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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Möglich, daß ihm, nachdem er den zweimal erlebten Verlauf genommen hat,
spätere Revisionen, Ehrenrettungen und Erläuterungen der einzelnen Talente,
einzelner Schöpfungen, einzelner Anschauungen und Zusammenhange zu teil
werden, wie sie gegenwärtig für die ältern und jüngern Romantiker, in be¬
schränktem Maße auch für einige jungdeutsche Schriftsteller im Gange sind.
Zunächst aber werden das uuverwirkbare Recht des Dichters, die Welt mit
-eignen Augen zu sehen und aus eignen Mitteln poetisch zu verkörpern, die Not¬
wendigkeit, das Zwangsgesetz zu brechen, das jeden lebenden Autor verurteilen
will, Brillen aus deu Werkstätten Nietzsches, Tolstois, Darwins, Mantegazzas
und zwanzig andrer Weisen zu tragen, das unausrottbare Bewußtsein des
deutschen Volks, daß unsre Litteratur ein Ganzes ist und bleibt, voraus¬
sichtlich den Zusammenhang und Zusammenhalt herstellen und ungefähr so
dreinfahreu, unbekümmert um die Unbill im einzelnen, wie es nach der roman¬
tischen und nach der jungdeutschen Revolution geschehen ist.

Je gewisser dies alles ist, um so unbegreiflicher scheint es, daß ein guter
Teil der die höchste" Ansprüche erhebenden deutschen Kritik und eine große Zahl
von Vertretern der Litteraturgeschichte dem fanatischen Eifer und dein schranken¬
losen Selbstgefühl einer Gruppe jüngster Dichter und Schriftsteller das Wort
redet und die Miene annimmt, als ob die menschliche Natur und die unnatür¬
lichen Auswüchse entarteter Kultur, die dem Gesetz des Lebeus selbst entsprechende
Fortbildung und der fratzenhafte Manierismus in der Kunst, der Gegensatz und
die Wechselwirkung von Alter und Jugend und der willkürliche Krieg einer
litterarischen Koterie, die sich setzen will, gegen eine andre, die sitzt oder much nur
zu sitzen wähnt, immer und überall ein und dasselbe wären. Und doch ist nichts
Unbegreifliches dabei. Erstens hat die Anschauung, die ästhetische Werturteile
überhaupt verwirft und es wissenschaftlich sichrer, in Wahrheit bequemer findet,
nicht das Verhältnis der poetischen Potenzen und Individualitäten zu Welt
A"d Leben, sondern ihr Verhältnis zum augenblicks modischen Stil zu unter¬
suchen und zu bestimmen, unvermeidlich die Tendenz , soviel als möglich alle
litterarischen Erscheinungen eines Zeitraums dem Stil der betreffenden Zeit
-unterzuordnen. Daher ist die Existenz selbständiger und eigentümlicher Talente,
die sich uicht wohl als Nachfahren des vorher herrschenden Stils beiseite
schieben lassen, äußerst unwillkommen. Zweitens ist auch die Kritik und selbst
die Wissenschaft unsrer Tage -- wenigstens ein Teil ihrer Träger -- von dem
modernen Vorwärtshasten, dem Drängen und Gedrängtwerden in dem Maße
abhängig geworden, daß sie lieber in einen Abgrund hiuciureunt, als einen
Augenblick, den Weg prüfend, stehen bleibt. Drittens ist das Gefühl für eine
Bewegung als solche in eigentümlicher, beinahe krankhafter Weise geschärft, das
Urteil aber, ob eine Bewegung eine aufsteigende oder absteigende sei, bis zu dem
Grade abgestumpft, daß sogar die Behauptung, es gebe auf geistigem Gebiete
überhaupt keine absteigende Bewegung, kecklich hinausgeschleudert wird. So darf
es nicht allzu sehr Wunder nehmen, daß sich eine große Gruppe gerade der Ge-


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

Möglich, daß ihm, nachdem er den zweimal erlebten Verlauf genommen hat,
spätere Revisionen, Ehrenrettungen und Erläuterungen der einzelnen Talente,
einzelner Schöpfungen, einzelner Anschauungen und Zusammenhange zu teil
werden, wie sie gegenwärtig für die ältern und jüngern Romantiker, in be¬
schränktem Maße auch für einige jungdeutsche Schriftsteller im Gange sind.
Zunächst aber werden das uuverwirkbare Recht des Dichters, die Welt mit
-eignen Augen zu sehen und aus eignen Mitteln poetisch zu verkörpern, die Not¬
wendigkeit, das Zwangsgesetz zu brechen, das jeden lebenden Autor verurteilen
will, Brillen aus deu Werkstätten Nietzsches, Tolstois, Darwins, Mantegazzas
und zwanzig andrer Weisen zu tragen, das unausrottbare Bewußtsein des
deutschen Volks, daß unsre Litteratur ein Ganzes ist und bleibt, voraus¬
sichtlich den Zusammenhang und Zusammenhalt herstellen und ungefähr so
dreinfahreu, unbekümmert um die Unbill im einzelnen, wie es nach der roman¬
tischen und nach der jungdeutschen Revolution geschehen ist.

Je gewisser dies alles ist, um so unbegreiflicher scheint es, daß ein guter
Teil der die höchste» Ansprüche erhebenden deutschen Kritik und eine große Zahl
von Vertretern der Litteraturgeschichte dem fanatischen Eifer und dein schranken¬
losen Selbstgefühl einer Gruppe jüngster Dichter und Schriftsteller das Wort
redet und die Miene annimmt, als ob die menschliche Natur und die unnatür¬
lichen Auswüchse entarteter Kultur, die dem Gesetz des Lebeus selbst entsprechende
Fortbildung und der fratzenhafte Manierismus in der Kunst, der Gegensatz und
die Wechselwirkung von Alter und Jugend und der willkürliche Krieg einer
litterarischen Koterie, die sich setzen will, gegen eine andre, die sitzt oder much nur
zu sitzen wähnt, immer und überall ein und dasselbe wären. Und doch ist nichts
Unbegreifliches dabei. Erstens hat die Anschauung, die ästhetische Werturteile
überhaupt verwirft und es wissenschaftlich sichrer, in Wahrheit bequemer findet,
nicht das Verhältnis der poetischen Potenzen und Individualitäten zu Welt
A«d Leben, sondern ihr Verhältnis zum augenblicks modischen Stil zu unter¬
suchen und zu bestimmen, unvermeidlich die Tendenz , soviel als möglich alle
litterarischen Erscheinungen eines Zeitraums dem Stil der betreffenden Zeit
-unterzuordnen. Daher ist die Existenz selbständiger und eigentümlicher Talente,
die sich uicht wohl als Nachfahren des vorher herrschenden Stils beiseite
schieben lassen, äußerst unwillkommen. Zweitens ist auch die Kritik und selbst
die Wissenschaft unsrer Tage — wenigstens ein Teil ihrer Träger — von dem
modernen Vorwärtshasten, dem Drängen und Gedrängtwerden in dem Maße
abhängig geworden, daß sie lieber in einen Abgrund hiuciureunt, als einen
Augenblick, den Weg prüfend, stehen bleibt. Drittens ist das Gefühl für eine
Bewegung als solche in eigentümlicher, beinahe krankhafter Weise geschärft, das
Urteil aber, ob eine Bewegung eine aufsteigende oder absteigende sei, bis zu dem
Grade abgestumpft, daß sogar die Behauptung, es gebe auf geistigem Gebiete
überhaupt keine absteigende Bewegung, kecklich hinausgeschleudert wird. So darf
es nicht allzu sehr Wunder nehmen, daß sich eine große Gruppe gerade der Ge-


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[0034] Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur Möglich, daß ihm, nachdem er den zweimal erlebten Verlauf genommen hat, spätere Revisionen, Ehrenrettungen und Erläuterungen der einzelnen Talente, einzelner Schöpfungen, einzelner Anschauungen und Zusammenhange zu teil werden, wie sie gegenwärtig für die ältern und jüngern Romantiker, in be¬ schränktem Maße auch für einige jungdeutsche Schriftsteller im Gange sind. Zunächst aber werden das uuverwirkbare Recht des Dichters, die Welt mit -eignen Augen zu sehen und aus eignen Mitteln poetisch zu verkörpern, die Not¬ wendigkeit, das Zwangsgesetz zu brechen, das jeden lebenden Autor verurteilen will, Brillen aus deu Werkstätten Nietzsches, Tolstois, Darwins, Mantegazzas und zwanzig andrer Weisen zu tragen, das unausrottbare Bewußtsein des deutschen Volks, daß unsre Litteratur ein Ganzes ist und bleibt, voraus¬ sichtlich den Zusammenhang und Zusammenhalt herstellen und ungefähr so dreinfahreu, unbekümmert um die Unbill im einzelnen, wie es nach der roman¬ tischen und nach der jungdeutschen Revolution geschehen ist. Je gewisser dies alles ist, um so unbegreiflicher scheint es, daß ein guter Teil der die höchste» Ansprüche erhebenden deutschen Kritik und eine große Zahl von Vertretern der Litteraturgeschichte dem fanatischen Eifer und dein schranken¬ losen Selbstgefühl einer Gruppe jüngster Dichter und Schriftsteller das Wort redet und die Miene annimmt, als ob die menschliche Natur und die unnatür¬ lichen Auswüchse entarteter Kultur, die dem Gesetz des Lebeus selbst entsprechende Fortbildung und der fratzenhafte Manierismus in der Kunst, der Gegensatz und die Wechselwirkung von Alter und Jugend und der willkürliche Krieg einer litterarischen Koterie, die sich setzen will, gegen eine andre, die sitzt oder much nur zu sitzen wähnt, immer und überall ein und dasselbe wären. Und doch ist nichts Unbegreifliches dabei. Erstens hat die Anschauung, die ästhetische Werturteile überhaupt verwirft und es wissenschaftlich sichrer, in Wahrheit bequemer findet, nicht das Verhältnis der poetischen Potenzen und Individualitäten zu Welt A«d Leben, sondern ihr Verhältnis zum augenblicks modischen Stil zu unter¬ suchen und zu bestimmen, unvermeidlich die Tendenz , soviel als möglich alle litterarischen Erscheinungen eines Zeitraums dem Stil der betreffenden Zeit -unterzuordnen. Daher ist die Existenz selbständiger und eigentümlicher Talente, die sich uicht wohl als Nachfahren des vorher herrschenden Stils beiseite schieben lassen, äußerst unwillkommen. Zweitens ist auch die Kritik und selbst die Wissenschaft unsrer Tage — wenigstens ein Teil ihrer Träger — von dem modernen Vorwärtshasten, dem Drängen und Gedrängtwerden in dem Maße abhängig geworden, daß sie lieber in einen Abgrund hiuciureunt, als einen Augenblick, den Weg prüfend, stehen bleibt. Drittens ist das Gefühl für eine Bewegung als solche in eigentümlicher, beinahe krankhafter Weise geschärft, das Urteil aber, ob eine Bewegung eine aufsteigende oder absteigende sei, bis zu dem Grade abgestumpft, daß sogar die Behauptung, es gebe auf geistigem Gebiete überhaupt keine absteigende Bewegung, kecklich hinausgeschleudert wird. So darf es nicht allzu sehr Wunder nehmen, daß sich eine große Gruppe gerade der Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/34>, abgerufen am 21.05.2024.