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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Lili französisch-deutscher Rationalist

rechnet ist, und dem es sich auch durch gute Ausstattung zu empfehlen sucht.
"Die Menschen haben in Ermangelung, die Wahrheit zu erkennen, die Lüge
und die Unwissenheit in ein System gebracht" (I, S. 29). "Aus Mangel, den
Menschen gesehen zu haben, wie er ist, sagen uns die Moralisten usw." (I,
S. 58). Diese Konstruktion mit "aus Mangel" kehrt öfter wieder. "Es war
gewöhnlich beim die Moscheen verlassen, wo er seine Exekutionen vollbrachte,
deren seine eignen Kinder oft die Opfer waren" (II, S. 102). "Eine schlechte
Regierung findet ihre Rechnung im ihre Gesetze verdunkeln und vervielfachen"
(III, S. 30). "Die Erde liefert einer Nation, womit ihre wahren Bedürfnisse
befriedigen" (III, S. 83). Folgenden Satz könnte man nur versteh", wenn
man das Original zur Hand Hütte: ". . . woraus man sieht, daß die wahre
christliche Demut ein Vernunftwesen ^vielleicht ein abstrakter Begriff?^ ist und
daß, wenn sie möglich wäre, sie sowohl ungerecht als absurd sein würde"
(I, S. 148). Mnistrs in Verbindung mit "Gott" oder "Kirche" wird regel¬
mäßig "Minister" übersetzt. Die Eigennamenformen Lucret und Element er¬
wecken den Zweifel, ob der Verfasser lateinisch kann, und ob parÄMin rg.mein
für xei'ÄAiun, tAuiM (II, S. 164) ihm oder dem Setzer auf Rechnung zu setzen
ist. Wir wollen das zweite annehmen, da III, S. 26 und 27 das eine mal
Tartullian und das andre mal Tertullian steht und das rscM für rs^ni (II,
S. 171) im Druckfehlerverzeichnis berichtigt wird. Doch wenden wir uns
endlich vom Übersetzer zum Verfasser!

Die Lebensansicht Holbachs, soweit sie im vorliegenden Buche entwickelt
wird, läßt sich kurz in folgenden Sätzen darstellen. Die gesamte Menschheit
erscheint in dem Grade verderbt und lasterhaft, daß die einen dadurch zu dem
Glanben verleitet werden, der Mensch sei von Natur böse, während andre
daran verzweifeln, die Widersprüche der Ansichten im Gebiete der Moral lösen
zu können, und daher meinen, es gäbe gar keinen Unterschied zwischen Gut
und Böse. Aber gerade die verkehrten Moralsysteme sind schuld an der Ver¬
wirrung und der Verderbnis. Diese Moralsysteme sind ein Erzeugnis der
Priester, die ihrerseits die Werkzeuge von Despoten waren. Die meisten
Staaten sind von Eroberern durch Unterjochung, also durch Ungerechtigkeit
gegründet worden, und nur durch fortdauernde Ungerechtigkeit vermochten die
Fürsten ihre Gewaltherrschaft aufrecht zu erhalten. Dazu bedurfreu sie eines
religiösen Aberglaubens, einmal um ihr eignes Gewissen zu beschwichtigen, indem
sie sich von den Priestern Vorreden ließen, ihre Schandthaten könnten dnrch
leicht zu vollbringende und oft genug nicht weniger schändliche Opfer gesühnt
werden, dann aber zur Zügelung ihrer Unterthanen. Diese Zügelung wurde
in der Weise bewirkt, daß alles, was für die Despoten nützlich war, den
Unterthanen zur religiösen Pflicht gemacht wurde, und daß man den Unter¬
thanen unverständliche Glaubenssätze einprägte, während man sie über den
natürlichen Zusammenhang der Dinge in Unwissenheit ließ.


Lili französisch-deutscher Rationalist

rechnet ist, und dem es sich auch durch gute Ausstattung zu empfehlen sucht.
„Die Menschen haben in Ermangelung, die Wahrheit zu erkennen, die Lüge
und die Unwissenheit in ein System gebracht" (I, S. 29). „Aus Mangel, den
Menschen gesehen zu haben, wie er ist, sagen uns die Moralisten usw." (I,
S. 58). Diese Konstruktion mit „aus Mangel" kehrt öfter wieder. „Es war
gewöhnlich beim die Moscheen verlassen, wo er seine Exekutionen vollbrachte,
deren seine eignen Kinder oft die Opfer waren" (II, S. 102). „Eine schlechte
Regierung findet ihre Rechnung im ihre Gesetze verdunkeln und vervielfachen"
(III, S. 30). „Die Erde liefert einer Nation, womit ihre wahren Bedürfnisse
befriedigen" (III, S. 83). Folgenden Satz könnte man nur versteh«, wenn
man das Original zur Hand Hütte: „. . . woraus man sieht, daß die wahre
christliche Demut ein Vernunftwesen ^vielleicht ein abstrakter Begriff?^ ist und
daß, wenn sie möglich wäre, sie sowohl ungerecht als absurd sein würde"
(I, S. 148). Mnistrs in Verbindung mit „Gott" oder „Kirche" wird regel¬
mäßig „Minister" übersetzt. Die Eigennamenformen Lucret und Element er¬
wecken den Zweifel, ob der Verfasser lateinisch kann, und ob parÄMin rg.mein
für xei'ÄAiun, tAuiM (II, S. 164) ihm oder dem Setzer auf Rechnung zu setzen
ist. Wir wollen das zweite annehmen, da III, S. 26 und 27 das eine mal
Tartullian und das andre mal Tertullian steht und das rscM für rs^ni (II,
S. 171) im Druckfehlerverzeichnis berichtigt wird. Doch wenden wir uns
endlich vom Übersetzer zum Verfasser!

Die Lebensansicht Holbachs, soweit sie im vorliegenden Buche entwickelt
wird, läßt sich kurz in folgenden Sätzen darstellen. Die gesamte Menschheit
erscheint in dem Grade verderbt und lasterhaft, daß die einen dadurch zu dem
Glanben verleitet werden, der Mensch sei von Natur böse, während andre
daran verzweifeln, die Widersprüche der Ansichten im Gebiete der Moral lösen
zu können, und daher meinen, es gäbe gar keinen Unterschied zwischen Gut
und Böse. Aber gerade die verkehrten Moralsysteme sind schuld an der Ver¬
wirrung und der Verderbnis. Diese Moralsysteme sind ein Erzeugnis der
Priester, die ihrerseits die Werkzeuge von Despoten waren. Die meisten
Staaten sind von Eroberern durch Unterjochung, also durch Ungerechtigkeit
gegründet worden, und nur durch fortdauernde Ungerechtigkeit vermochten die
Fürsten ihre Gewaltherrschaft aufrecht zu erhalten. Dazu bedurfreu sie eines
religiösen Aberglaubens, einmal um ihr eignes Gewissen zu beschwichtigen, indem
sie sich von den Priestern Vorreden ließen, ihre Schandthaten könnten dnrch
leicht zu vollbringende und oft genug nicht weniger schändliche Opfer gesühnt
werden, dann aber zur Zügelung ihrer Unterthanen. Diese Zügelung wurde
in der Weise bewirkt, daß alles, was für die Despoten nützlich war, den
Unterthanen zur religiösen Pflicht gemacht wurde, und daß man den Unter¬
thanen unverständliche Glaubenssätze einprägte, während man sie über den
natürlichen Zusammenhang der Dinge in Unwissenheit ließ.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/690>, abgerufen am 19.05.2024.