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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

die zunehmende Verarmung des Volks, die Vcvormuuduug ans Schritt und
Tritt durch meist unredliche Beamte, die jede Selbständigkeitscntwicklnug zurück¬
hält, die religiöse Frömmelei und die Behindrung der Volksbildung, Speichel¬
leckerei und Selbstbewundrung, die wir überall in der russischen Presse finden,
die Knebelung jedes freien und offnen Wortes durch eine staatliche Zensur
und vieles andre machen den Gedanken, einem solchen Volk anzugehören, vor¬
läufig unsympathisch genug. Wenn Rußland und die Russen andrerseits auch
den Keim für eine zukünftige Größe in sich tragen, so ist die Entwicklung doch
an so viele Bedingungen geknüpft, die sich erst erfüllen sollen, daß sie noch
jahrzehntelang auf sich warten lassen kann. Dabei liegt dann noch die Gefahr
vor, daß die augenblicklichen Mißstände noch lange fortdauern können, und daß
dadurch das sonst begabte Volk einer vorzeitigen Entartung verfallen kann.

Der größte Teil der Deutsch-Ballen gehört aber wohl den Idealisten an,
die davon träumen, daß in den maßgebenden Kreisen eine Sinnesänderung ein¬
treten könnte, die den Ostseeprovinzen eine Rückkehr zur frühern Ausnahme¬
stellung ermöglichte. Diese sehen alles Heil in einem zähen Festhalten an dem
Althergebrachten in der Pflege der alten Traditionen und in dem passiven
Widerstande gegen die aufgedrängten Reformen. Der Verfasser erinnert sich
der Worte eines hervorragenden Kanzelredners, die nngeführ folgendermaßen
lauteten: "Wir haben die polnische Fremdherrschaft ertragen, wir haben das
schwedische Joch abgeschüttelt, wir werden auch die heutigen Drangsale sieg¬
reich überwinden." Seit der Zeit sind nur zwölf Jahre vergangen; der er¬
wähnte Redner ist seines Amts enthoben, die deutsche Sprache ist aus allen
Schulen verbannt, Ballen erhalten in den Ostseeprovinzen nur sehr schwer staat¬
liche Stellungen, die protestantische Geistlichkeit steht unter der strengsten
Aufsicht der orthodoxen, Dorpat hat seinen Namen gegen den urrusstscheu
Jurjew vertauschen müssen, und die Dorpater Universität, diese Pflegestätte
deutscher Wissenschaft und deutschbaltischeu Geistes, ist zu einer russischen
Universität niederster Art herabgedrückt, zum großen Teil bevölkert von
Studenten, die in den andern russischen Universitäten keinen Raum haben.
Wenn in den größern Städten der Ostseeprovinzen die Russifizierung mit
Ausnahme der Schulen und der öffentlichen Einrichtungen bisher auch noch
geringe Fortschritte gemacht hat, so kann das ans die Dauer doch nicht so
bleiben. Diese Städte werden noch eine Weile den Charakter deutscher Kolonien
bewahren, mit der Zeit aber anch untergehn, wenn erst das Hinterland russisch
geworden ist.

Wenn somit die Ostseeprovinzen als Land dem Deutschtum verloren ge¬
gangen sind, so könnte ihm doch noch ein Teil der Bevölkerung erhalten bleiben.
Dazu gehörte, daß die Auswcmdrung der Deutschen, denen die Erhaltung ihrer
Nationalität von Wert ist, in jeder Beziehung von Deutschland aus unterstützt
und gefördert würde. Deutschland konnte die Ballen zur Kolonisiernng seiner


Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

die zunehmende Verarmung des Volks, die Vcvormuuduug ans Schritt und
Tritt durch meist unredliche Beamte, die jede Selbständigkeitscntwicklnug zurück¬
hält, die religiöse Frömmelei und die Behindrung der Volksbildung, Speichel¬
leckerei und Selbstbewundrung, die wir überall in der russischen Presse finden,
die Knebelung jedes freien und offnen Wortes durch eine staatliche Zensur
und vieles andre machen den Gedanken, einem solchen Volk anzugehören, vor¬
läufig unsympathisch genug. Wenn Rußland und die Russen andrerseits auch
den Keim für eine zukünftige Größe in sich tragen, so ist die Entwicklung doch
an so viele Bedingungen geknüpft, die sich erst erfüllen sollen, daß sie noch
jahrzehntelang auf sich warten lassen kann. Dabei liegt dann noch die Gefahr
vor, daß die augenblicklichen Mißstände noch lange fortdauern können, und daß
dadurch das sonst begabte Volk einer vorzeitigen Entartung verfallen kann.

Der größte Teil der Deutsch-Ballen gehört aber wohl den Idealisten an,
die davon träumen, daß in den maßgebenden Kreisen eine Sinnesänderung ein¬
treten könnte, die den Ostseeprovinzen eine Rückkehr zur frühern Ausnahme¬
stellung ermöglichte. Diese sehen alles Heil in einem zähen Festhalten an dem
Althergebrachten in der Pflege der alten Traditionen und in dem passiven
Widerstande gegen die aufgedrängten Reformen. Der Verfasser erinnert sich
der Worte eines hervorragenden Kanzelredners, die nngeführ folgendermaßen
lauteten: „Wir haben die polnische Fremdherrschaft ertragen, wir haben das
schwedische Joch abgeschüttelt, wir werden auch die heutigen Drangsale sieg¬
reich überwinden." Seit der Zeit sind nur zwölf Jahre vergangen; der er¬
wähnte Redner ist seines Amts enthoben, die deutsche Sprache ist aus allen
Schulen verbannt, Ballen erhalten in den Ostseeprovinzen nur sehr schwer staat¬
liche Stellungen, die protestantische Geistlichkeit steht unter der strengsten
Aufsicht der orthodoxen, Dorpat hat seinen Namen gegen den urrusstscheu
Jurjew vertauschen müssen, und die Dorpater Universität, diese Pflegestätte
deutscher Wissenschaft und deutschbaltischeu Geistes, ist zu einer russischen
Universität niederster Art herabgedrückt, zum großen Teil bevölkert von
Studenten, die in den andern russischen Universitäten keinen Raum haben.
Wenn in den größern Städten der Ostseeprovinzen die Russifizierung mit
Ausnahme der Schulen und der öffentlichen Einrichtungen bisher auch noch
geringe Fortschritte gemacht hat, so kann das ans die Dauer doch nicht so
bleiben. Diese Städte werden noch eine Weile den Charakter deutscher Kolonien
bewahren, mit der Zeit aber anch untergehn, wenn erst das Hinterland russisch
geworden ist.

Wenn somit die Ostseeprovinzen als Land dem Deutschtum verloren ge¬
gangen sind, so könnte ihm doch noch ein Teil der Bevölkerung erhalten bleiben.
Dazu gehörte, daß die Auswcmdrung der Deutschen, denen die Erhaltung ihrer
Nationalität von Wert ist, in jeder Beziehung von Deutschland aus unterstützt
und gefördert würde. Deutschland konnte die Ballen zur Kolonisiernng seiner


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[0498] Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung die zunehmende Verarmung des Volks, die Vcvormuuduug ans Schritt und Tritt durch meist unredliche Beamte, die jede Selbständigkeitscntwicklnug zurück¬ hält, die religiöse Frömmelei und die Behindrung der Volksbildung, Speichel¬ leckerei und Selbstbewundrung, die wir überall in der russischen Presse finden, die Knebelung jedes freien und offnen Wortes durch eine staatliche Zensur und vieles andre machen den Gedanken, einem solchen Volk anzugehören, vor¬ läufig unsympathisch genug. Wenn Rußland und die Russen andrerseits auch den Keim für eine zukünftige Größe in sich tragen, so ist die Entwicklung doch an so viele Bedingungen geknüpft, die sich erst erfüllen sollen, daß sie noch jahrzehntelang auf sich warten lassen kann. Dabei liegt dann noch die Gefahr vor, daß die augenblicklichen Mißstände noch lange fortdauern können, und daß dadurch das sonst begabte Volk einer vorzeitigen Entartung verfallen kann. Der größte Teil der Deutsch-Ballen gehört aber wohl den Idealisten an, die davon träumen, daß in den maßgebenden Kreisen eine Sinnesänderung ein¬ treten könnte, die den Ostseeprovinzen eine Rückkehr zur frühern Ausnahme¬ stellung ermöglichte. Diese sehen alles Heil in einem zähen Festhalten an dem Althergebrachten in der Pflege der alten Traditionen und in dem passiven Widerstande gegen die aufgedrängten Reformen. Der Verfasser erinnert sich der Worte eines hervorragenden Kanzelredners, die nngeführ folgendermaßen lauteten: „Wir haben die polnische Fremdherrschaft ertragen, wir haben das schwedische Joch abgeschüttelt, wir werden auch die heutigen Drangsale sieg¬ reich überwinden." Seit der Zeit sind nur zwölf Jahre vergangen; der er¬ wähnte Redner ist seines Amts enthoben, die deutsche Sprache ist aus allen Schulen verbannt, Ballen erhalten in den Ostseeprovinzen nur sehr schwer staat¬ liche Stellungen, die protestantische Geistlichkeit steht unter der strengsten Aufsicht der orthodoxen, Dorpat hat seinen Namen gegen den urrusstscheu Jurjew vertauschen müssen, und die Dorpater Universität, diese Pflegestätte deutscher Wissenschaft und deutschbaltischeu Geistes, ist zu einer russischen Universität niederster Art herabgedrückt, zum großen Teil bevölkert von Studenten, die in den andern russischen Universitäten keinen Raum haben. Wenn in den größern Städten der Ostseeprovinzen die Russifizierung mit Ausnahme der Schulen und der öffentlichen Einrichtungen bisher auch noch geringe Fortschritte gemacht hat, so kann das ans die Dauer doch nicht so bleiben. Diese Städte werden noch eine Weile den Charakter deutscher Kolonien bewahren, mit der Zeit aber anch untergehn, wenn erst das Hinterland russisch geworden ist. Wenn somit die Ostseeprovinzen als Land dem Deutschtum verloren ge¬ gangen sind, so könnte ihm doch noch ein Teil der Bevölkerung erhalten bleiben. Dazu gehörte, daß die Auswcmdrung der Deutschen, denen die Erhaltung ihrer Nationalität von Wert ist, in jeder Beziehung von Deutschland aus unterstützt und gefördert würde. Deutschland konnte die Ballen zur Kolonisiernng seiner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/498>, abgerufen am 19.05.2024.