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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Die Viii, rezzia des Weltverkehrs

biedermännischen Anstoß nimmt. Das ist leider deutsche Art oder deutsche
Unart. Reden wir einmal in kräftiger Mundart: Also, was haben wir Deutschen
für Interessen in der Türkei? Was will und kann der Kaiser dort erreichen
mit seiner Reise?

Unsre kundigen Thebaner, die dem Fürsten Bismarck seine Amtsführung
nach Kräften erschwert haben, sind jetzt aller Augenblicke mit Zitaten aus seinen
Reden bei der Hand, wenn es gilt, das herabzusetzen und zu bekritteln, was
gethan wird. Wie oft sind die Knochen des pommerschen Grenadiers aus¬
gegraben, wie oft ist der Geist der seligen Hekuba beschworen worden! Das
Jahr 1786 war das Todesjahr Friedrichs des Großen; seine Autorität in
Europa war so groß, daß Goethe im Jahre darauf nicht wagte, in einem sizi-
lianischen Flecken seinen Tod mitzuteilen, um sich nicht "seinen Wirten Vurch
eine so unselige Nachricht verhaßt zu machen." Zwanzig Jahre später erlitt
der von ihm geschaffene Staat seine furchtbarste Niederlage, gerade weil man
geglaubt hatte, seine Hinterlassenschaft in jedem Punkte auf das ängstlichste
wahren zu müssen, weil man es nicht verstanden hatte, mit der Zeit fortzuschreiten,
geschweige denn, daß man ihr, seinem Beispiele folgend, vorangeschritten wäre.
Im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität schreitet auch die Geschichte
schneller vorwärts; der chinesisch-japanische Krieg sowie der amerikanisch-spanische
haben neue politische Aufgaben gestellt und Perspektiven erschlossen, die rasch
und thatkräftig wahrgenommen werden müssen, wenn sich nicht die Macht-
uud Marktverhältnisse der Welt zu unserm Nachteil wesentlich verschieben sollen.

Die heutige Türkei besteht aus Lündermassen, die zu den gesegnetsten,
fruchtbarsten und am reichsten ausgestatteten des Erdballs gehören, und liegt
auf dem geraden Wege zwischen dem europäischen Abendlande und Indien
und China. Die Wichtigkeit dieser Lage wurde bis zur Entdeckung Amerikas
von der keiner andern übertroffen. In der eigentlichen atlantischen Periode der
Weltgeschichte, wo sich die Interessen der alten Welt vornehmlich dem neuen
Erdteile zuwandten, konnte sie einigermaßen zurücktreten; nachdem sich aber
Amerika zu füllen begonnen hat und eine selbständige Politik verfolgt, gewinnen
das Ostbccken des Mittelmeers und Vorderasien ihre alte Bedeutung wieder
als die Hauptbahn für den Verkehr und für den Kulturausgleich zwischen
Europa und Asien, als on re.gen der Zivilisation unsrer Erde. Eröffnet
worden ist diese uralte Bölkerbahn für die Mittelmeervölker durch Alexander
den Mazedonier, und das ist seine Großthat, dercnthalben ihn die Geschichte
als den Großen preist.

Ein wunderbares Zusammentreffen hat es gefügt, daß diese für Europa
wichtigste Landstraße von Gefahren bedroht ist wie keine andre der Welt. Die
Perser und die Steppenvölker der Mongolen und Türken haben sich von Nord-
osten, die Araber von Südosten, die Ägypter von Süden herangedrängt, und von
Norden bedroht die slawische Welt die Bahn mit Verschüttung sür die eigene-


Die Viii, rezzia des Weltverkehrs

biedermännischen Anstoß nimmt. Das ist leider deutsche Art oder deutsche
Unart. Reden wir einmal in kräftiger Mundart: Also, was haben wir Deutschen
für Interessen in der Türkei? Was will und kann der Kaiser dort erreichen
mit seiner Reise?

Unsre kundigen Thebaner, die dem Fürsten Bismarck seine Amtsführung
nach Kräften erschwert haben, sind jetzt aller Augenblicke mit Zitaten aus seinen
Reden bei der Hand, wenn es gilt, das herabzusetzen und zu bekritteln, was
gethan wird. Wie oft sind die Knochen des pommerschen Grenadiers aus¬
gegraben, wie oft ist der Geist der seligen Hekuba beschworen worden! Das
Jahr 1786 war das Todesjahr Friedrichs des Großen; seine Autorität in
Europa war so groß, daß Goethe im Jahre darauf nicht wagte, in einem sizi-
lianischen Flecken seinen Tod mitzuteilen, um sich nicht „seinen Wirten Vurch
eine so unselige Nachricht verhaßt zu machen." Zwanzig Jahre später erlitt
der von ihm geschaffene Staat seine furchtbarste Niederlage, gerade weil man
geglaubt hatte, seine Hinterlassenschaft in jedem Punkte auf das ängstlichste
wahren zu müssen, weil man es nicht verstanden hatte, mit der Zeit fortzuschreiten,
geschweige denn, daß man ihr, seinem Beispiele folgend, vorangeschritten wäre.
Im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität schreitet auch die Geschichte
schneller vorwärts; der chinesisch-japanische Krieg sowie der amerikanisch-spanische
haben neue politische Aufgaben gestellt und Perspektiven erschlossen, die rasch
und thatkräftig wahrgenommen werden müssen, wenn sich nicht die Macht-
uud Marktverhältnisse der Welt zu unserm Nachteil wesentlich verschieben sollen.

Die heutige Türkei besteht aus Lündermassen, die zu den gesegnetsten,
fruchtbarsten und am reichsten ausgestatteten des Erdballs gehören, und liegt
auf dem geraden Wege zwischen dem europäischen Abendlande und Indien
und China. Die Wichtigkeit dieser Lage wurde bis zur Entdeckung Amerikas
von der keiner andern übertroffen. In der eigentlichen atlantischen Periode der
Weltgeschichte, wo sich die Interessen der alten Welt vornehmlich dem neuen
Erdteile zuwandten, konnte sie einigermaßen zurücktreten; nachdem sich aber
Amerika zu füllen begonnen hat und eine selbständige Politik verfolgt, gewinnen
das Ostbccken des Mittelmeers und Vorderasien ihre alte Bedeutung wieder
als die Hauptbahn für den Verkehr und für den Kulturausgleich zwischen
Europa und Asien, als on re.gen der Zivilisation unsrer Erde. Eröffnet
worden ist diese uralte Bölkerbahn für die Mittelmeervölker durch Alexander
den Mazedonier, und das ist seine Großthat, dercnthalben ihn die Geschichte
als den Großen preist.

Ein wunderbares Zusammentreffen hat es gefügt, daß diese für Europa
wichtigste Landstraße von Gefahren bedroht ist wie keine andre der Welt. Die
Perser und die Steppenvölker der Mongolen und Türken haben sich von Nord-
osten, die Araber von Südosten, die Ägypter von Süden herangedrängt, und von
Norden bedroht die slawische Welt die Bahn mit Verschüttung sür die eigene-


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[0457] Die Viii, rezzia des Weltverkehrs biedermännischen Anstoß nimmt. Das ist leider deutsche Art oder deutsche Unart. Reden wir einmal in kräftiger Mundart: Also, was haben wir Deutschen für Interessen in der Türkei? Was will und kann der Kaiser dort erreichen mit seiner Reise? Unsre kundigen Thebaner, die dem Fürsten Bismarck seine Amtsführung nach Kräften erschwert haben, sind jetzt aller Augenblicke mit Zitaten aus seinen Reden bei der Hand, wenn es gilt, das herabzusetzen und zu bekritteln, was gethan wird. Wie oft sind die Knochen des pommerschen Grenadiers aus¬ gegraben, wie oft ist der Geist der seligen Hekuba beschworen worden! Das Jahr 1786 war das Todesjahr Friedrichs des Großen; seine Autorität in Europa war so groß, daß Goethe im Jahre darauf nicht wagte, in einem sizi- lianischen Flecken seinen Tod mitzuteilen, um sich nicht „seinen Wirten Vurch eine so unselige Nachricht verhaßt zu machen." Zwanzig Jahre später erlitt der von ihm geschaffene Staat seine furchtbarste Niederlage, gerade weil man geglaubt hatte, seine Hinterlassenschaft in jedem Punkte auf das ängstlichste wahren zu müssen, weil man es nicht verstanden hatte, mit der Zeit fortzuschreiten, geschweige denn, daß man ihr, seinem Beispiele folgend, vorangeschritten wäre. Im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität schreitet auch die Geschichte schneller vorwärts; der chinesisch-japanische Krieg sowie der amerikanisch-spanische haben neue politische Aufgaben gestellt und Perspektiven erschlossen, die rasch und thatkräftig wahrgenommen werden müssen, wenn sich nicht die Macht- uud Marktverhältnisse der Welt zu unserm Nachteil wesentlich verschieben sollen. Die heutige Türkei besteht aus Lündermassen, die zu den gesegnetsten, fruchtbarsten und am reichsten ausgestatteten des Erdballs gehören, und liegt auf dem geraden Wege zwischen dem europäischen Abendlande und Indien und China. Die Wichtigkeit dieser Lage wurde bis zur Entdeckung Amerikas von der keiner andern übertroffen. In der eigentlichen atlantischen Periode der Weltgeschichte, wo sich die Interessen der alten Welt vornehmlich dem neuen Erdteile zuwandten, konnte sie einigermaßen zurücktreten; nachdem sich aber Amerika zu füllen begonnen hat und eine selbständige Politik verfolgt, gewinnen das Ostbccken des Mittelmeers und Vorderasien ihre alte Bedeutung wieder als die Hauptbahn für den Verkehr und für den Kulturausgleich zwischen Europa und Asien, als on re.gen der Zivilisation unsrer Erde. Eröffnet worden ist diese uralte Bölkerbahn für die Mittelmeervölker durch Alexander den Mazedonier, und das ist seine Großthat, dercnthalben ihn die Geschichte als den Großen preist. Ein wunderbares Zusammentreffen hat es gefügt, daß diese für Europa wichtigste Landstraße von Gefahren bedroht ist wie keine andre der Welt. Die Perser und die Steppenvölker der Mongolen und Türken haben sich von Nord- osten, die Araber von Südosten, die Ägypter von Süden herangedrängt, und von Norden bedroht die slawische Welt die Bahn mit Verschüttung sür die eigene-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/457>, abgerufen am 16.05.2024.