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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Kirchenxolitik und Zentrum

den nichtangezeigten Geistlichen, der ohne staatliche Erlaubnis das Amt antritt,
aber Giltigkeit aller Ernennungen, die keinen Einspruch rechtfertigen, Konzen-
trirung der staatlichen Zwangsgewalt auf die wenigen Fälle von Ernennung
unwürdiger, hetzerischer Persönlichkeiten, Steigerung bis zum äußersten Zwang
in diesen wenigen Fällen. Bei diesem Verfahren wäre niemals eine "Ver¬
wüstung" eingetreten, die betroffnen Gemeinden hätten von Nachbargeistlichen
versorgt werden können; sie würden ihre Klagen wohl nicht allein gegen den
Staat gerichtet und bei der großen Mehrzahl des katholischen Volkes kaum mehr
als das sehr gemäßigte Mitgefühl gefunden haben, das der Mensch fremdem
Leiden entgegenbringt, wenn er sich selber geborgen weiß.

Um den Unterschied klar zu machen, verweisen wir auf das, was ein sehr
genauer, als Kirchenrechtslehrer auch von den Katholiken geschätzter Kenner,
Paul Hinschius, gesagt hat, daß "etwa 99 Prozent der Verwüstungen, welche der
Kulturkampf in Preußen angerichtet hat, aus der Nichtbeobachtung der . . . An-
zeigepflicht . . . entstanden" seien. Wie sehr wären diese 99 Prozent zusammen¬
geschmolzen! Der Staat wäre nicht in die Versuchung gekommen, ein Zwangs¬
gesetz durch das andre zu überbieten, und der berechtigte Kern der Anzeigepflicht
sowohl als der andern kirchenpolitischen Gesetze wäre von dem Stachel, der sie
verhaßt machte, freigeblieben. Wir schätzen diesen Kern sehr hoch und sind noch
jetzt der Meinung, daß der kirchliche Gerichtshof eine Schutzwehr gegen beider¬
seitigen Mißbrauch war; daß der Staat verpflichtet ist, sich seiner Bürger gegen
die Überspannung kirchlicher Zuchtmittel, und der Geistlichen gegen tyrannische
Kirchenobere anzunehmen; daß der Jesuitenorden als grundsätzlicher Gegner der
Toleranz und der Parität diese ebenso wenig anrufen darf wie die Sozial¬
demokratie das Recht der politischen Partei; daß die andern Orden nicht nieder-,
aber in Schranken zu halten sind; daß eine vom Staat nicht beeinflußte Er¬
ziehung der künftigen Geistlichen zu gefährlicher Einseitigkeit führen muß. Die
entsprechenden Aufgaben können ja nicht alle zugleich, oder nicht vollständig
erfüllt werden, in Preußen und im Reich liegen jetzt andre Aufgaben näher,
aber jene sind unverjährbar, der Pflicht nach nicht weniger als was die Be¬
fugnis anbelangt, und ein Augenblick wie der jetzige, wo sie unpopulär sind,
fordert wenigstens dazu auf, den Bestand, der dauernden Wert hat, ins Ge¬
dächtnis zurückzurufen und der immer größer werdenden Verdunklung des wirk¬
lichen Hergangs im Kulturkampf entgegenzutreten. Dessen Verlauf und die Er¬
fahrungen daraus sollen wohl beherzigt werden, dürfen jedoch nicht davon ab¬
schrecken, feststehende Staatspslichten im Auge zu behalten, und, mag auch in der
augenblicklichen politischen Lage für den zum Handeln berufnen Staatsmann ein
gewisser Dispens liegen, so hat er doch auf der immer abschüssiger werdenden
Bahn schwächlicher Zugeständnisse innezuhalten. Der politische Schriftsteller
vollends darf nie das kirchenpolitische Programm des Staats als Ganzes aus
den Augen verlieren, soll jede Gelegenheit, dafür zu wirken, benutzen. In


Kirchenxolitik und Zentrum

den nichtangezeigten Geistlichen, der ohne staatliche Erlaubnis das Amt antritt,
aber Giltigkeit aller Ernennungen, die keinen Einspruch rechtfertigen, Konzen-
trirung der staatlichen Zwangsgewalt auf die wenigen Fälle von Ernennung
unwürdiger, hetzerischer Persönlichkeiten, Steigerung bis zum äußersten Zwang
in diesen wenigen Fällen. Bei diesem Verfahren wäre niemals eine „Ver¬
wüstung" eingetreten, die betroffnen Gemeinden hätten von Nachbargeistlichen
versorgt werden können; sie würden ihre Klagen wohl nicht allein gegen den
Staat gerichtet und bei der großen Mehrzahl des katholischen Volkes kaum mehr
als das sehr gemäßigte Mitgefühl gefunden haben, das der Mensch fremdem
Leiden entgegenbringt, wenn er sich selber geborgen weiß.

Um den Unterschied klar zu machen, verweisen wir auf das, was ein sehr
genauer, als Kirchenrechtslehrer auch von den Katholiken geschätzter Kenner,
Paul Hinschius, gesagt hat, daß „etwa 99 Prozent der Verwüstungen, welche der
Kulturkampf in Preußen angerichtet hat, aus der Nichtbeobachtung der . . . An-
zeigepflicht . . . entstanden" seien. Wie sehr wären diese 99 Prozent zusammen¬
geschmolzen! Der Staat wäre nicht in die Versuchung gekommen, ein Zwangs¬
gesetz durch das andre zu überbieten, und der berechtigte Kern der Anzeigepflicht
sowohl als der andern kirchenpolitischen Gesetze wäre von dem Stachel, der sie
verhaßt machte, freigeblieben. Wir schätzen diesen Kern sehr hoch und sind noch
jetzt der Meinung, daß der kirchliche Gerichtshof eine Schutzwehr gegen beider¬
seitigen Mißbrauch war; daß der Staat verpflichtet ist, sich seiner Bürger gegen
die Überspannung kirchlicher Zuchtmittel, und der Geistlichen gegen tyrannische
Kirchenobere anzunehmen; daß der Jesuitenorden als grundsätzlicher Gegner der
Toleranz und der Parität diese ebenso wenig anrufen darf wie die Sozial¬
demokratie das Recht der politischen Partei; daß die andern Orden nicht nieder-,
aber in Schranken zu halten sind; daß eine vom Staat nicht beeinflußte Er¬
ziehung der künftigen Geistlichen zu gefährlicher Einseitigkeit führen muß. Die
entsprechenden Aufgaben können ja nicht alle zugleich, oder nicht vollständig
erfüllt werden, in Preußen und im Reich liegen jetzt andre Aufgaben näher,
aber jene sind unverjährbar, der Pflicht nach nicht weniger als was die Be¬
fugnis anbelangt, und ein Augenblick wie der jetzige, wo sie unpopulär sind,
fordert wenigstens dazu auf, den Bestand, der dauernden Wert hat, ins Ge¬
dächtnis zurückzurufen und der immer größer werdenden Verdunklung des wirk¬
lichen Hergangs im Kulturkampf entgegenzutreten. Dessen Verlauf und die Er¬
fahrungen daraus sollen wohl beherzigt werden, dürfen jedoch nicht davon ab¬
schrecken, feststehende Staatspslichten im Auge zu behalten, und, mag auch in der
augenblicklichen politischen Lage für den zum Handeln berufnen Staatsmann ein
gewisser Dispens liegen, so hat er doch auf der immer abschüssiger werdenden
Bahn schwächlicher Zugeständnisse innezuhalten. Der politische Schriftsteller
vollends darf nie das kirchenpolitische Programm des Staats als Ganzes aus
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/253>, abgerufen am 16.06.2024.