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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Line neue Theorie über den Ursprung der Musik

Stimmung, die auf hundert verschiedne Lebenslagen paßt. Nicht immer
folgt der Gesang malerisch jeder Einzelheit der Arbeit, aber die Hauptpunkte
markiert er ohne Ausnahme; so in dem Liede, das das Brechen der Flachs¬
stengel begleitet, (S. 86) regelmäßig die Stelle, wo der Hebel daS Ende der
Schiene erreicht hat. Vielleicht sind solche nur summarisch rhythmisierenden Ge¬
sänge jüngern Datums, der Grad des konservativen Sinns der Stände und
Länder spiegelt sich auch in ihren Liedern. Deshalb ist es Wohl nicht zufällig,
daß eins der vollkommensten Beispiele ursprünglichen Arbeitsgesangs unter
den von Bücher mitgeteilten aus dem heutigen Litauen stammt. Es ist ein
Wäscherinnenlied (S. 103), das den Arbeitsschall einfach photographiert. Im
Nachsatz wechselt aufs deutlichste das Streichen mit dem Schlagen der nassen
Linnen. Spanien scheint an solcher Wüscherpvcsie sehr reich zu sein, etliches
davon ist in das deutsche Kunstlied übergegangen, leider von den ahnungslosen
Übersetzern oder Komponisten aber der Natnrrhythmus zerstört worden.

Niemand ist darüber im unklaren, daß der Ursprung der Musik kaum je
vollständig aufgeklärt werdeu kann. Aber soweit sie lösbar ist, hat uns Bücher
der Losung der Frage ein beträchtliches Stück näher gebracht, mittelbar sowohl
wie unmittelbar. Der von ihm gewiesene ethnographische Weg wird weiter
geschritten, das vorgelegte Material fachmännisch nachgeprüft, fachmännisch
vermehrt.werden. Vielleicht ist die Hoffnung nicht zu kühn, daß künftig bei
geeigneten Expeditionen ein Musiker mitgenommen oder doch ein genügend vor¬
gebildeter Naturforscher mit genauen Instruktionen für musikalische Beobachtung
versehen wird. Zur Vorbildung gehört in diesem Falle eine weitgediehene
Übung im Hören kleinster Intervalle und ein weit über europäischen Bedarf
aufgeweckter rhhthinischer Sinn. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein großer
Teil der bisher von den Reisenden mitgebrachten Weisen ungenau gehört, auf¬
gezeichnet, abendländisch verbessert worden ist. Unter die Punkte, die aufgehellt
werden müssen, soweit das möglich ist, gehört die Chronologie der angeblich
von den Naturvölkern stammenden Melodien; viele sind bei der Entstehung
schon vom europäischen Einfluß berührt worden. Die ganze musikalische
Ethnographie ist bisher nur unmethodisch betrieben worden und daher in den
Resultaten vielfach unsolid. Ein Teil ihrer Aufstellungen widerspricht der Natur
der Dinge, den Analogien der geschichtlichen Zeit, dem Gesetz, daß angeborne
Eigenschaften wesentlicher Art in der Zeit der Reife immer wieder zum Vor¬
schein komme". Darunter rechnen wir z. B. die Altersfolge der Instrumente.
Gewiß hat Lärm- und Schlagzeug den Anfang gemacht; aber es ist unwahr¬
scheinlich, daß die Saiteninstrumente den Blasinstrumenten vorausgehn. Die
Wildnis braucht weittragende Blasetvne zum Schutz und zur Warnung für
die Gefährdeten, zur Rettung der Verirrten, zum Sammeln der Zerstreuter;
die Saiteninstrumente wirken mehr im Hause und in geschlossener Kultur. Dem
entspricht es, daß bei deu Griechen Marsyas mit seiner Auletik von Apollo,


Line neue Theorie über den Ursprung der Musik

Stimmung, die auf hundert verschiedne Lebenslagen paßt. Nicht immer
folgt der Gesang malerisch jeder Einzelheit der Arbeit, aber die Hauptpunkte
markiert er ohne Ausnahme; so in dem Liede, das das Brechen der Flachs¬
stengel begleitet, (S. 86) regelmäßig die Stelle, wo der Hebel daS Ende der
Schiene erreicht hat. Vielleicht sind solche nur summarisch rhythmisierenden Ge¬
sänge jüngern Datums, der Grad des konservativen Sinns der Stände und
Länder spiegelt sich auch in ihren Liedern. Deshalb ist es Wohl nicht zufällig,
daß eins der vollkommensten Beispiele ursprünglichen Arbeitsgesangs unter
den von Bücher mitgeteilten aus dem heutigen Litauen stammt. Es ist ein
Wäscherinnenlied (S. 103), das den Arbeitsschall einfach photographiert. Im
Nachsatz wechselt aufs deutlichste das Streichen mit dem Schlagen der nassen
Linnen. Spanien scheint an solcher Wüscherpvcsie sehr reich zu sein, etliches
davon ist in das deutsche Kunstlied übergegangen, leider von den ahnungslosen
Übersetzern oder Komponisten aber der Natnrrhythmus zerstört worden.

Niemand ist darüber im unklaren, daß der Ursprung der Musik kaum je
vollständig aufgeklärt werdeu kann. Aber soweit sie lösbar ist, hat uns Bücher
der Losung der Frage ein beträchtliches Stück näher gebracht, mittelbar sowohl
wie unmittelbar. Der von ihm gewiesene ethnographische Weg wird weiter
geschritten, das vorgelegte Material fachmännisch nachgeprüft, fachmännisch
vermehrt.werden. Vielleicht ist die Hoffnung nicht zu kühn, daß künftig bei
geeigneten Expeditionen ein Musiker mitgenommen oder doch ein genügend vor¬
gebildeter Naturforscher mit genauen Instruktionen für musikalische Beobachtung
versehen wird. Zur Vorbildung gehört in diesem Falle eine weitgediehene
Übung im Hören kleinster Intervalle und ein weit über europäischen Bedarf
aufgeweckter rhhthinischer Sinn. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein großer
Teil der bisher von den Reisenden mitgebrachten Weisen ungenau gehört, auf¬
gezeichnet, abendländisch verbessert worden ist. Unter die Punkte, die aufgehellt
werden müssen, soweit das möglich ist, gehört die Chronologie der angeblich
von den Naturvölkern stammenden Melodien; viele sind bei der Entstehung
schon vom europäischen Einfluß berührt worden. Die ganze musikalische
Ethnographie ist bisher nur unmethodisch betrieben worden und daher in den
Resultaten vielfach unsolid. Ein Teil ihrer Aufstellungen widerspricht der Natur
der Dinge, den Analogien der geschichtlichen Zeit, dem Gesetz, daß angeborne
Eigenschaften wesentlicher Art in der Zeit der Reife immer wieder zum Vor¬
schein komme». Darunter rechnen wir z. B. die Altersfolge der Instrumente.
Gewiß hat Lärm- und Schlagzeug den Anfang gemacht; aber es ist unwahr¬
scheinlich, daß die Saiteninstrumente den Blasinstrumenten vorausgehn. Die
Wildnis braucht weittragende Blasetvne zum Schutz und zur Warnung für
die Gefährdeten, zur Rettung der Verirrten, zum Sammeln der Zerstreuter;
die Saiteninstrumente wirken mehr im Hause und in geschlossener Kultur. Dem
entspricht es, daß bei deu Griechen Marsyas mit seiner Auletik von Apollo,


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[0335] Line neue Theorie über den Ursprung der Musik Stimmung, die auf hundert verschiedne Lebenslagen paßt. Nicht immer folgt der Gesang malerisch jeder Einzelheit der Arbeit, aber die Hauptpunkte markiert er ohne Ausnahme; so in dem Liede, das das Brechen der Flachs¬ stengel begleitet, (S. 86) regelmäßig die Stelle, wo der Hebel daS Ende der Schiene erreicht hat. Vielleicht sind solche nur summarisch rhythmisierenden Ge¬ sänge jüngern Datums, der Grad des konservativen Sinns der Stände und Länder spiegelt sich auch in ihren Liedern. Deshalb ist es Wohl nicht zufällig, daß eins der vollkommensten Beispiele ursprünglichen Arbeitsgesangs unter den von Bücher mitgeteilten aus dem heutigen Litauen stammt. Es ist ein Wäscherinnenlied (S. 103), das den Arbeitsschall einfach photographiert. Im Nachsatz wechselt aufs deutlichste das Streichen mit dem Schlagen der nassen Linnen. Spanien scheint an solcher Wüscherpvcsie sehr reich zu sein, etliches davon ist in das deutsche Kunstlied übergegangen, leider von den ahnungslosen Übersetzern oder Komponisten aber der Natnrrhythmus zerstört worden. Niemand ist darüber im unklaren, daß der Ursprung der Musik kaum je vollständig aufgeklärt werdeu kann. Aber soweit sie lösbar ist, hat uns Bücher der Losung der Frage ein beträchtliches Stück näher gebracht, mittelbar sowohl wie unmittelbar. Der von ihm gewiesene ethnographische Weg wird weiter geschritten, das vorgelegte Material fachmännisch nachgeprüft, fachmännisch vermehrt.werden. Vielleicht ist die Hoffnung nicht zu kühn, daß künftig bei geeigneten Expeditionen ein Musiker mitgenommen oder doch ein genügend vor¬ gebildeter Naturforscher mit genauen Instruktionen für musikalische Beobachtung versehen wird. Zur Vorbildung gehört in diesem Falle eine weitgediehene Übung im Hören kleinster Intervalle und ein weit über europäischen Bedarf aufgeweckter rhhthinischer Sinn. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein großer Teil der bisher von den Reisenden mitgebrachten Weisen ungenau gehört, auf¬ gezeichnet, abendländisch verbessert worden ist. Unter die Punkte, die aufgehellt werden müssen, soweit das möglich ist, gehört die Chronologie der angeblich von den Naturvölkern stammenden Melodien; viele sind bei der Entstehung schon vom europäischen Einfluß berührt worden. Die ganze musikalische Ethnographie ist bisher nur unmethodisch betrieben worden und daher in den Resultaten vielfach unsolid. Ein Teil ihrer Aufstellungen widerspricht der Natur der Dinge, den Analogien der geschichtlichen Zeit, dem Gesetz, daß angeborne Eigenschaften wesentlicher Art in der Zeit der Reife immer wieder zum Vor¬ schein komme». Darunter rechnen wir z. B. die Altersfolge der Instrumente. Gewiß hat Lärm- und Schlagzeug den Anfang gemacht; aber es ist unwahr¬ scheinlich, daß die Saiteninstrumente den Blasinstrumenten vorausgehn. Die Wildnis braucht weittragende Blasetvne zum Schutz und zur Warnung für die Gefährdeten, zur Rettung der Verirrten, zum Sammeln der Zerstreuter; die Saiteninstrumente wirken mehr im Hause und in geschlossener Kultur. Dem entspricht es, daß bei deu Griechen Marsyas mit seiner Auletik von Apollo,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/335>, abgerufen am 29.05.2024.