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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Der Römerstaat

Staaten von Königen, Feldherren, Bürgern, Gesetzgebern und andern Patrioten
vollbracht worden sind, mehr bewundert als nachgeahmt, vielmehr geflohen
werden, sodaß uns von antiker Tugend keine Spur mehr geblieben ist, so
kann ich nicht umhin mich zu verwundern und gleichzeitig zu betrüben; um
so mehr da ich sehe, daß man in Privathändeln und in Krankheiten zu den
Richtersprüchen und Heilmitteln seine Zuflucht nimmt, die die Juristen der
Alten gefällt und ihre Ärzte verordnet haben. Bei der Neuordnung von
Staatseinrichtungen dagegen, bei der Gesetzgebung, bei der Verwaltung, im
Kriegswesen, beim Streben nach Vergrößerung der Staaten nimmt sich kein
Fürst noch Staat noch Staatsbürger die Alten zum Muster. Das kommt
hauptsächlich daher, daß man die Geschichte nicht gehörig kennt, weil man sie
nur oberflächlich liest. Man ergötzt sich an der Fülle und dem Wechsel der
Begebenheiten, aber an Nachahmung denkt man nicht; die hält man nicht
allein für schwierig, sondern für unmöglich. Als ob sich der Himmel, die
Sonne, die Elemente, die Menschennatur gegen früher geändert hätten!" Die
Erwähnung der den Alten entlehnten Justiz und Heilkunst wäre ja ganz ge¬
eignet, uns die Lust zur Benutzung antiker Vorbilder gründlich auszutreiben,
aber der letzte Satz verdient Beachtung. Die Menschennatur ändert sich nicht,
und wenn wir Vermutungen darüber anstellen wollen, wie gewisse Lagen und
Vorkommnisse auf die Betroffnen wirken werden, so können wir getrost die
Geschichte befragen, die uns für alle erdenkbaren Fälle wenn auch nicht gleiche,
so doch ähnliche Lagen und Begebenheiten darbietet. Der historische Prozeß
mischt die unveränderlichen psychologischen und geographischen Elemente zu
immer andern Kombinationen; jene sind das Alte und Beharrliche, diese das
immer Neue, das nie vorher dagewesen ist und kein zweitesmal wiederkehrt;
in jenem liegt die Möglichkeit einer praktischen Verwertung der Weltgeschichte,
dieses warnt vor übereilten Folgerungen und verbietet sklavische Nachahmung.

Unter allen Staaten der Vergangenheit sind es nun die des klassischen
Altertums, deren Geschichte man mit Recht immer für höchst lehrreich ge¬
halten hat, weil sie alle erdenkbaren Wandlungen aufweist, sodaß diese
Staaten sozusagen die Paradigmata der politischen Formen- und Abwandlungs¬
lehre sind, und weil ihre Träger von echt europäischem Geiste erfüllte Völker,
ja die Schöpfer dieses Geistes gewesen sind. Und zwar ist die römische Ge¬
schichte als das vollständigere Paradigma die wichtigste, indem sich Rom vom
Bauern- und Stadtstaat zum Großreich ausgewachsen hat. In den neuern
vortreffliche" Weltgeschichten fehlt es nun zwar nicht an Hinweisungen auf
die Gegenwart und an praktischen Winken, aber es dürfte doch auch nicht
ganz überflüssig sein, einmal das politisch Lehrreiche aus der römischen Ge¬
schichte herauszuheben und in einer vollständigen Übersicht zusammenzustellen.
Die nachfolgenden Betrachtungen wollen dieses Große nicht leisten, sondern
nur ein bescheidner Versuch sein. Ans streitige Fragen läßt sich der Verfasser,


Der Römerstaat

Staaten von Königen, Feldherren, Bürgern, Gesetzgebern und andern Patrioten
vollbracht worden sind, mehr bewundert als nachgeahmt, vielmehr geflohen
werden, sodaß uns von antiker Tugend keine Spur mehr geblieben ist, so
kann ich nicht umhin mich zu verwundern und gleichzeitig zu betrüben; um
so mehr da ich sehe, daß man in Privathändeln und in Krankheiten zu den
Richtersprüchen und Heilmitteln seine Zuflucht nimmt, die die Juristen der
Alten gefällt und ihre Ärzte verordnet haben. Bei der Neuordnung von
Staatseinrichtungen dagegen, bei der Gesetzgebung, bei der Verwaltung, im
Kriegswesen, beim Streben nach Vergrößerung der Staaten nimmt sich kein
Fürst noch Staat noch Staatsbürger die Alten zum Muster. Das kommt
hauptsächlich daher, daß man die Geschichte nicht gehörig kennt, weil man sie
nur oberflächlich liest. Man ergötzt sich an der Fülle und dem Wechsel der
Begebenheiten, aber an Nachahmung denkt man nicht; die hält man nicht
allein für schwierig, sondern für unmöglich. Als ob sich der Himmel, die
Sonne, die Elemente, die Menschennatur gegen früher geändert hätten!" Die
Erwähnung der den Alten entlehnten Justiz und Heilkunst wäre ja ganz ge¬
eignet, uns die Lust zur Benutzung antiker Vorbilder gründlich auszutreiben,
aber der letzte Satz verdient Beachtung. Die Menschennatur ändert sich nicht,
und wenn wir Vermutungen darüber anstellen wollen, wie gewisse Lagen und
Vorkommnisse auf die Betroffnen wirken werden, so können wir getrost die
Geschichte befragen, die uns für alle erdenkbaren Fälle wenn auch nicht gleiche,
so doch ähnliche Lagen und Begebenheiten darbietet. Der historische Prozeß
mischt die unveränderlichen psychologischen und geographischen Elemente zu
immer andern Kombinationen; jene sind das Alte und Beharrliche, diese das
immer Neue, das nie vorher dagewesen ist und kein zweitesmal wiederkehrt;
in jenem liegt die Möglichkeit einer praktischen Verwertung der Weltgeschichte,
dieses warnt vor übereilten Folgerungen und verbietet sklavische Nachahmung.

Unter allen Staaten der Vergangenheit sind es nun die des klassischen
Altertums, deren Geschichte man mit Recht immer für höchst lehrreich ge¬
halten hat, weil sie alle erdenkbaren Wandlungen aufweist, sodaß diese
Staaten sozusagen die Paradigmata der politischen Formen- und Abwandlungs¬
lehre sind, und weil ihre Träger von echt europäischem Geiste erfüllte Völker,
ja die Schöpfer dieses Geistes gewesen sind. Und zwar ist die römische Ge¬
schichte als das vollständigere Paradigma die wichtigste, indem sich Rom vom
Bauern- und Stadtstaat zum Großreich ausgewachsen hat. In den neuern
vortreffliche» Weltgeschichten fehlt es nun zwar nicht an Hinweisungen auf
die Gegenwart und an praktischen Winken, aber es dürfte doch auch nicht
ganz überflüssig sein, einmal das politisch Lehrreiche aus der römischen Ge¬
schichte herauszuheben und in einer vollständigen Übersicht zusammenzustellen.
Die nachfolgenden Betrachtungen wollen dieses Große nicht leisten, sondern
nur ein bescheidner Versuch sein. Ans streitige Fragen läßt sich der Verfasser,


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[0130] Der Römerstaat Staaten von Königen, Feldherren, Bürgern, Gesetzgebern und andern Patrioten vollbracht worden sind, mehr bewundert als nachgeahmt, vielmehr geflohen werden, sodaß uns von antiker Tugend keine Spur mehr geblieben ist, so kann ich nicht umhin mich zu verwundern und gleichzeitig zu betrüben; um so mehr da ich sehe, daß man in Privathändeln und in Krankheiten zu den Richtersprüchen und Heilmitteln seine Zuflucht nimmt, die die Juristen der Alten gefällt und ihre Ärzte verordnet haben. Bei der Neuordnung von Staatseinrichtungen dagegen, bei der Gesetzgebung, bei der Verwaltung, im Kriegswesen, beim Streben nach Vergrößerung der Staaten nimmt sich kein Fürst noch Staat noch Staatsbürger die Alten zum Muster. Das kommt hauptsächlich daher, daß man die Geschichte nicht gehörig kennt, weil man sie nur oberflächlich liest. Man ergötzt sich an der Fülle und dem Wechsel der Begebenheiten, aber an Nachahmung denkt man nicht; die hält man nicht allein für schwierig, sondern für unmöglich. Als ob sich der Himmel, die Sonne, die Elemente, die Menschennatur gegen früher geändert hätten!" Die Erwähnung der den Alten entlehnten Justiz und Heilkunst wäre ja ganz ge¬ eignet, uns die Lust zur Benutzung antiker Vorbilder gründlich auszutreiben, aber der letzte Satz verdient Beachtung. Die Menschennatur ändert sich nicht, und wenn wir Vermutungen darüber anstellen wollen, wie gewisse Lagen und Vorkommnisse auf die Betroffnen wirken werden, so können wir getrost die Geschichte befragen, die uns für alle erdenkbaren Fälle wenn auch nicht gleiche, so doch ähnliche Lagen und Begebenheiten darbietet. Der historische Prozeß mischt die unveränderlichen psychologischen und geographischen Elemente zu immer andern Kombinationen; jene sind das Alte und Beharrliche, diese das immer Neue, das nie vorher dagewesen ist und kein zweitesmal wiederkehrt; in jenem liegt die Möglichkeit einer praktischen Verwertung der Weltgeschichte, dieses warnt vor übereilten Folgerungen und verbietet sklavische Nachahmung. Unter allen Staaten der Vergangenheit sind es nun die des klassischen Altertums, deren Geschichte man mit Recht immer für höchst lehrreich ge¬ halten hat, weil sie alle erdenkbaren Wandlungen aufweist, sodaß diese Staaten sozusagen die Paradigmata der politischen Formen- und Abwandlungs¬ lehre sind, und weil ihre Träger von echt europäischem Geiste erfüllte Völker, ja die Schöpfer dieses Geistes gewesen sind. Und zwar ist die römische Ge¬ schichte als das vollständigere Paradigma die wichtigste, indem sich Rom vom Bauern- und Stadtstaat zum Großreich ausgewachsen hat. In den neuern vortreffliche» Weltgeschichten fehlt es nun zwar nicht an Hinweisungen auf die Gegenwart und an praktischen Winken, aber es dürfte doch auch nicht ganz überflüssig sein, einmal das politisch Lehrreiche aus der römischen Ge¬ schichte herauszuheben und in einer vollständigen Übersicht zusammenzustellen. Die nachfolgenden Betrachtungen wollen dieses Große nicht leisten, sondern nur ein bescheidner Versuch sein. Ans streitige Fragen läßt sich der Verfasser,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/130>, abgerufen am 21.05.2024.