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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Edgar Steiger, der Verfasser der vielgenannten sozialdemokratischen
"Zwickcmer Dramaturgie," spricht wiederum zwar der ersten augenblicklich
waltenden Generation der Moderne die Müdigkeit der Kinder einer "dem
Untergange geweihten Kulturwelt" zu und läßt diesen Kindern entweder
nur die wehklagenden Delirien des Todeskampfes oder die Fähigkeit, "dem
sterbenden Verbrecher Kapitalismus" einen immer schärfern Spiegel seiner
Sünden vorzuhalten. Dafür aber soll der Dichter der Zukunft -- der morgen
oder übermorgen erscheinen kann, wäre nur erst der große Krach da -- ein
Starker, ein fröhlicher Überwinder, ein "Thatmensch des neuen Jahrhunderts
sein, der von seinem Vorgänger die neuen Augen und die feinen Nerven und
den nach innen gewandten Blick geerbt, aus der Tiefe der gärenden Volkskraft aber
die Lebensfreude und die Hoffnung und den Mut und die Kraft und die Selbst¬
herrlichkeit geschöpft hat," der mit Leichtigkeit hinausgelangt "aus der drückenden
Enge und der verdorbnen Stickluft, in der die Stimmungsmenschlein langsam
verglühen, auf das stürmende Meer des großen Lebens, wo der freie Wille
mit den Naturmächten kämpft, wo in der Ferne wie das helle Licht
eines Leuchtturms das neue moralische Ideal der Zukunftsmenschheit winkt."
Darauf, daß wir schwer begreifen, warum und wiefern gerade in dem grauen
Einerlei des großen allgemeinen Zuchthauses, das uns die soziale Revolution
verheißt, die Lebensfreude gedeihen und der freie Wille, den Philosophie und
Naturwissenschaften um die Wette eingescharrt haben, leuchtend auferstehen soll,
darauf kommt es hier gar nicht an, sondern auf die überraschende Thatsache,
daß alle beiseite gestoßnen und mit Achselzucken begrüßten, wohl gar als "aka¬
demisch" versenken Eigenschaften der großen, die Welt als ein Ganzes fühlenden
und fassenden Dichtung nun mit einemmale wieder in Sicht sind. Was wir in
der Dichtung der Gegenwart schmerzlich vermissen, was aber angeblich über¬
wunden, entbehrlich und unbrauchbar war, soll "künftig" alles wieder aufleben.
Nichts wird der poetischen Zukunft fehlen, was die Vergangenheit groß gemacht
hat, und alles wird ihr dazu geschenkt sein, was der Augenblick erringt.

Es ist immer dieselbe Taktik revolutionärer Parteien, die in diesem Doppel¬
spiel zu Tage tritt. Im Anfang die wildeste Verneinung, die alles, was be¬
steht, mit Mephistopheles darauf ansieht, daß es wert sei, zu Grunde zu gehen,
die leidenschaftlichste Lästerung der gewordnen Größen, die schrankenlose, ja oft
sinnlose Anpreisung des Neuen. Sodann aber, wenn sich ergiebt, daß die be¬
harrenden Mächte des Lebens wie der Kunst unüberwindlich sind, der Versuch,
dem engsten Parteiprogramm, dem eignen ästhetischen Modedogma die Welt¬
weite, die Tiefe, Fülle und allgemeine Bedeutung eines Evangeliums zuzu¬
sprechen. Wüßte man nicht, wie abhängig die Mehrzahl der Menschen von
einem immer und immer wieder behaupteten Satz ist, wie kurzsichtig der Blick
der Meisten ausschließlich am Nächste" haftet, wie unmöglich es viele dünkt,
sich vorzustellen, wie die heute gepriesenen Erscheinungen etwa in einem Viertel-
jahrhundert aussehen werden, so würde es erstaunlich und unbegreiflich sein,


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Edgar Steiger, der Verfasser der vielgenannten sozialdemokratischen
„Zwickcmer Dramaturgie," spricht wiederum zwar der ersten augenblicklich
waltenden Generation der Moderne die Müdigkeit der Kinder einer „dem
Untergange geweihten Kulturwelt" zu und läßt diesen Kindern entweder
nur die wehklagenden Delirien des Todeskampfes oder die Fähigkeit, „dem
sterbenden Verbrecher Kapitalismus" einen immer schärfern Spiegel seiner
Sünden vorzuhalten. Dafür aber soll der Dichter der Zukunft — der morgen
oder übermorgen erscheinen kann, wäre nur erst der große Krach da — ein
Starker, ein fröhlicher Überwinder, ein „Thatmensch des neuen Jahrhunderts
sein, der von seinem Vorgänger die neuen Augen und die feinen Nerven und
den nach innen gewandten Blick geerbt, aus der Tiefe der gärenden Volkskraft aber
die Lebensfreude und die Hoffnung und den Mut und die Kraft und die Selbst¬
herrlichkeit geschöpft hat," der mit Leichtigkeit hinausgelangt „aus der drückenden
Enge und der verdorbnen Stickluft, in der die Stimmungsmenschlein langsam
verglühen, auf das stürmende Meer des großen Lebens, wo der freie Wille
mit den Naturmächten kämpft, wo in der Ferne wie das helle Licht
eines Leuchtturms das neue moralische Ideal der Zukunftsmenschheit winkt."
Darauf, daß wir schwer begreifen, warum und wiefern gerade in dem grauen
Einerlei des großen allgemeinen Zuchthauses, das uns die soziale Revolution
verheißt, die Lebensfreude gedeihen und der freie Wille, den Philosophie und
Naturwissenschaften um die Wette eingescharrt haben, leuchtend auferstehen soll,
darauf kommt es hier gar nicht an, sondern auf die überraschende Thatsache,
daß alle beiseite gestoßnen und mit Achselzucken begrüßten, wohl gar als „aka¬
demisch" versenken Eigenschaften der großen, die Welt als ein Ganzes fühlenden
und fassenden Dichtung nun mit einemmale wieder in Sicht sind. Was wir in
der Dichtung der Gegenwart schmerzlich vermissen, was aber angeblich über¬
wunden, entbehrlich und unbrauchbar war, soll „künftig" alles wieder aufleben.
Nichts wird der poetischen Zukunft fehlen, was die Vergangenheit groß gemacht
hat, und alles wird ihr dazu geschenkt sein, was der Augenblick erringt.

Es ist immer dieselbe Taktik revolutionärer Parteien, die in diesem Doppel¬
spiel zu Tage tritt. Im Anfang die wildeste Verneinung, die alles, was be¬
steht, mit Mephistopheles darauf ansieht, daß es wert sei, zu Grunde zu gehen,
die leidenschaftlichste Lästerung der gewordnen Größen, die schrankenlose, ja oft
sinnlose Anpreisung des Neuen. Sodann aber, wenn sich ergiebt, daß die be¬
harrenden Mächte des Lebens wie der Kunst unüberwindlich sind, der Versuch,
dem engsten Parteiprogramm, dem eignen ästhetischen Modedogma die Welt¬
weite, die Tiefe, Fülle und allgemeine Bedeutung eines Evangeliums zuzu¬
sprechen. Wüßte man nicht, wie abhängig die Mehrzahl der Menschen von
einem immer und immer wieder behaupteten Satz ist, wie kurzsichtig der Blick
der Meisten ausschließlich am Nächste» haftet, wie unmöglich es viele dünkt,
sich vorzustellen, wie die heute gepriesenen Erscheinungen etwa in einem Viertel-
jahrhundert aussehen werden, so würde es erstaunlich und unbegreiflich sein,


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[0282] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur Edgar Steiger, der Verfasser der vielgenannten sozialdemokratischen „Zwickcmer Dramaturgie," spricht wiederum zwar der ersten augenblicklich waltenden Generation der Moderne die Müdigkeit der Kinder einer „dem Untergange geweihten Kulturwelt" zu und läßt diesen Kindern entweder nur die wehklagenden Delirien des Todeskampfes oder die Fähigkeit, „dem sterbenden Verbrecher Kapitalismus" einen immer schärfern Spiegel seiner Sünden vorzuhalten. Dafür aber soll der Dichter der Zukunft — der morgen oder übermorgen erscheinen kann, wäre nur erst der große Krach da — ein Starker, ein fröhlicher Überwinder, ein „Thatmensch des neuen Jahrhunderts sein, der von seinem Vorgänger die neuen Augen und die feinen Nerven und den nach innen gewandten Blick geerbt, aus der Tiefe der gärenden Volkskraft aber die Lebensfreude und die Hoffnung und den Mut und die Kraft und die Selbst¬ herrlichkeit geschöpft hat," der mit Leichtigkeit hinausgelangt „aus der drückenden Enge und der verdorbnen Stickluft, in der die Stimmungsmenschlein langsam verglühen, auf das stürmende Meer des großen Lebens, wo der freie Wille mit den Naturmächten kämpft, wo in der Ferne wie das helle Licht eines Leuchtturms das neue moralische Ideal der Zukunftsmenschheit winkt." Darauf, daß wir schwer begreifen, warum und wiefern gerade in dem grauen Einerlei des großen allgemeinen Zuchthauses, das uns die soziale Revolution verheißt, die Lebensfreude gedeihen und der freie Wille, den Philosophie und Naturwissenschaften um die Wette eingescharrt haben, leuchtend auferstehen soll, darauf kommt es hier gar nicht an, sondern auf die überraschende Thatsache, daß alle beiseite gestoßnen und mit Achselzucken begrüßten, wohl gar als „aka¬ demisch" versenken Eigenschaften der großen, die Welt als ein Ganzes fühlenden und fassenden Dichtung nun mit einemmale wieder in Sicht sind. Was wir in der Dichtung der Gegenwart schmerzlich vermissen, was aber angeblich über¬ wunden, entbehrlich und unbrauchbar war, soll „künftig" alles wieder aufleben. Nichts wird der poetischen Zukunft fehlen, was die Vergangenheit groß gemacht hat, und alles wird ihr dazu geschenkt sein, was der Augenblick erringt. Es ist immer dieselbe Taktik revolutionärer Parteien, die in diesem Doppel¬ spiel zu Tage tritt. Im Anfang die wildeste Verneinung, die alles, was be¬ steht, mit Mephistopheles darauf ansieht, daß es wert sei, zu Grunde zu gehen, die leidenschaftlichste Lästerung der gewordnen Größen, die schrankenlose, ja oft sinnlose Anpreisung des Neuen. Sodann aber, wenn sich ergiebt, daß die be¬ harrenden Mächte des Lebens wie der Kunst unüberwindlich sind, der Versuch, dem engsten Parteiprogramm, dem eignen ästhetischen Modedogma die Welt¬ weite, die Tiefe, Fülle und allgemeine Bedeutung eines Evangeliums zuzu¬ sprechen. Wüßte man nicht, wie abhängig die Mehrzahl der Menschen von einem immer und immer wieder behaupteten Satz ist, wie kurzsichtig der Blick der Meisten ausschließlich am Nächste» haftet, wie unmöglich es viele dünkt, sich vorzustellen, wie die heute gepriesenen Erscheinungen etwa in einem Viertel- jahrhundert aussehen werden, so würde es erstaunlich und unbegreiflich sein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/282>, abgerufen am 21.05.2024.