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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Linige Bedenken über die Politik der konservativen Partei

in der Hauptsache unverändert geblieben. Weder hat der Bund der Landwirte
äußerlich erkennbare Erfolge, geschweige die ausschlaggebende Bedeutung er¬
langt, die ihm nach seiner Vorstellung sicher schien, noch ist die nationalliberale
Fraktion trotz ihrer innern zweifellosen Auflösung oder doch Umwandlung zu¬
sammengebrochen, noch zeigt die konservative Fraktion deutliche äußere Spuren
ihrer innern Zerrissenheit. Gewonnen hat die Sozialdemokratie im Reich, dort
wie in Preußen steht das Zentrum fast als "regierende" Partei da in un¬
berührter, ungefährdeter Einheitlichkeit und Machtfülle. Gewiß aber haben
viele Nationalliberale nur durch Nachgiebigkeit gegen die landwirtsbündlerischen
Forderungen und Wünsche ihre Stellung behauptet, und geyade jetzt tritt im
Hannoverland, dem Hauptsitz der Nationalliberalen, eine konservative Ver¬
einigung auf den Kampfplatz, der man bei unbefangnen Urteil keinesfalls ein
ungünstiges Horoskop stellen kann. Bleibt sie ihrem Wahlspruch treu: alle
konservativen Bestrebungen zusammenzufassen und die berechtigten Eigentümlich¬
keiten und gewohnten und bewährten Eigentümlichkeiten des Hannoverlandes
zu schützen und zu verteidigen, weiß sie sich, mit andern Worten, der jetzt
vorzugsweise durch ostelbische Bestrebungen und Persönlichkeiten geleiteten
konservativen Fraktion als starker aber selbständiger, von Einseitigkeiten freier
Bundesgenosse zur Seite zu stellen und zu Zeiten, wenn rückschrittliche "junker¬
liche," der Neuzeit widerstreitende Ziele verfolgt werden, auch gegenüberzustellen
und zur Geltung zu bringen, so kann von ihr eine Wiedergeburt der konser¬
vativen Politik ausgehn, die zum Wohle der Gesamtheit förderlich, ja unent¬
behrlich ist.

Wer zweifelt noch an der Notwendigkeit einer solchen Wiedergeburt der
konservativen Politik und Fraktion? Wer daran, daß sich viele konservative
Wähler mit den wärmsten Empfindungen zu den Bestrebungen der Christlich-
Sozialen, Sozialreformer und verwandter Politiker hingezogen fühlen, bei denen
sie den wahren Konservatismus überzeugter, uneigennütziger gepflegt sehen? Wer
zweifelt daran, daß diese alle für die Kandidaten der konservativen Partei im
großen und ganzen wohl nur deswegen eintreten, weil die neuen Gedanken
uoch nicht zu einer genügend greifbaren Zusammenfassung ihrer Anhänger
geführt haben, oder weil die konservative Fraktion noch dieses oder jenes Ziel,
vor allem die Hebung der Landwirtschaft anstrebt und sich großer Erfolge,
mehr noch für die Zukunft als in der Vergangenheit, zu rühmen versteht!
Daß der konservative Gedanke, wie er sich in der Fraktion des Landtags wie
des Reichstags verkörpert, noch werbende Kraft hätte, kann kein Unbefangner
zugeben. Und doch gilt noch heute das Wort: "Es ist der Geist, der sich
den Körper baut!" Die Konservativen aber haben ihre Ideale, so scheint es,
vergessen oder sie zurücktreten lassen gegenüber den oft nicht mehr maßvoll
verfochtnen agrarischen Forderungen und Zielen, die von der Sozialpolitik
Kaiser Wilhelms I. und seines großen Kanzlers weit abliegen.


Linige Bedenken über die Politik der konservativen Partei

in der Hauptsache unverändert geblieben. Weder hat der Bund der Landwirte
äußerlich erkennbare Erfolge, geschweige die ausschlaggebende Bedeutung er¬
langt, die ihm nach seiner Vorstellung sicher schien, noch ist die nationalliberale
Fraktion trotz ihrer innern zweifellosen Auflösung oder doch Umwandlung zu¬
sammengebrochen, noch zeigt die konservative Fraktion deutliche äußere Spuren
ihrer innern Zerrissenheit. Gewonnen hat die Sozialdemokratie im Reich, dort
wie in Preußen steht das Zentrum fast als „regierende" Partei da in un¬
berührter, ungefährdeter Einheitlichkeit und Machtfülle. Gewiß aber haben
viele Nationalliberale nur durch Nachgiebigkeit gegen die landwirtsbündlerischen
Forderungen und Wünsche ihre Stellung behauptet, und geyade jetzt tritt im
Hannoverland, dem Hauptsitz der Nationalliberalen, eine konservative Ver¬
einigung auf den Kampfplatz, der man bei unbefangnen Urteil keinesfalls ein
ungünstiges Horoskop stellen kann. Bleibt sie ihrem Wahlspruch treu: alle
konservativen Bestrebungen zusammenzufassen und die berechtigten Eigentümlich¬
keiten und gewohnten und bewährten Eigentümlichkeiten des Hannoverlandes
zu schützen und zu verteidigen, weiß sie sich, mit andern Worten, der jetzt
vorzugsweise durch ostelbische Bestrebungen und Persönlichkeiten geleiteten
konservativen Fraktion als starker aber selbständiger, von Einseitigkeiten freier
Bundesgenosse zur Seite zu stellen und zu Zeiten, wenn rückschrittliche „junker¬
liche," der Neuzeit widerstreitende Ziele verfolgt werden, auch gegenüberzustellen
und zur Geltung zu bringen, so kann von ihr eine Wiedergeburt der konser¬
vativen Politik ausgehn, die zum Wohle der Gesamtheit förderlich, ja unent¬
behrlich ist.

Wer zweifelt noch an der Notwendigkeit einer solchen Wiedergeburt der
konservativen Politik und Fraktion? Wer daran, daß sich viele konservative
Wähler mit den wärmsten Empfindungen zu den Bestrebungen der Christlich-
Sozialen, Sozialreformer und verwandter Politiker hingezogen fühlen, bei denen
sie den wahren Konservatismus überzeugter, uneigennütziger gepflegt sehen? Wer
zweifelt daran, daß diese alle für die Kandidaten der konservativen Partei im
großen und ganzen wohl nur deswegen eintreten, weil die neuen Gedanken
uoch nicht zu einer genügend greifbaren Zusammenfassung ihrer Anhänger
geführt haben, oder weil die konservative Fraktion noch dieses oder jenes Ziel,
vor allem die Hebung der Landwirtschaft anstrebt und sich großer Erfolge,
mehr noch für die Zukunft als in der Vergangenheit, zu rühmen versteht!
Daß der konservative Gedanke, wie er sich in der Fraktion des Landtags wie
des Reichstags verkörpert, noch werbende Kraft hätte, kann kein Unbefangner
zugeben. Und doch gilt noch heute das Wort: „Es ist der Geist, der sich
den Körper baut!" Die Konservativen aber haben ihre Ideale, so scheint es,
vergessen oder sie zurücktreten lassen gegenüber den oft nicht mehr maßvoll
verfochtnen agrarischen Forderungen und Zielen, die von der Sozialpolitik
Kaiser Wilhelms I. und seines großen Kanzlers weit abliegen.


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[0475] Linige Bedenken über die Politik der konservativen Partei in der Hauptsache unverändert geblieben. Weder hat der Bund der Landwirte äußerlich erkennbare Erfolge, geschweige die ausschlaggebende Bedeutung er¬ langt, die ihm nach seiner Vorstellung sicher schien, noch ist die nationalliberale Fraktion trotz ihrer innern zweifellosen Auflösung oder doch Umwandlung zu¬ sammengebrochen, noch zeigt die konservative Fraktion deutliche äußere Spuren ihrer innern Zerrissenheit. Gewonnen hat die Sozialdemokratie im Reich, dort wie in Preußen steht das Zentrum fast als „regierende" Partei da in un¬ berührter, ungefährdeter Einheitlichkeit und Machtfülle. Gewiß aber haben viele Nationalliberale nur durch Nachgiebigkeit gegen die landwirtsbündlerischen Forderungen und Wünsche ihre Stellung behauptet, und geyade jetzt tritt im Hannoverland, dem Hauptsitz der Nationalliberalen, eine konservative Ver¬ einigung auf den Kampfplatz, der man bei unbefangnen Urteil keinesfalls ein ungünstiges Horoskop stellen kann. Bleibt sie ihrem Wahlspruch treu: alle konservativen Bestrebungen zusammenzufassen und die berechtigten Eigentümlich¬ keiten und gewohnten und bewährten Eigentümlichkeiten des Hannoverlandes zu schützen und zu verteidigen, weiß sie sich, mit andern Worten, der jetzt vorzugsweise durch ostelbische Bestrebungen und Persönlichkeiten geleiteten konservativen Fraktion als starker aber selbständiger, von Einseitigkeiten freier Bundesgenosse zur Seite zu stellen und zu Zeiten, wenn rückschrittliche „junker¬ liche," der Neuzeit widerstreitende Ziele verfolgt werden, auch gegenüberzustellen und zur Geltung zu bringen, so kann von ihr eine Wiedergeburt der konser¬ vativen Politik ausgehn, die zum Wohle der Gesamtheit förderlich, ja unent¬ behrlich ist. Wer zweifelt noch an der Notwendigkeit einer solchen Wiedergeburt der konservativen Politik und Fraktion? Wer daran, daß sich viele konservative Wähler mit den wärmsten Empfindungen zu den Bestrebungen der Christlich- Sozialen, Sozialreformer und verwandter Politiker hingezogen fühlen, bei denen sie den wahren Konservatismus überzeugter, uneigennütziger gepflegt sehen? Wer zweifelt daran, daß diese alle für die Kandidaten der konservativen Partei im großen und ganzen wohl nur deswegen eintreten, weil die neuen Gedanken uoch nicht zu einer genügend greifbaren Zusammenfassung ihrer Anhänger geführt haben, oder weil die konservative Fraktion noch dieses oder jenes Ziel, vor allem die Hebung der Landwirtschaft anstrebt und sich großer Erfolge, mehr noch für die Zukunft als in der Vergangenheit, zu rühmen versteht! Daß der konservative Gedanke, wie er sich in der Fraktion des Landtags wie des Reichstags verkörpert, noch werbende Kraft hätte, kann kein Unbefangner zugeben. Und doch gilt noch heute das Wort: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut!" Die Konservativen aber haben ihre Ideale, so scheint es, vergessen oder sie zurücktreten lassen gegenüber den oft nicht mehr maßvoll verfochtnen agrarischen Forderungen und Zielen, die von der Sozialpolitik Kaiser Wilhelms I. und seines großen Kanzlers weit abliegen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/475>, abgerufen am 28.05.2024.