sklaven zuerst unrentabel und zuletzt unmöglich geworden war.
Und so oft in der christlichen Zeit die wirtschaftlichen Bedingungen für die
Sklaverei wiederkehrten, ist diese selbst wiedergekehrt. Hätten sich nicht die
Engländer im Anfange unsers Jahrhunderts, nachdem sie den größten Teil
ihres eignen Plantagenbesitzes verloren hatten, durch die von ihren Konkur¬
renten beibehaltene Sklaverei geschädigt gefühlt, so würden sie niemals für
die Abschaffung der Sklaverei geeifert haben, und hätte nicht der größte und
geistig regsamste Teil der Bewohner der Vereinigten Staaten ein materielles
Interesse an der Abschaffung der Sklaverei gehabt, so würde diese allen Me¬
thodistenpredigern und allen gerührten Lesern von Onkel Toms Hütte zum
Trotz heute noch fortbestehen. Darum wird der Menschenfreund zwar die
Hilfe, die ihm die christlichen Prediger durch Verbreitung einer seinen Be¬
strebungen günstigen Gesinnung leisten, dankbar annehmen, von dieser Ge¬
sinnung allein aber die zum Wohle der Menschheit notwendigen Umgestaltungen
niemals erwarten. Gewiß verkennt der Geistliche seine Pflicht, der auf der
Kanzel Nationalökonomie treibt, aber viel Schaden kann er nicht anrichten.
Dagegen würde ein leitender Staatsmann, der den christlichen Prediger spielen
und darüber das Studium der wirtschaftlichen Zustände und ihrer Ursachen
versäumen wollte, gerade solchen nicht wieder gut zu machenden Schaden an¬
richten, wie die spanischen Könige, die sich vor allem zur Ausrottung der
Ketzer berufen glaubten, und die Eiferer für die drei Arten von Rechtgläubigkeit
unter den deutschen Fürsten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts.
Und so ist denn zwar alles, was unser Lutheraner über diesen Gegenstand
sagt, wahr und schön, z. B. daß die Kirche nicht berufen sei, dem Kapitales-


Lin Neulutherauer

zu thun hat, gar nicht vorhanden. Denn erstens giebt es für sie gar keine
Verhältnisse, in denen irgend etwas nach christlichen Grundsätzen zu ordnen
wäre; sie bilden zusammen einen Sumpf, keine menschliche Gesellschaft. Und
zweitens wird von den menschlichgestaltigen Schlammklümpchen, die den Sumpf
bilden, die frohe Votschaft des Neuen Testaments gar nicht verstanden; sie
müßten erst aus ihrem^ untermenschlichen Dasein emporgehoben und zu Menschen
gemacht werden, wenn sie fähig werden sollten, der Predigt vom christlichen
Übermenschentum auch nur einen Augenblick ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Daß diese Art von Erlösung versucht werde, dazu kann ja nun freilich christ¬
liche Liebe treiben, aber die Mittel der Erlösung einer Volksmasse aus unter¬
menschlichen Zustünden sind durchaus weltlicher, volkswirtschaftlicher Natur.
Der Verfasser täuscht sich auch, wenn er glaubt, daß es das Christentum sei,
was die Sklaverei beseitigt habe. Die mittelalterliche Hörigkeit ist schon im
römischen Reiche vorbereitet worden durch die Institutionen des Kolonats und
der Alsoas g-äserixtio, allerdings in den ersten Jahrhunderten der christlichen
Zeitrechnung, aber in rein heidnischen Kreisen, die vom Christentum gar keine
Kenntnis hatten, bloß infolge des Umstandes, daß die Bewirtschaftung der
Latifundien mit Sklaven zuerst unrentabel und zuletzt unmöglich geworden war.
Und so oft in der christlichen Zeit die wirtschaftlichen Bedingungen für die
Sklaverei wiederkehrten, ist diese selbst wiedergekehrt. Hätten sich nicht die
Engländer im Anfange unsers Jahrhunderts, nachdem sie den größten Teil
ihres eignen Plantagenbesitzes verloren hatten, durch die von ihren Konkur¬
renten beibehaltene Sklaverei geschädigt gefühlt, so würden sie niemals für
die Abschaffung der Sklaverei geeifert haben, und hätte nicht der größte und
geistig regsamste Teil der Bewohner der Vereinigten Staaten ein materielles
Interesse an der Abschaffung der Sklaverei gehabt, so würde diese allen Me¬
thodistenpredigern und allen gerührten Lesern von Onkel Toms Hütte zum
Trotz heute noch fortbestehen. Darum wird der Menschenfreund zwar die
Hilfe, die ihm die christlichen Prediger durch Verbreitung einer seinen Be¬
strebungen günstigen Gesinnung leisten, dankbar annehmen, von dieser Ge¬
sinnung allein aber die zum Wohle der Menschheit notwendigen Umgestaltungen
niemals erwarten. Gewiß verkennt der Geistliche seine Pflicht, der auf der
Kanzel Nationalökonomie treibt, aber viel Schaden kann er nicht anrichten.
Dagegen würde ein leitender Staatsmann, der den christlichen Prediger spielen
und darüber das Studium der wirtschaftlichen Zustände und ihrer Ursachen
versäumen wollte, gerade solchen nicht wieder gut zu machenden Schaden an¬
richten, wie die spanischen Könige, die sich vor allem zur Ausrottung der
Ketzer berufen glaubten, und die Eiferer für die drei Arten von Rechtgläubigkeit
unter den deutschen Fürsten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts.
Und so ist denn zwar alles, was unser Lutheraner über diesen Gegenstand
sagt, wahr und schön, z. B. daß die Kirche nicht berufen sei, dem Kapitales-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/110>, abgerufen am 22.05.2024.