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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

Mythus ringt alle Geschichte nieder. Keine Kritik kann das von einem kräf¬
tigen Sinn im Jugendalter der Nation Znsammengeschaute in seine Bestand¬
teile zerlegen. Diese Nation gilt für "klassisch" im Gegensatz zu aller Romantik.
Wenn aber Romantik Zurückbeziehung aller Dinge und Anschauungen auf eine
Poetisch gestaltete Vorzeit ist, so hatten die Griechen in ihrem Mythus "eine
ganz kolossale Romantik zur allherrschenden geistigen Voraussetzung." Histo¬
rische Reminiscenzen siud, einige Schlachtfelder ausgenommen, wo die Kulte
das Andenken wach hielten, so viel als Null; niemand wünschte zu wissen,
wo einst Solon, Perikles oder Demosthenes gestanden haben möchten, während
man über die klassischen Stellen der Fabelzeit den genausten Bescheid haben
wollte. Burckhardt fragt, ob Wohl die germanische und keltische Heldensage
den Horizont des spätern Mittelalters auch nur annähernd so beherrscht habe.
Er hätte noch an etwas andres erinnern können. Daß Herodot unterhaltender
zu lesen ist als Thukydides, finden nicht nur moderne nichtphilologische Leser,
schon im Altertum hielt man die Lektüre Herodots für besonders vergnüglich,
er hat so recht für die ii xriors mythisch gesinnten und kaum aus dem Traume
ihrer Fabelwelt erwachten Griechen gedichtet. Indem wir heute mit unendlicher
Mühe und sehr geringen positiven Erfolgen das Thatsächliche im Thukydides
zu berichtigen suchen, thun wir etwas, woran ihnen selbst ungemein wenig lag.
Eine Darstellung ihrer geschichtlichen Meinungen zunächst an der Hand Herodots
wäre an sich erreichbar, sie wäre weit mehr in ihrem eignen Sinne und hätte
endlich für die Gegenwart einen viel höhern Reiz als eine Thatsacheukritik,
ans die sich keinerlei Darstellung mehr aufbauen läßt.

Je anspruchsvoller und genauer wir im Thatsächlichen werden, desto mehr
wird sich von der Essenz verflüchtigen, die uns die Griechen wertvoll macht.
Was wäre die ganze alte Geschichte, wenn man sich die Kultur der Griechen
davon losgelöst dächte? Ohne sie, sagt Burckhardt, hätten wir kein Interesse
für die Vorzeit, und was wir ohne sie wissen könnten, würden wir zu wissen
nicht begehren. In ihrer mythischen Vorzeit gefangen, zu einer buchstäblichen
Geschichte nur ganz allmählich befähigt, in poetischer Bildlichkeit ganz auf¬
gehend, waren sie doch bestimmt, alle Völker zuerst zu versteh", den Orient zu
unterwerfen und die Kultur des Hellenismus zu schaffen, woran für uns die
weitere Kulturentwicklung hängt, denn "nur durch die Griechen Hunger die
Zeiten und das Interesse für diese Zeiten an einander. Neben dieser endlosen
Bereicherung des Gedankens bekommen wir dann noch als Beigabe die Reste
ihres Schaffens und Könnens. Wir sehen mit ihren Augen und sprechen mit
ihren Ausdrücken. Aber von allen Kulturvölkern sind die Griechen das, welches
sich das bitterste, empfundenste Leid angethan hat." Der letzte Satz geht auf
die politische Geschichte; er ist mit dem Herzen geschrieben.

Die Vorlesungen, aus denen diese zwei Bände hervorgingen, sind min¬
destens fünfmal vier- und fünfstündig vor vielen Zuhörern aller Fakultäten


Grenzboten II I89S ö
Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

Mythus ringt alle Geschichte nieder. Keine Kritik kann das von einem kräf¬
tigen Sinn im Jugendalter der Nation Znsammengeschaute in seine Bestand¬
teile zerlegen. Diese Nation gilt für „klassisch" im Gegensatz zu aller Romantik.
Wenn aber Romantik Zurückbeziehung aller Dinge und Anschauungen auf eine
Poetisch gestaltete Vorzeit ist, so hatten die Griechen in ihrem Mythus „eine
ganz kolossale Romantik zur allherrschenden geistigen Voraussetzung." Histo¬
rische Reminiscenzen siud, einige Schlachtfelder ausgenommen, wo die Kulte
das Andenken wach hielten, so viel als Null; niemand wünschte zu wissen,
wo einst Solon, Perikles oder Demosthenes gestanden haben möchten, während
man über die klassischen Stellen der Fabelzeit den genausten Bescheid haben
wollte. Burckhardt fragt, ob Wohl die germanische und keltische Heldensage
den Horizont des spätern Mittelalters auch nur annähernd so beherrscht habe.
Er hätte noch an etwas andres erinnern können. Daß Herodot unterhaltender
zu lesen ist als Thukydides, finden nicht nur moderne nichtphilologische Leser,
schon im Altertum hielt man die Lektüre Herodots für besonders vergnüglich,
er hat so recht für die ii xriors mythisch gesinnten und kaum aus dem Traume
ihrer Fabelwelt erwachten Griechen gedichtet. Indem wir heute mit unendlicher
Mühe und sehr geringen positiven Erfolgen das Thatsächliche im Thukydides
zu berichtigen suchen, thun wir etwas, woran ihnen selbst ungemein wenig lag.
Eine Darstellung ihrer geschichtlichen Meinungen zunächst an der Hand Herodots
wäre an sich erreichbar, sie wäre weit mehr in ihrem eignen Sinne und hätte
endlich für die Gegenwart einen viel höhern Reiz als eine Thatsacheukritik,
ans die sich keinerlei Darstellung mehr aufbauen läßt.

Je anspruchsvoller und genauer wir im Thatsächlichen werden, desto mehr
wird sich von der Essenz verflüchtigen, die uns die Griechen wertvoll macht.
Was wäre die ganze alte Geschichte, wenn man sich die Kultur der Griechen
davon losgelöst dächte? Ohne sie, sagt Burckhardt, hätten wir kein Interesse
für die Vorzeit, und was wir ohne sie wissen könnten, würden wir zu wissen
nicht begehren. In ihrer mythischen Vorzeit gefangen, zu einer buchstäblichen
Geschichte nur ganz allmählich befähigt, in poetischer Bildlichkeit ganz auf¬
gehend, waren sie doch bestimmt, alle Völker zuerst zu versteh», den Orient zu
unterwerfen und die Kultur des Hellenismus zu schaffen, woran für uns die
weitere Kulturentwicklung hängt, denn „nur durch die Griechen Hunger die
Zeiten und das Interesse für diese Zeiten an einander. Neben dieser endlosen
Bereicherung des Gedankens bekommen wir dann noch als Beigabe die Reste
ihres Schaffens und Könnens. Wir sehen mit ihren Augen und sprechen mit
ihren Ausdrücken. Aber von allen Kulturvölkern sind die Griechen das, welches
sich das bitterste, empfundenste Leid angethan hat." Der letzte Satz geht auf
die politische Geschichte; er ist mit dem Herzen geschrieben.

Die Vorlesungen, aus denen diese zwei Bände hervorgingen, sind min¬
destens fünfmal vier- und fünfstündig vor vielen Zuhörern aller Fakultäten


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[0041] Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte Mythus ringt alle Geschichte nieder. Keine Kritik kann das von einem kräf¬ tigen Sinn im Jugendalter der Nation Znsammengeschaute in seine Bestand¬ teile zerlegen. Diese Nation gilt für „klassisch" im Gegensatz zu aller Romantik. Wenn aber Romantik Zurückbeziehung aller Dinge und Anschauungen auf eine Poetisch gestaltete Vorzeit ist, so hatten die Griechen in ihrem Mythus „eine ganz kolossale Romantik zur allherrschenden geistigen Voraussetzung." Histo¬ rische Reminiscenzen siud, einige Schlachtfelder ausgenommen, wo die Kulte das Andenken wach hielten, so viel als Null; niemand wünschte zu wissen, wo einst Solon, Perikles oder Demosthenes gestanden haben möchten, während man über die klassischen Stellen der Fabelzeit den genausten Bescheid haben wollte. Burckhardt fragt, ob Wohl die germanische und keltische Heldensage den Horizont des spätern Mittelalters auch nur annähernd so beherrscht habe. Er hätte noch an etwas andres erinnern können. Daß Herodot unterhaltender zu lesen ist als Thukydides, finden nicht nur moderne nichtphilologische Leser, schon im Altertum hielt man die Lektüre Herodots für besonders vergnüglich, er hat so recht für die ii xriors mythisch gesinnten und kaum aus dem Traume ihrer Fabelwelt erwachten Griechen gedichtet. Indem wir heute mit unendlicher Mühe und sehr geringen positiven Erfolgen das Thatsächliche im Thukydides zu berichtigen suchen, thun wir etwas, woran ihnen selbst ungemein wenig lag. Eine Darstellung ihrer geschichtlichen Meinungen zunächst an der Hand Herodots wäre an sich erreichbar, sie wäre weit mehr in ihrem eignen Sinne und hätte endlich für die Gegenwart einen viel höhern Reiz als eine Thatsacheukritik, ans die sich keinerlei Darstellung mehr aufbauen läßt. Je anspruchsvoller und genauer wir im Thatsächlichen werden, desto mehr wird sich von der Essenz verflüchtigen, die uns die Griechen wertvoll macht. Was wäre die ganze alte Geschichte, wenn man sich die Kultur der Griechen davon losgelöst dächte? Ohne sie, sagt Burckhardt, hätten wir kein Interesse für die Vorzeit, und was wir ohne sie wissen könnten, würden wir zu wissen nicht begehren. In ihrer mythischen Vorzeit gefangen, zu einer buchstäblichen Geschichte nur ganz allmählich befähigt, in poetischer Bildlichkeit ganz auf¬ gehend, waren sie doch bestimmt, alle Völker zuerst zu versteh», den Orient zu unterwerfen und die Kultur des Hellenismus zu schaffen, woran für uns die weitere Kulturentwicklung hängt, denn „nur durch die Griechen Hunger die Zeiten und das Interesse für diese Zeiten an einander. Neben dieser endlosen Bereicherung des Gedankens bekommen wir dann noch als Beigabe die Reste ihres Schaffens und Könnens. Wir sehen mit ihren Augen und sprechen mit ihren Ausdrücken. Aber von allen Kulturvölkern sind die Griechen das, welches sich das bitterste, empfundenste Leid angethan hat." Der letzte Satz geht auf die politische Geschichte; er ist mit dem Herzen geschrieben. Die Vorlesungen, aus denen diese zwei Bände hervorgingen, sind min¬ destens fünfmal vier- und fünfstündig vor vielen Zuhörern aller Fakultäten Grenzboten II I89S ö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/41>, abgerufen am 21.05.2024.