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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

hauptung ist, ersieht man aus den augenblicklichen Verhältnissen, wo in den
Ostseeprovinzen etliche orthodoxe "Brüderschaften" (drg-tstvch emsig an der Ver¬
breitung der orientalischen Kirche und zwar nicht ohne Erfolg arbeiten: die
in ihren Diensten stehenden "Missionare" haben alljährlich mehrere Übertritte,
allerdings nur von seiten der eingebornen Bevölkerung zu verzeichnen, und in
ihren Schulen werden zahlreiche Kinder kostenlos unterrichtet, wobei ein Haupt-
lchrgegenstand der griechisch-orthodoxe Religionsunterricht ist, den alle mit¬
machen müssen Die größere Aufgeklärtheit der Deutschbalten hat sie bisher
vor einem solchen Sprunge bewahrt, der sie für immer von ihren Traditionen
trennen würde; Übertritte sind bei den Deutschbalten nur sehr seltne Aus¬
nahmen und werden durch die Sucht, Karriere zu macheu, erklärt.

Somit wäre der Gedanke an ein protestantisches Baltentum, wo die
russische und die deutsche Sprache neben einander bestünden, eine Chimäre; und
die Deutschbalten sollten sich darüber keine Illusionen machen: solche Doppel¬
nationen können nicht bestehn.

Wenn jetzt der Prozeß der Russifizierung durch das bekannte Beamten¬
wesen, die harten Ncgierungsmaßrcgeln und namentlich durch eine mit allen
Mitteln arbeitende konfessionelle Propaganda verlangsamt wird, so muß er sich
notwendig beschleunigen, sobald eine liberalere Regierung von solchen Mitteln
absehen und den Kampf mit rein ökonomischen Mitteln, aber auf nationaler
Grundlage führen wird. Wenn es in Rußland nicht mehr nur orthodoxe, sondern
auch protestantische und katholische Russen geben wird, d. h. wenn nicht mehr
die Konfession die Nationalität bestimmt, so wird der Zusammenschluß der ver-
schiednen Nationalitäten zu einem Volke viel schneller und friedlicher vor sich
gehn, und die Ballen würden nichts weiter als ein kleiner russischer Volks¬
stamm sein und die eifrigsten Verteidiger russischer Volksinteressen werden.

Daß sich die Ballen in einem ökonomischen Kampfe ihre deutsche Kultur
erhalten könnten, weil diese die höhere, daher die stärkere ist, ist undenkbar.
Viele Hunde sind des Hasen Tod, und auch die höchste Kultur muß darunter
leiden, wenn die Zahl ihrer Träger verschwindet gegenüber der Zahl der sie
umgebenden Träger einer niederern Kultur. Hier nun haben wir es mit einem
mächtigen Kulturelemente zu thun, das sich noch nicht völlig entwickelt hat.
Daß das russische Volk ein solches ist, hat es durch die großen Erfolge be¬
wiesen, die die Selbstverwaltung der Städte und Landschaften aufzuweisen hat,
als ihr noch keine Zwangsjacke angelegt worden war, d. h. vor dem Jahre 1891.
Seit die Städte- und Landschaftsverwaltungen unter die angebliche Kontrolle
der Gouverneure gestellt wurden, und seit die Wählbarkeit und das Wahlrecht
auf die Besitzenden beschränkt wurde, d. h. seit das Satrapeuwesen und die
Oligarchie gestärkt wurden, sehen wir auch hier Rückschritte: bemerkenswert ist,
daß seit der Zeit der Bauernstand mehr und mehr ruiniert wird, und die
Hungersnöte chronisch geworden sind. Es giebt eben unter den Russen müssen-


Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

hauptung ist, ersieht man aus den augenblicklichen Verhältnissen, wo in den
Ostseeprovinzen etliche orthodoxe „Brüderschaften" (drg-tstvch emsig an der Ver¬
breitung der orientalischen Kirche und zwar nicht ohne Erfolg arbeiten: die
in ihren Diensten stehenden „Missionare" haben alljährlich mehrere Übertritte,
allerdings nur von seiten der eingebornen Bevölkerung zu verzeichnen, und in
ihren Schulen werden zahlreiche Kinder kostenlos unterrichtet, wobei ein Haupt-
lchrgegenstand der griechisch-orthodoxe Religionsunterricht ist, den alle mit¬
machen müssen Die größere Aufgeklärtheit der Deutschbalten hat sie bisher
vor einem solchen Sprunge bewahrt, der sie für immer von ihren Traditionen
trennen würde; Übertritte sind bei den Deutschbalten nur sehr seltne Aus¬
nahmen und werden durch die Sucht, Karriere zu macheu, erklärt.

Somit wäre der Gedanke an ein protestantisches Baltentum, wo die
russische und die deutsche Sprache neben einander bestünden, eine Chimäre; und
die Deutschbalten sollten sich darüber keine Illusionen machen: solche Doppel¬
nationen können nicht bestehn.

Wenn jetzt der Prozeß der Russifizierung durch das bekannte Beamten¬
wesen, die harten Ncgierungsmaßrcgeln und namentlich durch eine mit allen
Mitteln arbeitende konfessionelle Propaganda verlangsamt wird, so muß er sich
notwendig beschleunigen, sobald eine liberalere Regierung von solchen Mitteln
absehen und den Kampf mit rein ökonomischen Mitteln, aber auf nationaler
Grundlage führen wird. Wenn es in Rußland nicht mehr nur orthodoxe, sondern
auch protestantische und katholische Russen geben wird, d. h. wenn nicht mehr
die Konfession die Nationalität bestimmt, so wird der Zusammenschluß der ver-
schiednen Nationalitäten zu einem Volke viel schneller und friedlicher vor sich
gehn, und die Ballen würden nichts weiter als ein kleiner russischer Volks¬
stamm sein und die eifrigsten Verteidiger russischer Volksinteressen werden.

Daß sich die Ballen in einem ökonomischen Kampfe ihre deutsche Kultur
erhalten könnten, weil diese die höhere, daher die stärkere ist, ist undenkbar.
Viele Hunde sind des Hasen Tod, und auch die höchste Kultur muß darunter
leiden, wenn die Zahl ihrer Träger verschwindet gegenüber der Zahl der sie
umgebenden Träger einer niederern Kultur. Hier nun haben wir es mit einem
mächtigen Kulturelemente zu thun, das sich noch nicht völlig entwickelt hat.
Daß das russische Volk ein solches ist, hat es durch die großen Erfolge be¬
wiesen, die die Selbstverwaltung der Städte und Landschaften aufzuweisen hat,
als ihr noch keine Zwangsjacke angelegt worden war, d. h. vor dem Jahre 1891.
Seit die Städte- und Landschaftsverwaltungen unter die angebliche Kontrolle
der Gouverneure gestellt wurden, und seit die Wählbarkeit und das Wahlrecht
auf die Besitzenden beschränkt wurde, d. h. seit das Satrapeuwesen und die
Oligarchie gestärkt wurden, sehen wir auch hier Rückschritte: bemerkenswert ist,
daß seit der Zeit der Bauernstand mehr und mehr ruiniert wird, und die
Hungersnöte chronisch geworden sind. Es giebt eben unter den Russen müssen-


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[0496] Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung hauptung ist, ersieht man aus den augenblicklichen Verhältnissen, wo in den Ostseeprovinzen etliche orthodoxe „Brüderschaften" (drg-tstvch emsig an der Ver¬ breitung der orientalischen Kirche und zwar nicht ohne Erfolg arbeiten: die in ihren Diensten stehenden „Missionare" haben alljährlich mehrere Übertritte, allerdings nur von seiten der eingebornen Bevölkerung zu verzeichnen, und in ihren Schulen werden zahlreiche Kinder kostenlos unterrichtet, wobei ein Haupt- lchrgegenstand der griechisch-orthodoxe Religionsunterricht ist, den alle mit¬ machen müssen Die größere Aufgeklärtheit der Deutschbalten hat sie bisher vor einem solchen Sprunge bewahrt, der sie für immer von ihren Traditionen trennen würde; Übertritte sind bei den Deutschbalten nur sehr seltne Aus¬ nahmen und werden durch die Sucht, Karriere zu macheu, erklärt. Somit wäre der Gedanke an ein protestantisches Baltentum, wo die russische und die deutsche Sprache neben einander bestünden, eine Chimäre; und die Deutschbalten sollten sich darüber keine Illusionen machen: solche Doppel¬ nationen können nicht bestehn. Wenn jetzt der Prozeß der Russifizierung durch das bekannte Beamten¬ wesen, die harten Ncgierungsmaßrcgeln und namentlich durch eine mit allen Mitteln arbeitende konfessionelle Propaganda verlangsamt wird, so muß er sich notwendig beschleunigen, sobald eine liberalere Regierung von solchen Mitteln absehen und den Kampf mit rein ökonomischen Mitteln, aber auf nationaler Grundlage führen wird. Wenn es in Rußland nicht mehr nur orthodoxe, sondern auch protestantische und katholische Russen geben wird, d. h. wenn nicht mehr die Konfession die Nationalität bestimmt, so wird der Zusammenschluß der ver- schiednen Nationalitäten zu einem Volke viel schneller und friedlicher vor sich gehn, und die Ballen würden nichts weiter als ein kleiner russischer Volks¬ stamm sein und die eifrigsten Verteidiger russischer Volksinteressen werden. Daß sich die Ballen in einem ökonomischen Kampfe ihre deutsche Kultur erhalten könnten, weil diese die höhere, daher die stärkere ist, ist undenkbar. Viele Hunde sind des Hasen Tod, und auch die höchste Kultur muß darunter leiden, wenn die Zahl ihrer Träger verschwindet gegenüber der Zahl der sie umgebenden Träger einer niederern Kultur. Hier nun haben wir es mit einem mächtigen Kulturelemente zu thun, das sich noch nicht völlig entwickelt hat. Daß das russische Volk ein solches ist, hat es durch die großen Erfolge be¬ wiesen, die die Selbstverwaltung der Städte und Landschaften aufzuweisen hat, als ihr noch keine Zwangsjacke angelegt worden war, d. h. vor dem Jahre 1891. Seit die Städte- und Landschaftsverwaltungen unter die angebliche Kontrolle der Gouverneure gestellt wurden, und seit die Wählbarkeit und das Wahlrecht auf die Besitzenden beschränkt wurde, d. h. seit das Satrapeuwesen und die Oligarchie gestärkt wurden, sehen wir auch hier Rückschritte: bemerkenswert ist, daß seit der Zeit der Bauernstand mehr und mehr ruiniert wird, und die Hungersnöte chronisch geworden sind. Es giebt eben unter den Russen müssen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/496>, abgerufen am 19.05.2024.