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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Deutsches Nationalinteresse und deutsches Fürstenrecht

Einzelheiten dieser grundlegenden Verträge nicht für alle Zeit und Ewigkeit
unantastbares Recht sein können, sondern -- wie es in jeder gesunden Ent¬
wicklung immer geschehen ist und geschehen wird -- wenn das nationale Interesse
es verlangt, unter den durch die Reichsverfassung bestimmten Formen auch
abgeändert oder aufgehoben werden können, und zweitens, daß, wenn in einem
bestimmten Falle von größerer Bedeutung Zweifel entstehen, ob die Reichs-
gewalt, vertreten durch Kaiser und Bundesrat, im Rechte ist, oder ein Einzel-
staat oder ein Herrscherhaus und ein klares, unzweifelhaftes Recht uicht gegen
die Reichskompetenz spricht, jeder gute Deutsche sich für die Reichsgewalt ent¬
scheiden muß. Sonst leugnet er die Voraussetzungen, auf denen das Reich
aufgebaut worden ist, er verurteilt die Reichsverfassung zur Erstarrung, er
stellt sich ans den überwundnen, unannehmbaren legitimistisch-partikularistischeu
Standpunkt.

Nach diesen Grundsätzen hat Fürst Bismarck auch nach 1871 gehandelt.
Unter seiner Leitung faßte 1884 der Bnudesrat den Beschluß, den Herzog
Ernst August von Cumberland nicht zur Thronfolge in Braunschweig zu¬
zulassen, weil dies mit dem Rechts- und Besitzstande im Reiche unverträglich
sei; er hat dabei nach der jetzt (angeblich nach seinem Rate!) mit so vielem
Zartgefühl behandelten dynastischen Empfindlichkeit gar nicht gefragt, und auch
der braunschweigische Minister vou Otto hat uoch kürzlich das mannhafte,
ehrliche Wort gesprochen, ein Fttrstenrecht, das über jedem nationalen Interesse
stehe, könne es nicht geben; er hat sich also ganz auf den Standpunkt des
Fürsten Bismarck gestellt. Dieser selbst wollte ursprünglich noch weiter gehen;
um der welfischen Agitation ein für allemal deu Boden zu entziehen, wollte
er das ganze welfische Haus für alle Zeiten von der Nachfolge in Braun¬
schweig ausschließen. Soweit folgte ihm der Bundesrat nicht, ob zum Heile
des Reichs und Braunschweigs, bleibe dahingestellt; aber selbst der wirklich
gefaßte Beschluß war ein Bruch des strengen Privatfürstenrechts, für das eine
Frage gar nicht vorlag, und er wurde begründet mit der Rücksicht auf das
Interesse des Reichs, auf das seit 1866 ueugeschaffne Recht.

Dieses damals in der That beiseite geschobue Privatfürstenrecht hat
inzwischen wunderliche Konsequenzen gehabt. Kraft dieses Rechts ist in Sachsen-
Koburg-Gotha ein englischer Prinz zur Negierung gekommen, der, mindestens
anfangs, so wenig Rücksicht auf seine deutschen Unterthanen nahm, daß seine
Hofverwaltung sich im schriftlichen Geschäftsverkehr der französischen Sprache
bediente. Kraft dieses Rechts wird einmal in Oldenburg ein Vertreter des
russischen Zweiges der Dynastie folgen, der kein Wort Deutsch versteht. Das
ist geschehen und wird wieder geschehen, weil in Deutschland das National¬
bewußtsein noch immer nicht stark genug ist, sich solche Zumutungen ent¬
schieden zu verbitten. Ein junges, unreifes, damals noch halbbarbarisches
Volk wie die Rumänen hat zwar einen deutschen Prinzen auf seinen Thron


Deutsches Nationalinteresse und deutsches Fürstenrecht

Einzelheiten dieser grundlegenden Verträge nicht für alle Zeit und Ewigkeit
unantastbares Recht sein können, sondern — wie es in jeder gesunden Ent¬
wicklung immer geschehen ist und geschehen wird — wenn das nationale Interesse
es verlangt, unter den durch die Reichsverfassung bestimmten Formen auch
abgeändert oder aufgehoben werden können, und zweitens, daß, wenn in einem
bestimmten Falle von größerer Bedeutung Zweifel entstehen, ob die Reichs-
gewalt, vertreten durch Kaiser und Bundesrat, im Rechte ist, oder ein Einzel-
staat oder ein Herrscherhaus und ein klares, unzweifelhaftes Recht uicht gegen
die Reichskompetenz spricht, jeder gute Deutsche sich für die Reichsgewalt ent¬
scheiden muß. Sonst leugnet er die Voraussetzungen, auf denen das Reich
aufgebaut worden ist, er verurteilt die Reichsverfassung zur Erstarrung, er
stellt sich ans den überwundnen, unannehmbaren legitimistisch-partikularistischeu
Standpunkt.

Nach diesen Grundsätzen hat Fürst Bismarck auch nach 1871 gehandelt.
Unter seiner Leitung faßte 1884 der Bnudesrat den Beschluß, den Herzog
Ernst August von Cumberland nicht zur Thronfolge in Braunschweig zu¬
zulassen, weil dies mit dem Rechts- und Besitzstande im Reiche unverträglich
sei; er hat dabei nach der jetzt (angeblich nach seinem Rate!) mit so vielem
Zartgefühl behandelten dynastischen Empfindlichkeit gar nicht gefragt, und auch
der braunschweigische Minister vou Otto hat uoch kürzlich das mannhafte,
ehrliche Wort gesprochen, ein Fttrstenrecht, das über jedem nationalen Interesse
stehe, könne es nicht geben; er hat sich also ganz auf den Standpunkt des
Fürsten Bismarck gestellt. Dieser selbst wollte ursprünglich noch weiter gehen;
um der welfischen Agitation ein für allemal deu Boden zu entziehen, wollte
er das ganze welfische Haus für alle Zeiten von der Nachfolge in Braun¬
schweig ausschließen. Soweit folgte ihm der Bundesrat nicht, ob zum Heile
des Reichs und Braunschweigs, bleibe dahingestellt; aber selbst der wirklich
gefaßte Beschluß war ein Bruch des strengen Privatfürstenrechts, für das eine
Frage gar nicht vorlag, und er wurde begründet mit der Rücksicht auf das
Interesse des Reichs, auf das seit 1866 ueugeschaffne Recht.

Dieses damals in der That beiseite geschobue Privatfürstenrecht hat
inzwischen wunderliche Konsequenzen gehabt. Kraft dieses Rechts ist in Sachsen-
Koburg-Gotha ein englischer Prinz zur Negierung gekommen, der, mindestens
anfangs, so wenig Rücksicht auf seine deutschen Unterthanen nahm, daß seine
Hofverwaltung sich im schriftlichen Geschäftsverkehr der französischen Sprache
bediente. Kraft dieses Rechts wird einmal in Oldenburg ein Vertreter des
russischen Zweiges der Dynastie folgen, der kein Wort Deutsch versteht. Das
ist geschehen und wird wieder geschehen, weil in Deutschland das National¬
bewußtsein noch immer nicht stark genug ist, sich solche Zumutungen ent¬
schieden zu verbitten. Ein junges, unreifes, damals noch halbbarbarisches
Volk wie die Rumänen hat zwar einen deutschen Prinzen auf seinen Thron


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[0453] Deutsches Nationalinteresse und deutsches Fürstenrecht Einzelheiten dieser grundlegenden Verträge nicht für alle Zeit und Ewigkeit unantastbares Recht sein können, sondern — wie es in jeder gesunden Ent¬ wicklung immer geschehen ist und geschehen wird — wenn das nationale Interesse es verlangt, unter den durch die Reichsverfassung bestimmten Formen auch abgeändert oder aufgehoben werden können, und zweitens, daß, wenn in einem bestimmten Falle von größerer Bedeutung Zweifel entstehen, ob die Reichs- gewalt, vertreten durch Kaiser und Bundesrat, im Rechte ist, oder ein Einzel- staat oder ein Herrscherhaus und ein klares, unzweifelhaftes Recht uicht gegen die Reichskompetenz spricht, jeder gute Deutsche sich für die Reichsgewalt ent¬ scheiden muß. Sonst leugnet er die Voraussetzungen, auf denen das Reich aufgebaut worden ist, er verurteilt die Reichsverfassung zur Erstarrung, er stellt sich ans den überwundnen, unannehmbaren legitimistisch-partikularistischeu Standpunkt. Nach diesen Grundsätzen hat Fürst Bismarck auch nach 1871 gehandelt. Unter seiner Leitung faßte 1884 der Bnudesrat den Beschluß, den Herzog Ernst August von Cumberland nicht zur Thronfolge in Braunschweig zu¬ zulassen, weil dies mit dem Rechts- und Besitzstande im Reiche unverträglich sei; er hat dabei nach der jetzt (angeblich nach seinem Rate!) mit so vielem Zartgefühl behandelten dynastischen Empfindlichkeit gar nicht gefragt, und auch der braunschweigische Minister vou Otto hat uoch kürzlich das mannhafte, ehrliche Wort gesprochen, ein Fttrstenrecht, das über jedem nationalen Interesse stehe, könne es nicht geben; er hat sich also ganz auf den Standpunkt des Fürsten Bismarck gestellt. Dieser selbst wollte ursprünglich noch weiter gehen; um der welfischen Agitation ein für allemal deu Boden zu entziehen, wollte er das ganze welfische Haus für alle Zeiten von der Nachfolge in Braun¬ schweig ausschließen. Soweit folgte ihm der Bundesrat nicht, ob zum Heile des Reichs und Braunschweigs, bleibe dahingestellt; aber selbst der wirklich gefaßte Beschluß war ein Bruch des strengen Privatfürstenrechts, für das eine Frage gar nicht vorlag, und er wurde begründet mit der Rücksicht auf das Interesse des Reichs, auf das seit 1866 ueugeschaffne Recht. Dieses damals in der That beiseite geschobue Privatfürstenrecht hat inzwischen wunderliche Konsequenzen gehabt. Kraft dieses Rechts ist in Sachsen- Koburg-Gotha ein englischer Prinz zur Negierung gekommen, der, mindestens anfangs, so wenig Rücksicht auf seine deutschen Unterthanen nahm, daß seine Hofverwaltung sich im schriftlichen Geschäftsverkehr der französischen Sprache bediente. Kraft dieses Rechts wird einmal in Oldenburg ein Vertreter des russischen Zweiges der Dynastie folgen, der kein Wort Deutsch versteht. Das ist geschehen und wird wieder geschehen, weil in Deutschland das National¬ bewußtsein noch immer nicht stark genug ist, sich solche Zumutungen ent¬ schieden zu verbitten. Ein junges, unreifes, damals noch halbbarbarisches Volk wie die Rumänen hat zwar einen deutschen Prinzen auf seinen Thron

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/453>, abgerufen am 16.06.2024.