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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Der Richter auf der Schulbank

Ausführungsgesetzes ergeben. Dann hält er es für unumgänglich, uus in
dreiviertel Stunden alle Formvorschriften des Gesetzes vorzuführen, wobei er
uns nicht einmal die komplizierte Zustimmung nach § 1516 Absatz 2 schenkt.
Der Eindruck gänzlicher Hilflosigkeit ist bisweilen so überwältigend, daß man
die ganze Nacht davon träumen müßte, wenn man sich nicht nachher durch
ein paar Glas dunkeln Vieres die Ruhe mühsam erkaufte.

Das führt mich zu dem ersten großen Vorteil, den wir den Vorträge"
und mittelbar dem neuen Rechte verdanken. Die Bande der Kollegialität, die
besonders in großen Städten leider etwas gelockert sind, werden durch diese
Abendsitzungen bedeutend gefestigt. Nicht jeder Jurist ist Kegler, und unter
andern Fahnen Pflegen sich Juristen sonst nicht zu versammeln. Jetzt aber
haben wir unsre regelmäßigen Zusammenkünfte, die alle Gegensätze mildern,
vor allem den zwischen Alter und Jugend. Das Ncferendariat erlangt erst
jetzt endlich das Selbstbewußtsein, dessen Mangel immer so störend auffiel.
Welch erhebender Gedanke, daß sie neben ihrem Präsidenten auf einer Schul¬
bank sitzen! Sie stehn ihm hier gleich, ja sind ihm sogar überlegen, da das
neue Recht doch gewissermaßen ihnen gehört. Manchen alten Rat betrachten
sie mit dem mitleidigen Gedanken: Du, armes Huhn, lernst es doch nicht mehr!
Wir aber werden diese schönen Sätze noch anwenden, wenn deine Erben schon
das Knäuel der unvermeidlichen Prozesse über ihre Nachlaßhaftung abgewickelt
haben werden! -- Das fühlt auch erbleichend der alte Rat. Er ist vielleicht
noch nicht alt genug, sich bei dem großen Schub des neuen Jahrhunderts mit
in ein arbeitsloses und doch -- wenigstens vorübergehend -- gehaltvolles
Alter hinüberretten zu können. Oder er nähert sich gar schon dem fllnfund-
siebzigsten Lebensjahre und ist deshalb nach der Auffassung der preußischen
Justizverwaltung schon zu alt zur Pensionierung. Und doch merkt er, daß
der alte Stamm nicht nochmals blühen will.

Deshalb lieben es denn auch die jüngsten Juristen am meisten, mit Schlag¬
worten aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu paradieren. Es ist das ja recht
leicht, nicht nur mit "verrückten Grenzsteinen" um sich zu werfen, sondern auch
mit gelegentlichen Bemerkungen über die völlige Unverdaulichkeit der allge¬
meinen Gütergemeinschaft und des Pflichtteilsrechts. Das wird auch gewiß
im großen Staatsexamen sehr gute Dienste thun. Überhaupt wird sich gerade
dort der Einfluß des neuen Rechts als besonders segensreich erweisen. Zunächst
werden gar manche Fragen aus der alten Rüstkammer verschwinden, z. B.
die bekannte Frage nach der Einheit der Korrealobligation, von der jeder
Kandidat weiß, daß sie bei dem einen Examinator bejaht, bei dem andern
verneint werden muß. Aber vor allem werden sich die so hoch schwebenden
Unsterblichen der Prüfungskommission jetzt wieder ihrer irdischen Natur bewußt
werden. Sie werden nun wieder merken, was für eine unangenehme Beschäf¬
tigung das Lernen ist, und gewiß ein menschliches Rühren fühlen, wenn sie


Der Richter auf der Schulbank

Ausführungsgesetzes ergeben. Dann hält er es für unumgänglich, uus in
dreiviertel Stunden alle Formvorschriften des Gesetzes vorzuführen, wobei er
uns nicht einmal die komplizierte Zustimmung nach § 1516 Absatz 2 schenkt.
Der Eindruck gänzlicher Hilflosigkeit ist bisweilen so überwältigend, daß man
die ganze Nacht davon träumen müßte, wenn man sich nicht nachher durch
ein paar Glas dunkeln Vieres die Ruhe mühsam erkaufte.

Das führt mich zu dem ersten großen Vorteil, den wir den Vorträge»
und mittelbar dem neuen Rechte verdanken. Die Bande der Kollegialität, die
besonders in großen Städten leider etwas gelockert sind, werden durch diese
Abendsitzungen bedeutend gefestigt. Nicht jeder Jurist ist Kegler, und unter
andern Fahnen Pflegen sich Juristen sonst nicht zu versammeln. Jetzt aber
haben wir unsre regelmäßigen Zusammenkünfte, die alle Gegensätze mildern,
vor allem den zwischen Alter und Jugend. Das Ncferendariat erlangt erst
jetzt endlich das Selbstbewußtsein, dessen Mangel immer so störend auffiel.
Welch erhebender Gedanke, daß sie neben ihrem Präsidenten auf einer Schul¬
bank sitzen! Sie stehn ihm hier gleich, ja sind ihm sogar überlegen, da das
neue Recht doch gewissermaßen ihnen gehört. Manchen alten Rat betrachten
sie mit dem mitleidigen Gedanken: Du, armes Huhn, lernst es doch nicht mehr!
Wir aber werden diese schönen Sätze noch anwenden, wenn deine Erben schon
das Knäuel der unvermeidlichen Prozesse über ihre Nachlaßhaftung abgewickelt
haben werden! — Das fühlt auch erbleichend der alte Rat. Er ist vielleicht
noch nicht alt genug, sich bei dem großen Schub des neuen Jahrhunderts mit
in ein arbeitsloses und doch — wenigstens vorübergehend — gehaltvolles
Alter hinüberretten zu können. Oder er nähert sich gar schon dem fllnfund-
siebzigsten Lebensjahre und ist deshalb nach der Auffassung der preußischen
Justizverwaltung schon zu alt zur Pensionierung. Und doch merkt er, daß
der alte Stamm nicht nochmals blühen will.

Deshalb lieben es denn auch die jüngsten Juristen am meisten, mit Schlag¬
worten aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu paradieren. Es ist das ja recht
leicht, nicht nur mit „verrückten Grenzsteinen" um sich zu werfen, sondern auch
mit gelegentlichen Bemerkungen über die völlige Unverdaulichkeit der allge¬
meinen Gütergemeinschaft und des Pflichtteilsrechts. Das wird auch gewiß
im großen Staatsexamen sehr gute Dienste thun. Überhaupt wird sich gerade
dort der Einfluß des neuen Rechts als besonders segensreich erweisen. Zunächst
werden gar manche Fragen aus der alten Rüstkammer verschwinden, z. B.
die bekannte Frage nach der Einheit der Korrealobligation, von der jeder
Kandidat weiß, daß sie bei dem einen Examinator bejaht, bei dem andern
verneint werden muß. Aber vor allem werden sich die so hoch schwebenden
Unsterblichen der Prüfungskommission jetzt wieder ihrer irdischen Natur bewußt
werden. Sie werden nun wieder merken, was für eine unangenehme Beschäf¬
tigung das Lernen ist, und gewiß ein menschliches Rühren fühlen, wenn sie


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[0363] Der Richter auf der Schulbank Ausführungsgesetzes ergeben. Dann hält er es für unumgänglich, uus in dreiviertel Stunden alle Formvorschriften des Gesetzes vorzuführen, wobei er uns nicht einmal die komplizierte Zustimmung nach § 1516 Absatz 2 schenkt. Der Eindruck gänzlicher Hilflosigkeit ist bisweilen so überwältigend, daß man die ganze Nacht davon träumen müßte, wenn man sich nicht nachher durch ein paar Glas dunkeln Vieres die Ruhe mühsam erkaufte. Das führt mich zu dem ersten großen Vorteil, den wir den Vorträge» und mittelbar dem neuen Rechte verdanken. Die Bande der Kollegialität, die besonders in großen Städten leider etwas gelockert sind, werden durch diese Abendsitzungen bedeutend gefestigt. Nicht jeder Jurist ist Kegler, und unter andern Fahnen Pflegen sich Juristen sonst nicht zu versammeln. Jetzt aber haben wir unsre regelmäßigen Zusammenkünfte, die alle Gegensätze mildern, vor allem den zwischen Alter und Jugend. Das Ncferendariat erlangt erst jetzt endlich das Selbstbewußtsein, dessen Mangel immer so störend auffiel. Welch erhebender Gedanke, daß sie neben ihrem Präsidenten auf einer Schul¬ bank sitzen! Sie stehn ihm hier gleich, ja sind ihm sogar überlegen, da das neue Recht doch gewissermaßen ihnen gehört. Manchen alten Rat betrachten sie mit dem mitleidigen Gedanken: Du, armes Huhn, lernst es doch nicht mehr! Wir aber werden diese schönen Sätze noch anwenden, wenn deine Erben schon das Knäuel der unvermeidlichen Prozesse über ihre Nachlaßhaftung abgewickelt haben werden! — Das fühlt auch erbleichend der alte Rat. Er ist vielleicht noch nicht alt genug, sich bei dem großen Schub des neuen Jahrhunderts mit in ein arbeitsloses und doch — wenigstens vorübergehend — gehaltvolles Alter hinüberretten zu können. Oder er nähert sich gar schon dem fllnfund- siebzigsten Lebensjahre und ist deshalb nach der Auffassung der preußischen Justizverwaltung schon zu alt zur Pensionierung. Und doch merkt er, daß der alte Stamm nicht nochmals blühen will. Deshalb lieben es denn auch die jüngsten Juristen am meisten, mit Schlag¬ worten aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu paradieren. Es ist das ja recht leicht, nicht nur mit „verrückten Grenzsteinen" um sich zu werfen, sondern auch mit gelegentlichen Bemerkungen über die völlige Unverdaulichkeit der allge¬ meinen Gütergemeinschaft und des Pflichtteilsrechts. Das wird auch gewiß im großen Staatsexamen sehr gute Dienste thun. Überhaupt wird sich gerade dort der Einfluß des neuen Rechts als besonders segensreich erweisen. Zunächst werden gar manche Fragen aus der alten Rüstkammer verschwinden, z. B. die bekannte Frage nach der Einheit der Korrealobligation, von der jeder Kandidat weiß, daß sie bei dem einen Examinator bejaht, bei dem andern verneint werden muß. Aber vor allem werden sich die so hoch schwebenden Unsterblichen der Prüfungskommission jetzt wieder ihrer irdischen Natur bewußt werden. Sie werden nun wieder merken, was für eine unangenehme Beschäf¬ tigung das Lernen ist, und gewiß ein menschliches Rühren fühlen, wenn sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/363>, abgerufen am 29.05.2024.