Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Allerhand Rüstzeug und Waffen des Strafrichters

wie sich die Verbrecher diese Fortschritte zu nutze zu macheu wissen. Wichtig
ist hier vor allem die Jnteruatioualität, die sich in der Strafverfolgung
schwererer und gefährlicherer Verbrecher mehr und mehr einzubürgern be¬
ginnt, nicht nur durch Nuslieferungsvertrüge und durch wechselseitige Rechts¬
hilfe bei den: eigentlichen Strafverfahren gegen den entdeckten Verbrecher,
sondern vor allein auch dnrch gemeinschaftliche Einrichtungen zum Schutze
gegen beabsichtigte Verbrechen und zur Ermittlung unbekannter Thäter.
Das internationale Gauner- und Verbrechertum kennt keine Grenzen, man
braucht nur an den Anarchismus zu denken; aber auch alles, was wir
unter dem Namen Hochstapler zusammenzufassen pflegen, gehört hierher; es
leuchtet ein, wie wichtig es ist, den verhältnismäßig harmlosen Gelegenheits¬
dieb mit einiger Sicherheit von dem anderwärts bekannten und längst gesuchten
Gewohnheitsverbrecher unterscheiden zu können. Steckbriefe mit der schönsten
Personalbeschreibung versagen hier: der Neuling begeht zuerst eine That und
sucht sich dann unkenntlich zu machen; der gewiegte Verbrecher dagegen macht
sich vor dem Verbrechen unkenntlich und entflieht sodann in seiner wahren
Gestalt.

Groß meint, beim Studium vou Steckbriefen sei deshalb von vornherein
alles für bedenklich und nicht für echt zu halten, was besonders auffallend sei.
Die zuverlässigste Hilfe in solchen Fällen bietet uns die Photographie, deren
ganze Leistungsfähigkeit für Zwecke der Strafrechtspflege wir auch heute noch
kaum cchueu können. Sehr oft ist dabei freilich der Zufall der einzige Freund
des Kriminalisten. Wo er versagt, muß man sich auf andre Weise zu helfen
suchen, denn selbstverständlich ist es ausgeschlossen, die Photographie irgend
eiues verdächtigen Landstreichers oder Diebes in der ganzen Welt herumzu-
schicken, ob sie vielleicht irgendwo erkannt werden könnte. Hier setzt die anthro-
pometrische Messung, oder wie man sie nach ihrem Erfinder Alphonse Bertillvn
in Paris nennt, die Vertillonage ein, die in wenigen Jahren, seit 1879, ihren
Siegeslauf durch die ganze Welt genommen hat. Bertillon fußt auf der That¬
sache, daß beim erwachsenen Menschen etwa vom einundzwanzigsten Lebensjahre
ab alles unverändert bleibt, was in seinen Maßen durch Knochen oder Knorpel
bestimmt wird; es werden also mit besondern Werkzeugen und vor allem mit
der größten Genauigkeit gemessen die Körperhöhe, die Spannweite der Arme,
die Höhe des Oberkörpers in sitzender Stellung, die Länge und Breite des
Kopfes, die Läuge und Breite des rechten Ohres, die Länge des linken Fußes, die
Länge des linken Mittelfingers, die Länge des linken kleinen Fingers und der Ab¬
stand vom linken Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers. Der Wert der
Messungen besteht darin, daß unter hunderttausend Menschen kaum zehn gefunden
werden können, bei denen sämtliche Maße auch nur annähernd übereinstimmen
würden. Überaus sorgfältig behandelt Bertillon die Feststellung der Ohrmuschel;
er behauptet, auf Grund der Merkmale des Ohrs allein die Menschen unterscheiden


Allerhand Rüstzeug und Waffen des Strafrichters

wie sich die Verbrecher diese Fortschritte zu nutze zu macheu wissen. Wichtig
ist hier vor allem die Jnteruatioualität, die sich in der Strafverfolgung
schwererer und gefährlicherer Verbrecher mehr und mehr einzubürgern be¬
ginnt, nicht nur durch Nuslieferungsvertrüge und durch wechselseitige Rechts¬
hilfe bei den: eigentlichen Strafverfahren gegen den entdeckten Verbrecher,
sondern vor allein auch dnrch gemeinschaftliche Einrichtungen zum Schutze
gegen beabsichtigte Verbrechen und zur Ermittlung unbekannter Thäter.
Das internationale Gauner- und Verbrechertum kennt keine Grenzen, man
braucht nur an den Anarchismus zu denken; aber auch alles, was wir
unter dem Namen Hochstapler zusammenzufassen pflegen, gehört hierher; es
leuchtet ein, wie wichtig es ist, den verhältnismäßig harmlosen Gelegenheits¬
dieb mit einiger Sicherheit von dem anderwärts bekannten und längst gesuchten
Gewohnheitsverbrecher unterscheiden zu können. Steckbriefe mit der schönsten
Personalbeschreibung versagen hier: der Neuling begeht zuerst eine That und
sucht sich dann unkenntlich zu machen; der gewiegte Verbrecher dagegen macht
sich vor dem Verbrechen unkenntlich und entflieht sodann in seiner wahren
Gestalt.

Groß meint, beim Studium vou Steckbriefen sei deshalb von vornherein
alles für bedenklich und nicht für echt zu halten, was besonders auffallend sei.
Die zuverlässigste Hilfe in solchen Fällen bietet uns die Photographie, deren
ganze Leistungsfähigkeit für Zwecke der Strafrechtspflege wir auch heute noch
kaum cchueu können. Sehr oft ist dabei freilich der Zufall der einzige Freund
des Kriminalisten. Wo er versagt, muß man sich auf andre Weise zu helfen
suchen, denn selbstverständlich ist es ausgeschlossen, die Photographie irgend
eiues verdächtigen Landstreichers oder Diebes in der ganzen Welt herumzu-
schicken, ob sie vielleicht irgendwo erkannt werden könnte. Hier setzt die anthro-
pometrische Messung, oder wie man sie nach ihrem Erfinder Alphonse Bertillvn
in Paris nennt, die Vertillonage ein, die in wenigen Jahren, seit 1879, ihren
Siegeslauf durch die ganze Welt genommen hat. Bertillon fußt auf der That¬
sache, daß beim erwachsenen Menschen etwa vom einundzwanzigsten Lebensjahre
ab alles unverändert bleibt, was in seinen Maßen durch Knochen oder Knorpel
bestimmt wird; es werden also mit besondern Werkzeugen und vor allem mit
der größten Genauigkeit gemessen die Körperhöhe, die Spannweite der Arme,
die Höhe des Oberkörpers in sitzender Stellung, die Länge und Breite des
Kopfes, die Läuge und Breite des rechten Ohres, die Länge des linken Fußes, die
Länge des linken Mittelfingers, die Länge des linken kleinen Fingers und der Ab¬
stand vom linken Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers. Der Wert der
Messungen besteht darin, daß unter hunderttausend Menschen kaum zehn gefunden
werden können, bei denen sämtliche Maße auch nur annähernd übereinstimmen
würden. Überaus sorgfältig behandelt Bertillon die Feststellung der Ohrmuschel;
er behauptet, auf Grund der Merkmale des Ohrs allein die Menschen unterscheiden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0247" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/232059"/>
          <fw type="header" place="top"> Allerhand Rüstzeug und Waffen des Strafrichters</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_938" prev="#ID_937"> wie sich die Verbrecher diese Fortschritte zu nutze zu macheu wissen. Wichtig<lb/>
ist hier vor allem die Jnteruatioualität, die sich in der Strafverfolgung<lb/>
schwererer und gefährlicherer Verbrecher mehr und mehr einzubürgern be¬<lb/>
ginnt, nicht nur durch Nuslieferungsvertrüge und durch wechselseitige Rechts¬<lb/>
hilfe bei den: eigentlichen Strafverfahren gegen den entdeckten Verbrecher,<lb/>
sondern vor allein auch dnrch gemeinschaftliche Einrichtungen zum Schutze<lb/>
gegen beabsichtigte Verbrechen und zur Ermittlung unbekannter Thäter.<lb/>
Das internationale Gauner- und Verbrechertum kennt keine Grenzen, man<lb/>
braucht nur an den Anarchismus zu denken; aber auch alles, was wir<lb/>
unter dem Namen Hochstapler zusammenzufassen pflegen, gehört hierher; es<lb/>
leuchtet ein, wie wichtig es ist, den verhältnismäßig harmlosen Gelegenheits¬<lb/>
dieb mit einiger Sicherheit von dem anderwärts bekannten und längst gesuchten<lb/>
Gewohnheitsverbrecher unterscheiden zu können. Steckbriefe mit der schönsten<lb/>
Personalbeschreibung versagen hier: der Neuling begeht zuerst eine That und<lb/>
sucht sich dann unkenntlich zu machen; der gewiegte Verbrecher dagegen macht<lb/>
sich vor dem Verbrechen unkenntlich und entflieht sodann in seiner wahren<lb/>
Gestalt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_939" next="#ID_940"> Groß meint, beim Studium vou Steckbriefen sei deshalb von vornherein<lb/>
alles für bedenklich und nicht für echt zu halten, was besonders auffallend sei.<lb/>
Die zuverlässigste Hilfe in solchen Fällen bietet uns die Photographie, deren<lb/>
ganze Leistungsfähigkeit für Zwecke der Strafrechtspflege wir auch heute noch<lb/>
kaum cchueu können. Sehr oft ist dabei freilich der Zufall der einzige Freund<lb/>
des Kriminalisten. Wo er versagt, muß man sich auf andre Weise zu helfen<lb/>
suchen, denn selbstverständlich ist es ausgeschlossen, die Photographie irgend<lb/>
eiues verdächtigen Landstreichers oder Diebes in der ganzen Welt herumzu-<lb/>
schicken, ob sie vielleicht irgendwo erkannt werden könnte. Hier setzt die anthro-<lb/>
pometrische Messung, oder wie man sie nach ihrem Erfinder Alphonse Bertillvn<lb/>
in Paris nennt, die Vertillonage ein, die in wenigen Jahren, seit 1879, ihren<lb/>
Siegeslauf durch die ganze Welt genommen hat. Bertillon fußt auf der That¬<lb/>
sache, daß beim erwachsenen Menschen etwa vom einundzwanzigsten Lebensjahre<lb/>
ab alles unverändert bleibt, was in seinen Maßen durch Knochen oder Knorpel<lb/>
bestimmt wird; es werden also mit besondern Werkzeugen und vor allem mit<lb/>
der größten Genauigkeit gemessen die Körperhöhe, die Spannweite der Arme,<lb/>
die Höhe des Oberkörpers in sitzender Stellung, die Länge und Breite des<lb/>
Kopfes, die Läuge und Breite des rechten Ohres, die Länge des linken Fußes, die<lb/>
Länge des linken Mittelfingers, die Länge des linken kleinen Fingers und der Ab¬<lb/>
stand vom linken Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers. Der Wert der<lb/>
Messungen besteht darin, daß unter hunderttausend Menschen kaum zehn gefunden<lb/>
werden können, bei denen sämtliche Maße auch nur annähernd übereinstimmen<lb/>
würden. Überaus sorgfältig behandelt Bertillon die Feststellung der Ohrmuschel;<lb/>
er behauptet, auf Grund der Merkmale des Ohrs allein die Menschen unterscheiden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0247] Allerhand Rüstzeug und Waffen des Strafrichters wie sich die Verbrecher diese Fortschritte zu nutze zu macheu wissen. Wichtig ist hier vor allem die Jnteruatioualität, die sich in der Strafverfolgung schwererer und gefährlicherer Verbrecher mehr und mehr einzubürgern be¬ ginnt, nicht nur durch Nuslieferungsvertrüge und durch wechselseitige Rechts¬ hilfe bei den: eigentlichen Strafverfahren gegen den entdeckten Verbrecher, sondern vor allein auch dnrch gemeinschaftliche Einrichtungen zum Schutze gegen beabsichtigte Verbrechen und zur Ermittlung unbekannter Thäter. Das internationale Gauner- und Verbrechertum kennt keine Grenzen, man braucht nur an den Anarchismus zu denken; aber auch alles, was wir unter dem Namen Hochstapler zusammenzufassen pflegen, gehört hierher; es leuchtet ein, wie wichtig es ist, den verhältnismäßig harmlosen Gelegenheits¬ dieb mit einiger Sicherheit von dem anderwärts bekannten und längst gesuchten Gewohnheitsverbrecher unterscheiden zu können. Steckbriefe mit der schönsten Personalbeschreibung versagen hier: der Neuling begeht zuerst eine That und sucht sich dann unkenntlich zu machen; der gewiegte Verbrecher dagegen macht sich vor dem Verbrechen unkenntlich und entflieht sodann in seiner wahren Gestalt. Groß meint, beim Studium vou Steckbriefen sei deshalb von vornherein alles für bedenklich und nicht für echt zu halten, was besonders auffallend sei. Die zuverlässigste Hilfe in solchen Fällen bietet uns die Photographie, deren ganze Leistungsfähigkeit für Zwecke der Strafrechtspflege wir auch heute noch kaum cchueu können. Sehr oft ist dabei freilich der Zufall der einzige Freund des Kriminalisten. Wo er versagt, muß man sich auf andre Weise zu helfen suchen, denn selbstverständlich ist es ausgeschlossen, die Photographie irgend eiues verdächtigen Landstreichers oder Diebes in der ganzen Welt herumzu- schicken, ob sie vielleicht irgendwo erkannt werden könnte. Hier setzt die anthro- pometrische Messung, oder wie man sie nach ihrem Erfinder Alphonse Bertillvn in Paris nennt, die Vertillonage ein, die in wenigen Jahren, seit 1879, ihren Siegeslauf durch die ganze Welt genommen hat. Bertillon fußt auf der That¬ sache, daß beim erwachsenen Menschen etwa vom einundzwanzigsten Lebensjahre ab alles unverändert bleibt, was in seinen Maßen durch Knochen oder Knorpel bestimmt wird; es werden also mit besondern Werkzeugen und vor allem mit der größten Genauigkeit gemessen die Körperhöhe, die Spannweite der Arme, die Höhe des Oberkörpers in sitzender Stellung, die Länge und Breite des Kopfes, die Läuge und Breite des rechten Ohres, die Länge des linken Fußes, die Länge des linken Mittelfingers, die Länge des linken kleinen Fingers und der Ab¬ stand vom linken Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers. Der Wert der Messungen besteht darin, daß unter hunderttausend Menschen kaum zehn gefunden werden können, bei denen sämtliche Maße auch nur annähernd übereinstimmen würden. Überaus sorgfältig behandelt Bertillon die Feststellung der Ohrmuschel; er behauptet, auf Grund der Merkmale des Ohrs allein die Menschen unterscheiden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/247
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/247>, abgerufen am 19.05.2024.