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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Allerhand Erzählungen

schätzten Stellungen. Daß wir so grenzenlos herunterkommen, liegt in unsrer
Einseitigkeit voll unverschämter Selbstüberhebung. Wir haben Talente so gut wie
andre, aber sie scheitern an unserm misernbelu Charakter. Wir würden uns der
Dinge schäme", die drei Viertel der Menschheit sich zur Ehre anrechnet. Ja, wir
sind eine eigenartige Sippe." Mit dieser Lehre geht der junge Graf Fred zu seinen
Tanten, die seine Erziehung zu überwachen haben, und denen es ein entsetzlicher
Gedanke ist, daß er Künstler werden und nun gar in Berlin studiren will, weil
er meint, nur dort ungestört arbeiten zu können. Bald darauf erstattet er seinem
Mentor Rauenfels folgenden köstlichen Bericht: "Stark wars schon, aber, weißt,
gesund wars ihnen. Alles hab ich herdeklamirt, die G'schicht mit dem Vorurteil,
daß unsereins 's zehnte, wozu ers Talent hat, nicht sein soll, das Faktum,
daß ich Architekt und Künstler werden will, alles hab ich hcrgschnattert. Pass
warens, sag ich dir, einfach pass. Besonders die La-Tant; die Mi-Tant, weißt,
die kriegt man nicht so leicht unter, die ist selber Schnellturnerin mit der Zunge.
Du. die hat gschaut, wie ich losglegt hab über meine Menschenrechte. Ja. dann
Habens gweint und eine Red ghalteu, die hätt Kürzungen vertragen, sag ich dir.
Die La-Teint haln Gotha gholt und mir alle großen Familien vorglesen, mit denen
ich verwandt bin, und die Mi-Tant hat mir in drohendem Tone alle alte Herren
aus der Familie vorghalten, die überhaupt nie was gwesen sind als wie Zeit¬
genossen. Alle Ahnen Habens aus die Gräber aufbeutelt, die armen Hascher, und
aufmarschiere" lassen. Ich bin erst jetzt so recht dranfkommen, daß noch nie einer
Was gwesen ist, und daß 's höchste Zeit war, einer fing an, was zu sein." Und
ein dritter dieser tüchtigen Menschen, auf die. wenn ihrer mehr wären, die Ver¬
fasserin ihre Hoffnungen setzen würde, Graf Attulin, sagt seinem Freunde: "Das
beste Mädchen° nehm ich mir, Nanenfels, und was die Familie betrifft, wir Attulins
wachen unsre Frauen zu dem. was wir siud, weißt du, und heiraten für uns, nicht
für die Leute."

Und nun mag sich noch ein zierlicher kleiner Ganghofer anschließen, kein Alpen¬
oder Dorfroman sondern einer in der Art seiner "Bacchantin," italienischer Himmel
und Reisestimmnng -- "Rachele Scarpa" (Stuttgart. Bonz u. Komp.). Der Er¬
zähler lernt die genannte Dame, eine Malteserin, in Konstantinopel kennen, wo er
sie aus den Händen eines griechischen Straßenräubers befreit, dann, ans weiter
verschlungnen "Wegen, trifft sie ihn in Wien wieder und wird seine Gattin. Die
beschichte ist gut und spannend erzählt, sie hat aber etwas vom Stil eines Reise¬
abenteuers und nicht ganz die innere Glaublichkeit, wie wenn deutsche Schriftsteller
einheimische Figuren auf bekannten Boden spielen lassen. Man liebt ja jetzt bei
uns wieder diese südländischen Motive, und ein so gewandter Darsteller, wie Gang¬
hofer, macht sie uus ganz annehmbar. Seine echten Jagdgründe bleiben immerhin
die Voralpen.




Grenzboten IV 189808
Allerhand Erzählungen

schätzten Stellungen. Daß wir so grenzenlos herunterkommen, liegt in unsrer
Einseitigkeit voll unverschämter Selbstüberhebung. Wir haben Talente so gut wie
andre, aber sie scheitern an unserm misernbelu Charakter. Wir würden uns der
Dinge schäme», die drei Viertel der Menschheit sich zur Ehre anrechnet. Ja, wir
sind eine eigenartige Sippe." Mit dieser Lehre geht der junge Graf Fred zu seinen
Tanten, die seine Erziehung zu überwachen haben, und denen es ein entsetzlicher
Gedanke ist, daß er Künstler werden und nun gar in Berlin studiren will, weil
er meint, nur dort ungestört arbeiten zu können. Bald darauf erstattet er seinem
Mentor Rauenfels folgenden köstlichen Bericht: „Stark wars schon, aber, weißt,
gesund wars ihnen. Alles hab ich herdeklamirt, die G'schicht mit dem Vorurteil,
daß unsereins 's zehnte, wozu ers Talent hat, nicht sein soll, das Faktum,
daß ich Architekt und Künstler werden will, alles hab ich hcrgschnattert. Pass
warens, sag ich dir, einfach pass. Besonders die La-Tant; die Mi-Tant, weißt,
die kriegt man nicht so leicht unter, die ist selber Schnellturnerin mit der Zunge.
Du. die hat gschaut, wie ich losglegt hab über meine Menschenrechte. Ja. dann
Habens gweint und eine Red ghalteu, die hätt Kürzungen vertragen, sag ich dir.
Die La-Teint haln Gotha gholt und mir alle großen Familien vorglesen, mit denen
ich verwandt bin, und die Mi-Tant hat mir in drohendem Tone alle alte Herren
aus der Familie vorghalten, die überhaupt nie was gwesen sind als wie Zeit¬
genossen. Alle Ahnen Habens aus die Gräber aufbeutelt, die armen Hascher, und
aufmarschiere» lassen. Ich bin erst jetzt so recht dranfkommen, daß noch nie einer
Was gwesen ist, und daß 's höchste Zeit war, einer fing an, was zu sein." Und
ein dritter dieser tüchtigen Menschen, auf die. wenn ihrer mehr wären, die Ver¬
fasserin ihre Hoffnungen setzen würde, Graf Attulin, sagt seinem Freunde: „Das
beste Mädchen° nehm ich mir, Nanenfels, und was die Familie betrifft, wir Attulins
wachen unsre Frauen zu dem. was wir siud, weißt du, und heiraten für uns, nicht
für die Leute."

Und nun mag sich noch ein zierlicher kleiner Ganghofer anschließen, kein Alpen¬
oder Dorfroman sondern einer in der Art seiner „Bacchantin," italienischer Himmel
und Reisestimmnng — „Rachele Scarpa" (Stuttgart. Bonz u. Komp.). Der Er¬
zähler lernt die genannte Dame, eine Malteserin, in Konstantinopel kennen, wo er
sie aus den Händen eines griechischen Straßenräubers befreit, dann, ans weiter
verschlungnen "Wegen, trifft sie ihn in Wien wieder und wird seine Gattin. Die
beschichte ist gut und spannend erzählt, sie hat aber etwas vom Stil eines Reise¬
abenteuers und nicht ganz die innere Glaublichkeit, wie wenn deutsche Schriftsteller
einheimische Figuren auf bekannten Boden spielen lassen. Man liebt ja jetzt bei
uns wieder diese südländischen Motive, und ein so gewandter Darsteller, wie Gang¬
hofer, macht sie uus ganz annehmbar. Seine echten Jagdgründe bleiben immerhin
die Voralpen.




Grenzboten IV 189808
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/548>, abgerufen am 22.05.2024.