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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Der Rede Sinn

Heute liegt ein Buch vor mir, in dem jemand mit großem Ernst auf das
Unheil seineu Finger legt, das der Mißbrauch dieser Latitüde und des relative"
Sinns der Worte in unserm jetzigen Leben anrichtet. Ein philosophisch ge¬
bildeter Mann, dessen Führer uuter den frühern Kant, unter den jetzt lebenden
Wundt ist, ein Mann von weiten Kenntnissen und reicher Lebenserfahrung
giebt mit dem oben angedeuteten, nächsten praktischen Zwecke seine Welt¬
anschauung und verlangt, daß sie von andern geprüft werde, ein Verlangen,
zu dem er nach dem Inhalt und der Form seines gedankenreichen und vor¬
züglich geschriebnen Buches vollauf berechtigt erscheinen muß. Das Buch hat
den Titel: Rechte und Pflichten der Kritik, philosophische Laien¬
predigten für das Volk der Denker von C. E. Nasius (Leipzig, Engelmann)
und zerfällt in drei Abschnitte: die intellektuelle oder logische, die ästhetische
und die ethische Kritik, in deren einzelnen Kapiteln von dem gemeinen Gebrauch
und dem strengen Begriff der vorzugsweise übliche" Ausdrücke gehandelt wird.
Alles in diesem vortrefflichen Buche ist gleich lesenswert, eine einigermaßen
eingehende Prüfung würde aber ein neues Buch nötig machen. Wir können
nur einzelnes herausheben und dadurch unsre Leser veranlassen, aus der Quelle
selbst zu schöpfen.

Aller Irrtum, meint der Verfasser, beruht darauf, daß, was ungewiß,
also Gegenstand des Glaubens und Zweifels ist, für gewiß ausgegeben wird.
Absolut, aber assertorisch gewiß ist, was auch anders sein könnte; absolut,
aber apodiktisch gewiß, d. i. notwendig, was nicht anders sein kann. Der
Glaube ist nicht unvollkommnes Wissen, etwas minderwertiges, sondern nur
etwas vom Wissen verschiednes. Dem Glauben wohnt eine Thatkraft inne,
das Wissen ist kalt und unfruchtbar. Der Glaube spielt in Leben und Wissen¬
schaft eine viel größere Rolle, als man meint, unsre intensivsten Gefühle sind
nicht an das Wissen, das, wenn einmal festgestellt, indifferent ist, sondern an
den Glauben geknüpft. Ohne ihn würde man in der strengsten aller Wissen¬
schaften, der Mathematik, nie über die Axiome hinauskommen; die Resultate
sind gewiß, aber auf dem ganzen Wege von einem gegebnen Satze bis zum er¬
brachten Beweise eiues neuen regiert der Glaube, der die Richtung zeigen muß.
Das Gebiet des Glaubens ist groß, das des Wissens sehr klein. Das wissenschaft¬
liche Kausalitätsgesetz mag nützlich sein, wie mancher andre Glaubenssatz, aber
absolute Gewißheit hat es nicht. Die mechanische Kausalitätslehre kann
günstigstenfalls Physische Wirkungen aus physischen Ursachen ableiten, das
unmittelbar Gewisse, die seelischen Vorgänge berührt sie nicht. Materie oder
"Energien" hat kein Mensch gesehen, sie sind nur Ausdrücke für etwas un-
erklürbares; wer sie gebraucht, hat das Gebiet der Thatsache" verlassen und
bewegt sich in Spekulationen. Auch die Unterscheidung von Wunderbarem und
Natürlichem, die für wissenschaftlich gilt, besteht nicht zu Recht. Die Definition
des Wunders, nach der es den Naturgesetzen widerspricht oder das Kausalitäts-


Der Rede Sinn

Heute liegt ein Buch vor mir, in dem jemand mit großem Ernst auf das
Unheil seineu Finger legt, das der Mißbrauch dieser Latitüde und des relative«
Sinns der Worte in unserm jetzigen Leben anrichtet. Ein philosophisch ge¬
bildeter Mann, dessen Führer uuter den frühern Kant, unter den jetzt lebenden
Wundt ist, ein Mann von weiten Kenntnissen und reicher Lebenserfahrung
giebt mit dem oben angedeuteten, nächsten praktischen Zwecke seine Welt¬
anschauung und verlangt, daß sie von andern geprüft werde, ein Verlangen,
zu dem er nach dem Inhalt und der Form seines gedankenreichen und vor¬
züglich geschriebnen Buches vollauf berechtigt erscheinen muß. Das Buch hat
den Titel: Rechte und Pflichten der Kritik, philosophische Laien¬
predigten für das Volk der Denker von C. E. Nasius (Leipzig, Engelmann)
und zerfällt in drei Abschnitte: die intellektuelle oder logische, die ästhetische
und die ethische Kritik, in deren einzelnen Kapiteln von dem gemeinen Gebrauch
und dem strengen Begriff der vorzugsweise übliche» Ausdrücke gehandelt wird.
Alles in diesem vortrefflichen Buche ist gleich lesenswert, eine einigermaßen
eingehende Prüfung würde aber ein neues Buch nötig machen. Wir können
nur einzelnes herausheben und dadurch unsre Leser veranlassen, aus der Quelle
selbst zu schöpfen.

Aller Irrtum, meint der Verfasser, beruht darauf, daß, was ungewiß,
also Gegenstand des Glaubens und Zweifels ist, für gewiß ausgegeben wird.
Absolut, aber assertorisch gewiß ist, was auch anders sein könnte; absolut,
aber apodiktisch gewiß, d. i. notwendig, was nicht anders sein kann. Der
Glaube ist nicht unvollkommnes Wissen, etwas minderwertiges, sondern nur
etwas vom Wissen verschiednes. Dem Glauben wohnt eine Thatkraft inne,
das Wissen ist kalt und unfruchtbar. Der Glaube spielt in Leben und Wissen¬
schaft eine viel größere Rolle, als man meint, unsre intensivsten Gefühle sind
nicht an das Wissen, das, wenn einmal festgestellt, indifferent ist, sondern an
den Glauben geknüpft. Ohne ihn würde man in der strengsten aller Wissen¬
schaften, der Mathematik, nie über die Axiome hinauskommen; die Resultate
sind gewiß, aber auf dem ganzen Wege von einem gegebnen Satze bis zum er¬
brachten Beweise eiues neuen regiert der Glaube, der die Richtung zeigen muß.
Das Gebiet des Glaubens ist groß, das des Wissens sehr klein. Das wissenschaft¬
liche Kausalitätsgesetz mag nützlich sein, wie mancher andre Glaubenssatz, aber
absolute Gewißheit hat es nicht. Die mechanische Kausalitätslehre kann
günstigstenfalls Physische Wirkungen aus physischen Ursachen ableiten, das
unmittelbar Gewisse, die seelischen Vorgänge berührt sie nicht. Materie oder
„Energien" hat kein Mensch gesehen, sie sind nur Ausdrücke für etwas un-
erklürbares; wer sie gebraucht, hat das Gebiet der Thatsache» verlassen und
bewegt sich in Spekulationen. Auch die Unterscheidung von Wunderbarem und
Natürlichem, die für wissenschaftlich gilt, besteht nicht zu Recht. Die Definition
des Wunders, nach der es den Naturgesetzen widerspricht oder das Kausalitäts-


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[0112] Der Rede Sinn Heute liegt ein Buch vor mir, in dem jemand mit großem Ernst auf das Unheil seineu Finger legt, das der Mißbrauch dieser Latitüde und des relative« Sinns der Worte in unserm jetzigen Leben anrichtet. Ein philosophisch ge¬ bildeter Mann, dessen Führer uuter den frühern Kant, unter den jetzt lebenden Wundt ist, ein Mann von weiten Kenntnissen und reicher Lebenserfahrung giebt mit dem oben angedeuteten, nächsten praktischen Zwecke seine Welt¬ anschauung und verlangt, daß sie von andern geprüft werde, ein Verlangen, zu dem er nach dem Inhalt und der Form seines gedankenreichen und vor¬ züglich geschriebnen Buches vollauf berechtigt erscheinen muß. Das Buch hat den Titel: Rechte und Pflichten der Kritik, philosophische Laien¬ predigten für das Volk der Denker von C. E. Nasius (Leipzig, Engelmann) und zerfällt in drei Abschnitte: die intellektuelle oder logische, die ästhetische und die ethische Kritik, in deren einzelnen Kapiteln von dem gemeinen Gebrauch und dem strengen Begriff der vorzugsweise übliche» Ausdrücke gehandelt wird. Alles in diesem vortrefflichen Buche ist gleich lesenswert, eine einigermaßen eingehende Prüfung würde aber ein neues Buch nötig machen. Wir können nur einzelnes herausheben und dadurch unsre Leser veranlassen, aus der Quelle selbst zu schöpfen. Aller Irrtum, meint der Verfasser, beruht darauf, daß, was ungewiß, also Gegenstand des Glaubens und Zweifels ist, für gewiß ausgegeben wird. Absolut, aber assertorisch gewiß ist, was auch anders sein könnte; absolut, aber apodiktisch gewiß, d. i. notwendig, was nicht anders sein kann. Der Glaube ist nicht unvollkommnes Wissen, etwas minderwertiges, sondern nur etwas vom Wissen verschiednes. Dem Glauben wohnt eine Thatkraft inne, das Wissen ist kalt und unfruchtbar. Der Glaube spielt in Leben und Wissen¬ schaft eine viel größere Rolle, als man meint, unsre intensivsten Gefühle sind nicht an das Wissen, das, wenn einmal festgestellt, indifferent ist, sondern an den Glauben geknüpft. Ohne ihn würde man in der strengsten aller Wissen¬ schaften, der Mathematik, nie über die Axiome hinauskommen; die Resultate sind gewiß, aber auf dem ganzen Wege von einem gegebnen Satze bis zum er¬ brachten Beweise eiues neuen regiert der Glaube, der die Richtung zeigen muß. Das Gebiet des Glaubens ist groß, das des Wissens sehr klein. Das wissenschaft¬ liche Kausalitätsgesetz mag nützlich sein, wie mancher andre Glaubenssatz, aber absolute Gewißheit hat es nicht. Die mechanische Kausalitätslehre kann günstigstenfalls Physische Wirkungen aus physischen Ursachen ableiten, das unmittelbar Gewisse, die seelischen Vorgänge berührt sie nicht. Materie oder „Energien" hat kein Mensch gesehen, sie sind nur Ausdrücke für etwas un- erklürbares; wer sie gebraucht, hat das Gebiet der Thatsache» verlassen und bewegt sich in Spekulationen. Auch die Unterscheidung von Wunderbarem und Natürlichem, die für wissenschaftlich gilt, besteht nicht zu Recht. Die Definition des Wunders, nach der es den Naturgesetzen widerspricht oder das Kausalitäts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/112>, abgerufen am 15.05.2024.