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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Dreyfus

zwei Stimmen: Der Angeklagte ist schuldig -- und mit Majorität: es sind
mildernde Umstände vorhanden."

Darauf hin ist Dreyfus zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe an Stelle
der 1894 verhängten lebenslänglichen Deportation verurteilt worden. Der
Wortlaut ist deshalb wichtig, weil er in der üblichen Form die Handlung,
durch die der Verurteilte das vorher definierte Verbrechen begangen haben soll,
genau bezeichnet: die Überlieferung der im Bordereau aufgezählten lind im
Urteil des Kasfationshofs erwähnten Schriftstücke. Hatte die Beweisaufnahme
diese Thatsache festgestellt, dann war Dreyfus wegen Landesverrats zu ver¬
urteilen; hatte die Beweisaufnahme das nicht vermocht, dann war er freizu¬
sprechen.

Was ist nun in dieser Beziehung das Ergebnis des ganzen Verfahrens
gewesen?

In den jahrelangen, bis zum Übermaß in der Öffentlichkeit breit getretner
offiziellen Verhandlungen ist immer nur von zwei fremden Mächten, zu deren
Gunsten in dieser Sache Verrat geübt worden sei, gesprochen worden; jedenfalls
hat sich die Beweisaufnahme in Nennes nur mit dem Deutschen Reiche und
mit Italien, d. h. mit ihren "Agenten" ^. und L -- Schwarztoppeu und
Panizzardi -- befaßt. Daß etwa außerdem die Auslieferung eines Teils der
bezeichneten Schriftstücke an eine dritte Macht -- vielleicht unter Ausschluß
der Öffentlichkeit -- unter Beweis gestellt worden sei, ist nach dem Verlauf
der öffentlichen Verhandlungen, namentlich nach den Schlußreden des öffent¬
lichen Anklägers sowie der Verteidigung ganz ausgeschlossen. Das Militär¬
gericht in Nennes hat in dem Erkenntnis vom 9. September nur die Aus¬
lieferung an Deutschland oder Italien gemeint und meinen können. Jetzt noch
von der Möglichkeit zu sprechen, Dreyfus sei wegen Verrath zu Gunsten Ru߬
lands verurteilt worden, ist bei unbefangner Würdigung aller Umstünde un¬
möglich.

Die Erklärungen, die der deutsche Botschafter in Paris, Graf Münster,
und der Staatssekretär des Auswärtigen in Berlin, Graf von Bülow, zur
Sache abgegeben haben, fallen dafür schwer ins Gewicht und vollends ihre
nochmalige Veröffentlichung im amtlichen Teile des Reichsanzeigers vom
8. September. Auch diese Urkunde muß in ihrem Wortlaute festgehalten
werden. Die Veröffentlichung im Reichsanzeiger lautete:

"Wir sind ermächtigt, nachstehend die Erklärungen zu wiederholen, welche
hinsichtlich des französischen Hauptmanns Dreyfus die kaiserliche Regierung,
bei loyaler Beobachtung der einer fremden innern Angelegenheit gegenüber ge-
botnen Zurückhaltung, zur Wahrung ihrer eignen Würde und zur Erfüllung
einer Pflicht der Menschlichkeit abgegeben hat.

"Der kaiserliche Botschafter bei der französischen Republik, Fürst Münster
von Derneburg, hat nach Einholung der Allerhöchsten Befehle Seiner Majestät
des Kaisers im Dezember 1894 und Januar 1895 dem Minister des Aus-


Dreyfus

zwei Stimmen: Der Angeklagte ist schuldig — und mit Majorität: es sind
mildernde Umstände vorhanden."

Darauf hin ist Dreyfus zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe an Stelle
der 1894 verhängten lebenslänglichen Deportation verurteilt worden. Der
Wortlaut ist deshalb wichtig, weil er in der üblichen Form die Handlung,
durch die der Verurteilte das vorher definierte Verbrechen begangen haben soll,
genau bezeichnet: die Überlieferung der im Bordereau aufgezählten lind im
Urteil des Kasfationshofs erwähnten Schriftstücke. Hatte die Beweisaufnahme
diese Thatsache festgestellt, dann war Dreyfus wegen Landesverrats zu ver¬
urteilen; hatte die Beweisaufnahme das nicht vermocht, dann war er freizu¬
sprechen.

Was ist nun in dieser Beziehung das Ergebnis des ganzen Verfahrens
gewesen?

In den jahrelangen, bis zum Übermaß in der Öffentlichkeit breit getretner
offiziellen Verhandlungen ist immer nur von zwei fremden Mächten, zu deren
Gunsten in dieser Sache Verrat geübt worden sei, gesprochen worden; jedenfalls
hat sich die Beweisaufnahme in Nennes nur mit dem Deutschen Reiche und
mit Italien, d. h. mit ihren „Agenten" ^. und L — Schwarztoppeu und
Panizzardi — befaßt. Daß etwa außerdem die Auslieferung eines Teils der
bezeichneten Schriftstücke an eine dritte Macht — vielleicht unter Ausschluß
der Öffentlichkeit — unter Beweis gestellt worden sei, ist nach dem Verlauf
der öffentlichen Verhandlungen, namentlich nach den Schlußreden des öffent¬
lichen Anklägers sowie der Verteidigung ganz ausgeschlossen. Das Militär¬
gericht in Nennes hat in dem Erkenntnis vom 9. September nur die Aus¬
lieferung an Deutschland oder Italien gemeint und meinen können. Jetzt noch
von der Möglichkeit zu sprechen, Dreyfus sei wegen Verrath zu Gunsten Ru߬
lands verurteilt worden, ist bei unbefangner Würdigung aller Umstünde un¬
möglich.

Die Erklärungen, die der deutsche Botschafter in Paris, Graf Münster,
und der Staatssekretär des Auswärtigen in Berlin, Graf von Bülow, zur
Sache abgegeben haben, fallen dafür schwer ins Gewicht und vollends ihre
nochmalige Veröffentlichung im amtlichen Teile des Reichsanzeigers vom
8. September. Auch diese Urkunde muß in ihrem Wortlaute festgehalten
werden. Die Veröffentlichung im Reichsanzeiger lautete:

„Wir sind ermächtigt, nachstehend die Erklärungen zu wiederholen, welche
hinsichtlich des französischen Hauptmanns Dreyfus die kaiserliche Regierung,
bei loyaler Beobachtung der einer fremden innern Angelegenheit gegenüber ge-
botnen Zurückhaltung, zur Wahrung ihrer eignen Würde und zur Erfüllung
einer Pflicht der Menschlichkeit abgegeben hat.

„Der kaiserliche Botschafter bei der französischen Republik, Fürst Münster
von Derneburg, hat nach Einholung der Allerhöchsten Befehle Seiner Majestät
des Kaisers im Dezember 1894 und Januar 1895 dem Minister des Aus-


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[0138] Dreyfus zwei Stimmen: Der Angeklagte ist schuldig — und mit Majorität: es sind mildernde Umstände vorhanden." Darauf hin ist Dreyfus zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe an Stelle der 1894 verhängten lebenslänglichen Deportation verurteilt worden. Der Wortlaut ist deshalb wichtig, weil er in der üblichen Form die Handlung, durch die der Verurteilte das vorher definierte Verbrechen begangen haben soll, genau bezeichnet: die Überlieferung der im Bordereau aufgezählten lind im Urteil des Kasfationshofs erwähnten Schriftstücke. Hatte die Beweisaufnahme diese Thatsache festgestellt, dann war Dreyfus wegen Landesverrats zu ver¬ urteilen; hatte die Beweisaufnahme das nicht vermocht, dann war er freizu¬ sprechen. Was ist nun in dieser Beziehung das Ergebnis des ganzen Verfahrens gewesen? In den jahrelangen, bis zum Übermaß in der Öffentlichkeit breit getretner offiziellen Verhandlungen ist immer nur von zwei fremden Mächten, zu deren Gunsten in dieser Sache Verrat geübt worden sei, gesprochen worden; jedenfalls hat sich die Beweisaufnahme in Nennes nur mit dem Deutschen Reiche und mit Italien, d. h. mit ihren „Agenten" ^. und L — Schwarztoppeu und Panizzardi — befaßt. Daß etwa außerdem die Auslieferung eines Teils der bezeichneten Schriftstücke an eine dritte Macht — vielleicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit — unter Beweis gestellt worden sei, ist nach dem Verlauf der öffentlichen Verhandlungen, namentlich nach den Schlußreden des öffent¬ lichen Anklägers sowie der Verteidigung ganz ausgeschlossen. Das Militär¬ gericht in Nennes hat in dem Erkenntnis vom 9. September nur die Aus¬ lieferung an Deutschland oder Italien gemeint und meinen können. Jetzt noch von der Möglichkeit zu sprechen, Dreyfus sei wegen Verrath zu Gunsten Ru߬ lands verurteilt worden, ist bei unbefangner Würdigung aller Umstünde un¬ möglich. Die Erklärungen, die der deutsche Botschafter in Paris, Graf Münster, und der Staatssekretär des Auswärtigen in Berlin, Graf von Bülow, zur Sache abgegeben haben, fallen dafür schwer ins Gewicht und vollends ihre nochmalige Veröffentlichung im amtlichen Teile des Reichsanzeigers vom 8. September. Auch diese Urkunde muß in ihrem Wortlaute festgehalten werden. Die Veröffentlichung im Reichsanzeiger lautete: „Wir sind ermächtigt, nachstehend die Erklärungen zu wiederholen, welche hinsichtlich des französischen Hauptmanns Dreyfus die kaiserliche Regierung, bei loyaler Beobachtung der einer fremden innern Angelegenheit gegenüber ge- botnen Zurückhaltung, zur Wahrung ihrer eignen Würde und zur Erfüllung einer Pflicht der Menschlichkeit abgegeben hat. „Der kaiserliche Botschafter bei der französischen Republik, Fürst Münster von Derneburg, hat nach Einholung der Allerhöchsten Befehle Seiner Majestät des Kaisers im Dezember 1894 und Januar 1895 dem Minister des Aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/138>, abgerufen am 19.05.2024.