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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

dramatische Geist des Jahrhunderts." Umso mehr in der Dichtung, und zwar
nicht erst seit Hauptmann. Und was uns deutscheu Bildungsphilistern einiger¬
maßen die Freude an diesem Genusse verdirbt, daß uns das jüngste Deutsch¬
land die Küchenreste der Fremden vorsetzt, dieser "internationale Charakter der
neuen Kunst" erfüllt den Verfasser umgekehrt mit Freude und mit Vertrauen
zu der modernen Dichtung, die diesen Weg gehen "mußte." "Der französische
Milieu-Roman, der psychologische Roman der Russen, die dramatische Gesell¬
schaftskritik Ibsens, ist das nicht wieder ein Hegelscher Dreitakt: Außenwelt,
Janenwelt und die Jchwerduug beider im Drama?" Nun haben zwar von
den jungdeutschen Freunden des Verfassers nur wenige ein Drama geschrieben,
aber Dramatiker sind sie dennoch, in ihrer Ausdrucksweise, in ihrer Art zu
sehen, sie haben "mikroskopische Augen." Wo man früher gemütlich von der
Tugend oder einem Laster sprach, da sehen diese Tausendkünstler ein ganzes
Heer streitender Empfindungen. Soviel auch über den Darwinismus in der
Kunst geschrieben worden sei, an das Mikroskop, meint der Verfasser, hätte
in diesem Zusammenhange noch keiner gedacht. Richtiger wäre es gewesen,
an die Bedeutung der Photographie für die Kunstübung zu erinnern, die doch
allen klar und einleuchtend sein dürfte. Denen gegenüber, die über den müden
Pessimismus dieser modernen Dichtung und ihrer "feinen Seelenmalerei" ver¬
ächtlich die Achseln zucken, meint er, keiner könne sich selber besser beobachten
und, was in seiner Seele vorgeht, aufmerksamer belauschen, als wenn er
in -- katzenjämmerlicher Stimmung sei. Wer über diesen poetischen Katzen¬
jammer näheres erfahren will, der lese dieses Buch. "Ich gebe keine Ge¬
schichte. Denn wie sollte man heute, wo alles noch im ersten Werden ist,
an eine Geschichte der modernen Dichtung denken? Das Werdende zu spüren,
zu genießen, zu verstehen, das ist das schöne Vorrecht, aber auch die heilige
Pflicht der Zeitgenossen einer großen Kunstbewegung. Und nur sür die, die
schauen, genießen, verstehen wollen, habe ich das Buch geschrieben."

Dieses Hinweisen auf das Werden, das Kommende, die Zukunft ist allen
Modernen gemeinsam, es ist, als wollten sie dadurch ihre Leistungen aus der
Schußweite der kritischen Beurteilung rücken. Der Verfasser hebt wiederholt
hervor, daß die Kunst eine späte Kulturblüte sei, er sieht in den Dichtungen
Ibsens, Hauptmanns und Maeterlincks nur die Vorstufen, seine Analysen
können dem, der nur Fertiges zu genießen versteht, keinen Genuß vermitteln.
Höchstens kann es noch von einigem Interesse sein, über die Grundsätze der
Zukunftsdichtung etwas zu erfahren.

Während dem lyrischen und epischen Dichter die Schönheit des Ausdrucks
das oberste Gesetz sei, sei dem Dramatiker das Wort nicht nur Darstellungs¬
mittel, sondern zugleich Objekt, er stelle gesprochne Rede dar, so getreu wie
möglich, mit aller ihrer Unbeholfenheit, allen ihren Stockungen und Ver¬
renkungen; als Darstellungsmittel dürfe das Wort stilisirt werden, als Objekt


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

dramatische Geist des Jahrhunderts." Umso mehr in der Dichtung, und zwar
nicht erst seit Hauptmann. Und was uns deutscheu Bildungsphilistern einiger¬
maßen die Freude an diesem Genusse verdirbt, daß uns das jüngste Deutsch¬
land die Küchenreste der Fremden vorsetzt, dieser „internationale Charakter der
neuen Kunst" erfüllt den Verfasser umgekehrt mit Freude und mit Vertrauen
zu der modernen Dichtung, die diesen Weg gehen „mußte." „Der französische
Milieu-Roman, der psychologische Roman der Russen, die dramatische Gesell¬
schaftskritik Ibsens, ist das nicht wieder ein Hegelscher Dreitakt: Außenwelt,
Janenwelt und die Jchwerduug beider im Drama?" Nun haben zwar von
den jungdeutschen Freunden des Verfassers nur wenige ein Drama geschrieben,
aber Dramatiker sind sie dennoch, in ihrer Ausdrucksweise, in ihrer Art zu
sehen, sie haben „mikroskopische Augen." Wo man früher gemütlich von der
Tugend oder einem Laster sprach, da sehen diese Tausendkünstler ein ganzes
Heer streitender Empfindungen. Soviel auch über den Darwinismus in der
Kunst geschrieben worden sei, an das Mikroskop, meint der Verfasser, hätte
in diesem Zusammenhange noch keiner gedacht. Richtiger wäre es gewesen,
an die Bedeutung der Photographie für die Kunstübung zu erinnern, die doch
allen klar und einleuchtend sein dürfte. Denen gegenüber, die über den müden
Pessimismus dieser modernen Dichtung und ihrer „feinen Seelenmalerei" ver¬
ächtlich die Achseln zucken, meint er, keiner könne sich selber besser beobachten
und, was in seiner Seele vorgeht, aufmerksamer belauschen, als wenn er
in — katzenjämmerlicher Stimmung sei. Wer über diesen poetischen Katzen¬
jammer näheres erfahren will, der lese dieses Buch. „Ich gebe keine Ge¬
schichte. Denn wie sollte man heute, wo alles noch im ersten Werden ist,
an eine Geschichte der modernen Dichtung denken? Das Werdende zu spüren,
zu genießen, zu verstehen, das ist das schöne Vorrecht, aber auch die heilige
Pflicht der Zeitgenossen einer großen Kunstbewegung. Und nur sür die, die
schauen, genießen, verstehen wollen, habe ich das Buch geschrieben."

Dieses Hinweisen auf das Werden, das Kommende, die Zukunft ist allen
Modernen gemeinsam, es ist, als wollten sie dadurch ihre Leistungen aus der
Schußweite der kritischen Beurteilung rücken. Der Verfasser hebt wiederholt
hervor, daß die Kunst eine späte Kulturblüte sei, er sieht in den Dichtungen
Ibsens, Hauptmanns und Maeterlincks nur die Vorstufen, seine Analysen
können dem, der nur Fertiges zu genießen versteht, keinen Genuß vermitteln.
Höchstens kann es noch von einigem Interesse sein, über die Grundsätze der
Zukunftsdichtung etwas zu erfahren.

Während dem lyrischen und epischen Dichter die Schönheit des Ausdrucks
das oberste Gesetz sei, sei dem Dramatiker das Wort nicht nur Darstellungs¬
mittel, sondern zugleich Objekt, er stelle gesprochne Rede dar, so getreu wie
möglich, mit aller ihrer Unbeholfenheit, allen ihren Stockungen und Ver¬
renkungen; als Darstellungsmittel dürfe das Wort stilisirt werden, als Objekt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/151>, abgerufen am 11.06.2024.