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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Tagelöhnerhäuser

gemeinsam, was aus einer Herde Menschen erst ein Volk macht, nämlich, der¬
selbe Glaube, dieselbe Treue zu König und Vaterland, dieselben Sitten bei der
Arbeit und in der Freude. Diese einfache Kultur auf altem Boden ist in
Gefahr, zerstört zu werden. Die eingestammte Bevölkerung verschwindet, und
in ihre Lücken rückt eine zusammengewürfelte Gesellschaft aus den östlichen
Provinzen und von jenseits der Grenze, die der Einheimische unter dem Namen
Utlünner, d. h. Ausländer, zusammenfaßt, sie mögen Polen oder Deutsche oder
Russen, Böhmen und Schweizer, mögen Protestanten oder Katholiken sein.

In dem Bezirk der Kreiskrankenversicherung, den ich als Arzt kennen zu
lernen Gelegenheit hatte, betrug der Prozentsatz der Fremden, soweit sie zum
Arzt kamen, über zehn, vielleicht unter zwanzig der versicherten Landbevölkerung,
in dem Landkrankenhaus annähernd zwanzig Prozent der Besucher, wobei zu
beachten ist, daß die Fremden zwar mehr als die Einheimischen ins Kranken¬
haus kommen, weil sie meistens nicht in der Familie verpflegt werden können,
aber andrerseits auch weniger, weil die Wanderarbeiter natürlich aus gesunden
und rüstigen Leuten besteh", die alle Siechen zu Hause lassen. Die große
Masse der Fremden besteht zum einen Teil aus Wanderarbeitern, jetzt meistens
Russen, zum andern aus denen, die ansässig geworden sind, als Knechte
und Mägde oder als verheiratete Tagelöhner oder als städtische Arbeiter.
Genaue Zählungen giebt es meines Wissens nicht. Sie würden auch ein sehr
verschiednes Resultat geben, je nachdem sie angestellt würden. Es wird be¬
richtet, daß man in einem rheinischen Jndustriebezirk hunderttausend, zwanzig
Prozent der städtischen Arbeiterbevölkerung, gezählt hat.

Welche Verwüstung diese Einwanderung unter dem eingesefseiien Volk an¬
richtet, darüber würde ein Landgeistlicher besser berichten können als ich. Ich
glaube, daß man sich die Kluft zwischen Einheimischen und Fremden im Volk
größer vorstellen muß, als sie in unsern Kreisen wäre. Das Volk lebt auf
dem Laude noch in den Anschauungen des Jahrhunderts der Glaubenskriege.
Nationale Unterschiede sind ihm nur annähernd so lebendig als religiöse. In
den niedersüchsische" Dörfern sagt man von einer Polin nicht, sie trägt sich
polnisch, sondern: Se is katholsch annetreckt. Ähnlich wird vom Volk im
Posenschen deutsch und polnisch umgedeutet in protestantisch und katholisch.
Mit der Religion wird aber auch ein ganzer Schatz von allgemeinen ästhetischen
und ethischen Werturteile,, und unbewußten kategorischen Imperativen, eine Art
Sprache der Moral vererbt, die Zusammengehörige vereint, Fremde aber von
einander trennt. Natürlich kommen zahlreiche Mischehen vor. Und es scheint
mir, daß die Kinder aus solchen Ehen eine Art Unsicherheit der Anschauungen
mitbringen müssen, die sie minderwertig macht. Wie das auch sei: politisch
wird man von dieser Einwanderung auf den Trümmern der alten konservativen
Landbevölkerung zunächst einen Zuwachs von Zentrnmswcihlern zu erwarten
haben, schließlich aber el" grundsatzloses Proletariat, das der Sozialdemokratie


Tagelöhnerhäuser

gemeinsam, was aus einer Herde Menschen erst ein Volk macht, nämlich, der¬
selbe Glaube, dieselbe Treue zu König und Vaterland, dieselben Sitten bei der
Arbeit und in der Freude. Diese einfache Kultur auf altem Boden ist in
Gefahr, zerstört zu werden. Die eingestammte Bevölkerung verschwindet, und
in ihre Lücken rückt eine zusammengewürfelte Gesellschaft aus den östlichen
Provinzen und von jenseits der Grenze, die der Einheimische unter dem Namen
Utlünner, d. h. Ausländer, zusammenfaßt, sie mögen Polen oder Deutsche oder
Russen, Böhmen und Schweizer, mögen Protestanten oder Katholiken sein.

In dem Bezirk der Kreiskrankenversicherung, den ich als Arzt kennen zu
lernen Gelegenheit hatte, betrug der Prozentsatz der Fremden, soweit sie zum
Arzt kamen, über zehn, vielleicht unter zwanzig der versicherten Landbevölkerung,
in dem Landkrankenhaus annähernd zwanzig Prozent der Besucher, wobei zu
beachten ist, daß die Fremden zwar mehr als die Einheimischen ins Kranken¬
haus kommen, weil sie meistens nicht in der Familie verpflegt werden können,
aber andrerseits auch weniger, weil die Wanderarbeiter natürlich aus gesunden
und rüstigen Leuten besteh», die alle Siechen zu Hause lassen. Die große
Masse der Fremden besteht zum einen Teil aus Wanderarbeitern, jetzt meistens
Russen, zum andern aus denen, die ansässig geworden sind, als Knechte
und Mägde oder als verheiratete Tagelöhner oder als städtische Arbeiter.
Genaue Zählungen giebt es meines Wissens nicht. Sie würden auch ein sehr
verschiednes Resultat geben, je nachdem sie angestellt würden. Es wird be¬
richtet, daß man in einem rheinischen Jndustriebezirk hunderttausend, zwanzig
Prozent der städtischen Arbeiterbevölkerung, gezählt hat.

Welche Verwüstung diese Einwanderung unter dem eingesefseiien Volk an¬
richtet, darüber würde ein Landgeistlicher besser berichten können als ich. Ich
glaube, daß man sich die Kluft zwischen Einheimischen und Fremden im Volk
größer vorstellen muß, als sie in unsern Kreisen wäre. Das Volk lebt auf
dem Laude noch in den Anschauungen des Jahrhunderts der Glaubenskriege.
Nationale Unterschiede sind ihm nur annähernd so lebendig als religiöse. In
den niedersüchsische» Dörfern sagt man von einer Polin nicht, sie trägt sich
polnisch, sondern: Se is katholsch annetreckt. Ähnlich wird vom Volk im
Posenschen deutsch und polnisch umgedeutet in protestantisch und katholisch.
Mit der Religion wird aber auch ein ganzer Schatz von allgemeinen ästhetischen
und ethischen Werturteile,, und unbewußten kategorischen Imperativen, eine Art
Sprache der Moral vererbt, die Zusammengehörige vereint, Fremde aber von
einander trennt. Natürlich kommen zahlreiche Mischehen vor. Und es scheint
mir, daß die Kinder aus solchen Ehen eine Art Unsicherheit der Anschauungen
mitbringen müssen, die sie minderwertig macht. Wie das auch sei: politisch
wird man von dieser Einwanderung auf den Trümmern der alten konservativen
Landbevölkerung zunächst einen Zuwachs von Zentrnmswcihlern zu erwarten
haben, schließlich aber el» grundsatzloses Proletariat, das der Sozialdemokratie


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[0122] Tagelöhnerhäuser gemeinsam, was aus einer Herde Menschen erst ein Volk macht, nämlich, der¬ selbe Glaube, dieselbe Treue zu König und Vaterland, dieselben Sitten bei der Arbeit und in der Freude. Diese einfache Kultur auf altem Boden ist in Gefahr, zerstört zu werden. Die eingestammte Bevölkerung verschwindet, und in ihre Lücken rückt eine zusammengewürfelte Gesellschaft aus den östlichen Provinzen und von jenseits der Grenze, die der Einheimische unter dem Namen Utlünner, d. h. Ausländer, zusammenfaßt, sie mögen Polen oder Deutsche oder Russen, Böhmen und Schweizer, mögen Protestanten oder Katholiken sein. In dem Bezirk der Kreiskrankenversicherung, den ich als Arzt kennen zu lernen Gelegenheit hatte, betrug der Prozentsatz der Fremden, soweit sie zum Arzt kamen, über zehn, vielleicht unter zwanzig der versicherten Landbevölkerung, in dem Landkrankenhaus annähernd zwanzig Prozent der Besucher, wobei zu beachten ist, daß die Fremden zwar mehr als die Einheimischen ins Kranken¬ haus kommen, weil sie meistens nicht in der Familie verpflegt werden können, aber andrerseits auch weniger, weil die Wanderarbeiter natürlich aus gesunden und rüstigen Leuten besteh», die alle Siechen zu Hause lassen. Die große Masse der Fremden besteht zum einen Teil aus Wanderarbeitern, jetzt meistens Russen, zum andern aus denen, die ansässig geworden sind, als Knechte und Mägde oder als verheiratete Tagelöhner oder als städtische Arbeiter. Genaue Zählungen giebt es meines Wissens nicht. Sie würden auch ein sehr verschiednes Resultat geben, je nachdem sie angestellt würden. Es wird be¬ richtet, daß man in einem rheinischen Jndustriebezirk hunderttausend, zwanzig Prozent der städtischen Arbeiterbevölkerung, gezählt hat. Welche Verwüstung diese Einwanderung unter dem eingesefseiien Volk an¬ richtet, darüber würde ein Landgeistlicher besser berichten können als ich. Ich glaube, daß man sich die Kluft zwischen Einheimischen und Fremden im Volk größer vorstellen muß, als sie in unsern Kreisen wäre. Das Volk lebt auf dem Laude noch in den Anschauungen des Jahrhunderts der Glaubenskriege. Nationale Unterschiede sind ihm nur annähernd so lebendig als religiöse. In den niedersüchsische» Dörfern sagt man von einer Polin nicht, sie trägt sich polnisch, sondern: Se is katholsch annetreckt. Ähnlich wird vom Volk im Posenschen deutsch und polnisch umgedeutet in protestantisch und katholisch. Mit der Religion wird aber auch ein ganzer Schatz von allgemeinen ästhetischen und ethischen Werturteile,, und unbewußten kategorischen Imperativen, eine Art Sprache der Moral vererbt, die Zusammengehörige vereint, Fremde aber von einander trennt. Natürlich kommen zahlreiche Mischehen vor. Und es scheint mir, daß die Kinder aus solchen Ehen eine Art Unsicherheit der Anschauungen mitbringen müssen, die sie minderwertig macht. Wie das auch sei: politisch wird man von dieser Einwanderung auf den Trümmern der alten konservativen Landbevölkerung zunächst einen Zuwachs von Zentrnmswcihlern zu erwarten haben, schließlich aber el» grundsatzloses Proletariat, das der Sozialdemokratie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/122>, abgerufen am 20.05.2024.