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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

oder doch des Reichstags überschätzt (II, 309). und wie bitter resigniert klingt
der Satz II, 58: "Ich habe nie gezweifelt, daß das deutsche Volk, sobald es
einsteht, daß das bestehende (allgemeine) Wahlrecht eine schädliche Institution
sei, stark und klug genug sein werde, sich davon freizumachen. Kann es das
nicht, so ist meine Redensart, daß es reiten könne, sobald es erst im Sattel
säße, ein Irrtum gewesen." Leider ist sie, wie es scheint, wirklich ein Irrtum
gewesen. Ein ganzes Kapitel, das 13.. widmet der Verfasser dem Verhältnis
der "Dynastien und Stämme" zur nationalen Einheit. Er findet, bei den
Deutschen sei die Anhänglichkeit an eine Dynastie Voraussetzung des praktischen
Patriotismus. Darin liege die Bedeutung der Dynastien für den Zusammen¬
hang der Nation, und da dieses Verhältnis, das bei andern Völkern nicht vor¬
handen sei, um einmal eine reichsdeutsche Eigentümlichkeit sei. so müsse man
mit ihm rechnen, so lange es kräftig sei. Daß die Bewegung von 1848/50
dies versäumt habe, sei ihr größter Fehler gewesen. Andrerseits habe sich das
dynastische Interesse unter das nationale Interesse zu beugen und dürfe nicht
neue Zersplitterung verursachen, denn "das deutsche Volk und sein nationales
Leben können nicht unter fürstlichen Privatbesitz verteilt werden." Die einzel¬
staatliche Souveränität sei an sich "eine revolutionäre Errungenschaft auf
Kosten der Nation und ihrer Einheit," und die Dynastien seien nur deshalb
so mächtig geworden, weil sie die Krystallisationspunkte des deutschen Sonder¬
triebes gewesen seien. Nach diesen Ausführungen wird Wohl niemand mehr
wagen dürfen, den Fürsten Bismarck, der immer genau danach gehandelt hat,
als den prinzipiellen Beschützer jedes kleinfürstlichen Rechts und andrer so¬
genannter "Imponderabilien der Volksseele" in Anspruch zu nehmen. Wie
das Verhältnis zu Rußland immer im Vordergrunde seiner Politik gestanden
hat, so kommt er auch mehrfach in kürzern oder längern Betrachtungen darauf
zurück, so II. 251 ff., wo er darauf hinweist, daß das 1879 geschlossene
Bündnis mit Österreich durch gute Beziehungen Deutschlands zu Nußland be¬
festigt, durch eine Entfremdung von diesem unsichrer gemacht werde und bei
der Unberechenbarkeit der innern Entwicklung Österreichs thatsächlich auf zwei
Augen stehe, so vor allem im 30. Kapitel über die "zukünftige Politik Ru߬
lands." Er sieht ihren (europäischen) Hauptzweck in der nur mittelbaren Be¬
herrschung der europäischen Türkei und in einem russischen Verschluß des Bos¬
porus. Deutschland sei dem gegenüber in der vorteilhaften Lage, daß es keine
unmittelbaren Interessen im Orient habe, und sei zugleich durch seine zentrale
Stellung genötigt, einerseits alles zu thun, um einen Zusammenstoß mit Nu߬
land zu vermeiden, der ihm auch im glücklichsten Falle nichts der Rede werdes
einbringen könne, andrerseits Österreich nicht in die Arme Rußlands zu treiben;
denn gelänge es diesem, Österreich zu gewinnen, so wäre die Koalition des
siebenjährigen Kriegs gegen uns fertig, da Frankreich immer gegen uns zu
haben sein würde. Daher sei das höchste Interesse Deutschlands die Erhaltung
des Friedens. Aus diesem Grunde sei er selbst, nachdem wir unsre Einheit


Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

oder doch des Reichstags überschätzt (II, 309). und wie bitter resigniert klingt
der Satz II, 58: „Ich habe nie gezweifelt, daß das deutsche Volk, sobald es
einsteht, daß das bestehende (allgemeine) Wahlrecht eine schädliche Institution
sei, stark und klug genug sein werde, sich davon freizumachen. Kann es das
nicht, so ist meine Redensart, daß es reiten könne, sobald es erst im Sattel
säße, ein Irrtum gewesen." Leider ist sie, wie es scheint, wirklich ein Irrtum
gewesen. Ein ganzes Kapitel, das 13.. widmet der Verfasser dem Verhältnis
der „Dynastien und Stämme" zur nationalen Einheit. Er findet, bei den
Deutschen sei die Anhänglichkeit an eine Dynastie Voraussetzung des praktischen
Patriotismus. Darin liege die Bedeutung der Dynastien für den Zusammen¬
hang der Nation, und da dieses Verhältnis, das bei andern Völkern nicht vor¬
handen sei, um einmal eine reichsdeutsche Eigentümlichkeit sei. so müsse man
mit ihm rechnen, so lange es kräftig sei. Daß die Bewegung von 1848/50
dies versäumt habe, sei ihr größter Fehler gewesen. Andrerseits habe sich das
dynastische Interesse unter das nationale Interesse zu beugen und dürfe nicht
neue Zersplitterung verursachen, denn „das deutsche Volk und sein nationales
Leben können nicht unter fürstlichen Privatbesitz verteilt werden." Die einzel¬
staatliche Souveränität sei an sich „eine revolutionäre Errungenschaft auf
Kosten der Nation und ihrer Einheit," und die Dynastien seien nur deshalb
so mächtig geworden, weil sie die Krystallisationspunkte des deutschen Sonder¬
triebes gewesen seien. Nach diesen Ausführungen wird Wohl niemand mehr
wagen dürfen, den Fürsten Bismarck, der immer genau danach gehandelt hat,
als den prinzipiellen Beschützer jedes kleinfürstlichen Rechts und andrer so¬
genannter „Imponderabilien der Volksseele" in Anspruch zu nehmen. Wie
das Verhältnis zu Rußland immer im Vordergrunde seiner Politik gestanden
hat, so kommt er auch mehrfach in kürzern oder längern Betrachtungen darauf
zurück, so II. 251 ff., wo er darauf hinweist, daß das 1879 geschlossene
Bündnis mit Österreich durch gute Beziehungen Deutschlands zu Nußland be¬
festigt, durch eine Entfremdung von diesem unsichrer gemacht werde und bei
der Unberechenbarkeit der innern Entwicklung Österreichs thatsächlich auf zwei
Augen stehe, so vor allem im 30. Kapitel über die „zukünftige Politik Ru߬
lands." Er sieht ihren (europäischen) Hauptzweck in der nur mittelbaren Be¬
herrschung der europäischen Türkei und in einem russischen Verschluß des Bos¬
porus. Deutschland sei dem gegenüber in der vorteilhaften Lage, daß es keine
unmittelbaren Interessen im Orient habe, und sei zugleich durch seine zentrale
Stellung genötigt, einerseits alles zu thun, um einen Zusammenstoß mit Nu߬
land zu vermeiden, der ihm auch im glücklichsten Falle nichts der Rede werdes
einbringen könne, andrerseits Österreich nicht in die Arme Rußlands zu treiben;
denn gelänge es diesem, Österreich zu gewinnen, so wäre die Koalition des
siebenjährigen Kriegs gegen uns fertig, da Frankreich immer gegen uns zu
haben sein würde. Daher sei das höchste Interesse Deutschlands die Erhaltung
des Friedens. Aus diesem Grunde sei er selbst, nachdem wir unsre Einheit


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[0019] Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen oder doch des Reichstags überschätzt (II, 309). und wie bitter resigniert klingt der Satz II, 58: „Ich habe nie gezweifelt, daß das deutsche Volk, sobald es einsteht, daß das bestehende (allgemeine) Wahlrecht eine schädliche Institution sei, stark und klug genug sein werde, sich davon freizumachen. Kann es das nicht, so ist meine Redensart, daß es reiten könne, sobald es erst im Sattel säße, ein Irrtum gewesen." Leider ist sie, wie es scheint, wirklich ein Irrtum gewesen. Ein ganzes Kapitel, das 13.. widmet der Verfasser dem Verhältnis der „Dynastien und Stämme" zur nationalen Einheit. Er findet, bei den Deutschen sei die Anhänglichkeit an eine Dynastie Voraussetzung des praktischen Patriotismus. Darin liege die Bedeutung der Dynastien für den Zusammen¬ hang der Nation, und da dieses Verhältnis, das bei andern Völkern nicht vor¬ handen sei, um einmal eine reichsdeutsche Eigentümlichkeit sei. so müsse man mit ihm rechnen, so lange es kräftig sei. Daß die Bewegung von 1848/50 dies versäumt habe, sei ihr größter Fehler gewesen. Andrerseits habe sich das dynastische Interesse unter das nationale Interesse zu beugen und dürfe nicht neue Zersplitterung verursachen, denn „das deutsche Volk und sein nationales Leben können nicht unter fürstlichen Privatbesitz verteilt werden." Die einzel¬ staatliche Souveränität sei an sich „eine revolutionäre Errungenschaft auf Kosten der Nation und ihrer Einheit," und die Dynastien seien nur deshalb so mächtig geworden, weil sie die Krystallisationspunkte des deutschen Sonder¬ triebes gewesen seien. Nach diesen Ausführungen wird Wohl niemand mehr wagen dürfen, den Fürsten Bismarck, der immer genau danach gehandelt hat, als den prinzipiellen Beschützer jedes kleinfürstlichen Rechts und andrer so¬ genannter „Imponderabilien der Volksseele" in Anspruch zu nehmen. Wie das Verhältnis zu Rußland immer im Vordergrunde seiner Politik gestanden hat, so kommt er auch mehrfach in kürzern oder längern Betrachtungen darauf zurück, so II. 251 ff., wo er darauf hinweist, daß das 1879 geschlossene Bündnis mit Österreich durch gute Beziehungen Deutschlands zu Nußland be¬ festigt, durch eine Entfremdung von diesem unsichrer gemacht werde und bei der Unberechenbarkeit der innern Entwicklung Österreichs thatsächlich auf zwei Augen stehe, so vor allem im 30. Kapitel über die „zukünftige Politik Ru߬ lands." Er sieht ihren (europäischen) Hauptzweck in der nur mittelbaren Be¬ herrschung der europäischen Türkei und in einem russischen Verschluß des Bos¬ porus. Deutschland sei dem gegenüber in der vorteilhaften Lage, daß es keine unmittelbaren Interessen im Orient habe, und sei zugleich durch seine zentrale Stellung genötigt, einerseits alles zu thun, um einen Zusammenstoß mit Nu߬ land zu vermeiden, der ihm auch im glücklichsten Falle nichts der Rede werdes einbringen könne, andrerseits Österreich nicht in die Arme Rußlands zu treiben; denn gelänge es diesem, Österreich zu gewinnen, so wäre die Koalition des siebenjährigen Kriegs gegen uns fertig, da Frankreich immer gegen uns zu haben sein würde. Daher sei das höchste Interesse Deutschlands die Erhaltung des Friedens. Aus diesem Grunde sei er selbst, nachdem wir unsre Einheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/19>, abgerufen am 21.05.2024.