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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die imperialistische Bewegung in England

Haltung erinnert. Es galt früher als einer der Triumphe des Liberalismus,
daß er den Aufwand für Heer und Marine vermindert hatte: heute ruft alles
nach Verstärkung der nationalen Wehrkraft; man erörtert mit allem Ernst die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, und die Negierung wird dnrch die
Volksstimmung geradezu gezwungen, ihre Forderungen für Heer und Flotte
zu erhöhen. Nie ist England so willig und so bereit gewesen, Opfer für seine
Machtstellung zu bringen.

Die Frage einer Vertretung der Kolonien in dem englischen Parlament
wie die Frage eines Zollbundes sind im Fluß, und beide werden kaum zur
Ruhe kommen, ehe sie nicht in mehr oder minder befriedigender Weise gelöst
sind. Es verschlüge dabei wenig, daß die Konferenz in Ottawa im Jahre 1894
wie auch die manchen spätern Versuche wenig Positives geschaffen haben. Der
Unterschied gegen die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren ist der, daß damals die
Kolonien nur an eine Lostrennung dachten und die Mittel dazu erörterten,
während sie heute nur an eine Vereinigung und die Mittel dazu denken. Sehr
bedeutungsvoll waren namentlich die verschiednen Äußerungen Sir Wilfried
Lauriers, des Premierministers von Kanada, der, von Abstammung ein Franzose,
die Anhänglichkeit der englischen wie der französischen Bevölkerung von Kanada
an das britische Reich verkündete. Und doch war Kanada zu Anfang der
siebziger Jahre die Kolonie gewesen, deren Abfall unabwendbar geschienen hatte.

Zwei kleine Vorkommnisse neuesten Datums genügen unsers Trachtens
vollständig, den großen Umschwung in der Stellung Englands zu dem Reichs¬
gedanken zu bezeichnen. Während der Wahl im Kapland im August vorigen
Jahres brachten Blätter wie der only rslsgraxli und die vsily Rai1, die
am getreusten die Gesinnungen des Durchschnittspublikums in England ver¬
treten, täglich ausführliche telegraphische Depeschen über den Wahlfeldzug. Es
wurde bemerkt als das erste Beispiel, daß die Wechselfälle eines kolonialen
Wahlkampfes täglich von der englischen Presse eingehend berichtet wurden.
Als Sir George Gres, den vor beinahe vierzig Jahren ein liberales Mini¬
sterium wegen seiner Selbständigkeit aus dem kolonialen Dienste entlassen hatte,
in diesem Sommer hochbetagt starb, wurde dem hochverdienten Mann ein Be¬
gräbnis auf Staatskosten in der Paulskirche bewilligt. Kurz darauf trat ein
Komitee zur Errichtung eines Denkmals für ihn zusammen, dem die nam¬
haftesten Vertreter kolonialer und imperialistischer Interessen zugehörten. An
seiner Spitze stand der Kolonialminister Chamberlain, der ehemalige Radikale,
dann kamen Earl of Roseberry, der Führer der Liberalen, Earl Grey und
Mitglieder aller Parteien.




Die imperialistische Bewegung in England

Haltung erinnert. Es galt früher als einer der Triumphe des Liberalismus,
daß er den Aufwand für Heer und Marine vermindert hatte: heute ruft alles
nach Verstärkung der nationalen Wehrkraft; man erörtert mit allem Ernst die
Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, und die Negierung wird dnrch die
Volksstimmung geradezu gezwungen, ihre Forderungen für Heer und Flotte
zu erhöhen. Nie ist England so willig und so bereit gewesen, Opfer für seine
Machtstellung zu bringen.

Die Frage einer Vertretung der Kolonien in dem englischen Parlament
wie die Frage eines Zollbundes sind im Fluß, und beide werden kaum zur
Ruhe kommen, ehe sie nicht in mehr oder minder befriedigender Weise gelöst
sind. Es verschlüge dabei wenig, daß die Konferenz in Ottawa im Jahre 1894
wie auch die manchen spätern Versuche wenig Positives geschaffen haben. Der
Unterschied gegen die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren ist der, daß damals die
Kolonien nur an eine Lostrennung dachten und die Mittel dazu erörterten,
während sie heute nur an eine Vereinigung und die Mittel dazu denken. Sehr
bedeutungsvoll waren namentlich die verschiednen Äußerungen Sir Wilfried
Lauriers, des Premierministers von Kanada, der, von Abstammung ein Franzose,
die Anhänglichkeit der englischen wie der französischen Bevölkerung von Kanada
an das britische Reich verkündete. Und doch war Kanada zu Anfang der
siebziger Jahre die Kolonie gewesen, deren Abfall unabwendbar geschienen hatte.

Zwei kleine Vorkommnisse neuesten Datums genügen unsers Trachtens
vollständig, den großen Umschwung in der Stellung Englands zu dem Reichs¬
gedanken zu bezeichnen. Während der Wahl im Kapland im August vorigen
Jahres brachten Blätter wie der only rslsgraxli und die vsily Rai1, die
am getreusten die Gesinnungen des Durchschnittspublikums in England ver¬
treten, täglich ausführliche telegraphische Depeschen über den Wahlfeldzug. Es
wurde bemerkt als das erste Beispiel, daß die Wechselfälle eines kolonialen
Wahlkampfes täglich von der englischen Presse eingehend berichtet wurden.
Als Sir George Gres, den vor beinahe vierzig Jahren ein liberales Mini¬
sterium wegen seiner Selbständigkeit aus dem kolonialen Dienste entlassen hatte,
in diesem Sommer hochbetagt starb, wurde dem hochverdienten Mann ein Be¬
gräbnis auf Staatskosten in der Paulskirche bewilligt. Kurz darauf trat ein
Komitee zur Errichtung eines Denkmals für ihn zusammen, dem die nam¬
haftesten Vertreter kolonialer und imperialistischer Interessen zugehörten. An
seiner Spitze stand der Kolonialminister Chamberlain, der ehemalige Radikale,
dann kamen Earl of Roseberry, der Führer der Liberalen, Earl Grey und
Mitglieder aller Parteien.




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[0208] Die imperialistische Bewegung in England Haltung erinnert. Es galt früher als einer der Triumphe des Liberalismus, daß er den Aufwand für Heer und Marine vermindert hatte: heute ruft alles nach Verstärkung der nationalen Wehrkraft; man erörtert mit allem Ernst die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, und die Negierung wird dnrch die Volksstimmung geradezu gezwungen, ihre Forderungen für Heer und Flotte zu erhöhen. Nie ist England so willig und so bereit gewesen, Opfer für seine Machtstellung zu bringen. Die Frage einer Vertretung der Kolonien in dem englischen Parlament wie die Frage eines Zollbundes sind im Fluß, und beide werden kaum zur Ruhe kommen, ehe sie nicht in mehr oder minder befriedigender Weise gelöst sind. Es verschlüge dabei wenig, daß die Konferenz in Ottawa im Jahre 1894 wie auch die manchen spätern Versuche wenig Positives geschaffen haben. Der Unterschied gegen die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren ist der, daß damals die Kolonien nur an eine Lostrennung dachten und die Mittel dazu erörterten, während sie heute nur an eine Vereinigung und die Mittel dazu denken. Sehr bedeutungsvoll waren namentlich die verschiednen Äußerungen Sir Wilfried Lauriers, des Premierministers von Kanada, der, von Abstammung ein Franzose, die Anhänglichkeit der englischen wie der französischen Bevölkerung von Kanada an das britische Reich verkündete. Und doch war Kanada zu Anfang der siebziger Jahre die Kolonie gewesen, deren Abfall unabwendbar geschienen hatte. Zwei kleine Vorkommnisse neuesten Datums genügen unsers Trachtens vollständig, den großen Umschwung in der Stellung Englands zu dem Reichs¬ gedanken zu bezeichnen. Während der Wahl im Kapland im August vorigen Jahres brachten Blätter wie der only rslsgraxli und die vsily Rai1, die am getreusten die Gesinnungen des Durchschnittspublikums in England ver¬ treten, täglich ausführliche telegraphische Depeschen über den Wahlfeldzug. Es wurde bemerkt als das erste Beispiel, daß die Wechselfälle eines kolonialen Wahlkampfes täglich von der englischen Presse eingehend berichtet wurden. Als Sir George Gres, den vor beinahe vierzig Jahren ein liberales Mini¬ sterium wegen seiner Selbständigkeit aus dem kolonialen Dienste entlassen hatte, in diesem Sommer hochbetagt starb, wurde dem hochverdienten Mann ein Be¬ gräbnis auf Staatskosten in der Paulskirche bewilligt. Kurz darauf trat ein Komitee zur Errichtung eines Denkmals für ihn zusammen, dem die nam¬ haftesten Vertreter kolonialer und imperialistischer Interessen zugehörten. An seiner Spitze stand der Kolonialminister Chamberlain, der ehemalige Radikale, dann kamen Earl of Roseberry, der Führer der Liberalen, Earl Grey und Mitglieder aller Parteien.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/208>, abgerufen am 19.05.2024.