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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Der deutsche Volksgesang

Väter kennen. Und wir vaterlandslos erzognen höher gebildeten Stützen des
deutschen Volks sind über lauter Inder, Meter, Vaktrer, Assyrer, Babylonier,
Ägypter, Griechen und Römer gar nicht in die deutsche Geschichte genügend
eingedrungen.*) Die Schmachjahre 1806/7 werden nur an einzelnen Anstalten
-- ich dürfte es ja wissen -- gelehrt. Über die neuste Entwicklung, die
dreißiger Jahre, 48, 64 bis 66 schweigt man nach meinen Erfahrungen --
wohl aus falscher Höflichkeit gegen regierende Hauser! Wie recht hatte der
Kaiser, als er die Geschichte rückwärts gelehrt wissen wollte. Und da verlangt
man bei Reichstagsabgeordneten noch Verständnis für die Lage des Vaterlands,
wenn sie seine Geschichte gar nicht kennen. Da erstaunt man, wenn sie aus
interesseloser Unkenntnis die Sitzungen schwarzen; wenn das Bedürfnis einer
Flotte für viele Teile des Volks ein Buch mit sieben Siegeln ist? Warum
lehren wir unsrer Jugend nicht vor allem die Geschichte seit Karl dem Großen,
wie es auch in den Grenzboten der "Zurückgekehrte" schon verlangt hat, statt
Griechen und Römer und fossile UrVölker? Warum muß Leonidas, Mucius
Sccivola, Brutus und solche Leute, die nun auch gern einmal ihre Ruhe
Hütte", der deutschen Jugend als Vorbild der Vaterlandsliebe gepredigt werden?
Haben wir keine Helden? Warum macht man die Pflichten an das Vater¬
land, die Wahlpflicht, die Sitzungspflicht für Abgeordnete nicht gerade so
dienstlich wie die Wehrpflicht? Deutschland, erzieh deine Jugend besser, be¬
wußter, kraftvoller zur Vaterlandsliebe!

Und dazu müßte auch das deutsche Lied helfen. In jeder Schule müßte
täglich eine Stunde dem Gesang und dem Auswendiglernen der Lieder -- gleich
in der Schule, nicht erst zu Hause -- gewidmet sein.**) Wir brauchen ein
deutsches Reichsliederbuch. Dies könnte in 150 Liedern alle wünschenswerten
Gebiete berühren. Es müßte, wie der Schäublin, zugleich ein Lesebuch sein.
Hier ist nämlich nur der erste Vers den Noten beigedruckt, die andern Verse
stehen zusammen unter den Noten; so ist die Gedichtform gewahrt. Das Buch
wird dadurch traulicher als z. B. die Sammlung von I. Heim, in der alles
zu sehr ineinander geschachtelt ist. Würden nun die Kinder vom zehnten bis
zum vierzehnten Jahre täglich eine Stunde singen und nur alle vierzehn Tage
ein neues Lied dazunehmen, so wüßten die Kinder bis zum Entlassen aus der



D. Red.

*) Der Verfasser muß in der That auf merkwürdigen Gymnasien gewesen sein.
**) Auf den hier beleuchteten Verfall der deutschen Volksmusik haben die Grenzboten
wiederholt, am nachdrücklichsten in dem vorjährigen Aufsatz über "Volkskonzerte" aufmerksam
gemacht. Auch wir verlangen Abhilfe von der Schule, suchen sie über nicht in Vermehrung
des Unterrichts, sondern in der Einführung einer rationellen Lehrmethode, wie sie die Schweiz
seit H, G, Niigeli hat, in einer bessern Ausbildung der Lehrpersonals. Die Stelle, die die An¬
gelegenheit endlich einmal zu prüfen und vor die Behörden zu bringen hat, ist unsers Erachtens
A d. N, der "Allgemeine deutsche Musikverein."
Grenzboten IV 1899 6
Der deutsche Volksgesang

Väter kennen. Und wir vaterlandslos erzognen höher gebildeten Stützen des
deutschen Volks sind über lauter Inder, Meter, Vaktrer, Assyrer, Babylonier,
Ägypter, Griechen und Römer gar nicht in die deutsche Geschichte genügend
eingedrungen.*) Die Schmachjahre 1806/7 werden nur an einzelnen Anstalten
— ich dürfte es ja wissen — gelehrt. Über die neuste Entwicklung, die
dreißiger Jahre, 48, 64 bis 66 schweigt man nach meinen Erfahrungen —
wohl aus falscher Höflichkeit gegen regierende Hauser! Wie recht hatte der
Kaiser, als er die Geschichte rückwärts gelehrt wissen wollte. Und da verlangt
man bei Reichstagsabgeordneten noch Verständnis für die Lage des Vaterlands,
wenn sie seine Geschichte gar nicht kennen. Da erstaunt man, wenn sie aus
interesseloser Unkenntnis die Sitzungen schwarzen; wenn das Bedürfnis einer
Flotte für viele Teile des Volks ein Buch mit sieben Siegeln ist? Warum
lehren wir unsrer Jugend nicht vor allem die Geschichte seit Karl dem Großen,
wie es auch in den Grenzboten der „Zurückgekehrte" schon verlangt hat, statt
Griechen und Römer und fossile UrVölker? Warum muß Leonidas, Mucius
Sccivola, Brutus und solche Leute, die nun auch gern einmal ihre Ruhe
Hütte», der deutschen Jugend als Vorbild der Vaterlandsliebe gepredigt werden?
Haben wir keine Helden? Warum macht man die Pflichten an das Vater¬
land, die Wahlpflicht, die Sitzungspflicht für Abgeordnete nicht gerade so
dienstlich wie die Wehrpflicht? Deutschland, erzieh deine Jugend besser, be¬
wußter, kraftvoller zur Vaterlandsliebe!

Und dazu müßte auch das deutsche Lied helfen. In jeder Schule müßte
täglich eine Stunde dem Gesang und dem Auswendiglernen der Lieder — gleich
in der Schule, nicht erst zu Hause — gewidmet sein.**) Wir brauchen ein
deutsches Reichsliederbuch. Dies könnte in 150 Liedern alle wünschenswerten
Gebiete berühren. Es müßte, wie der Schäublin, zugleich ein Lesebuch sein.
Hier ist nämlich nur der erste Vers den Noten beigedruckt, die andern Verse
stehen zusammen unter den Noten; so ist die Gedichtform gewahrt. Das Buch
wird dadurch traulicher als z. B. die Sammlung von I. Heim, in der alles
zu sehr ineinander geschachtelt ist. Würden nun die Kinder vom zehnten bis
zum vierzehnten Jahre täglich eine Stunde singen und nur alle vierzehn Tage
ein neues Lied dazunehmen, so wüßten die Kinder bis zum Entlassen aus der



D. Red.

*) Der Verfasser muß in der That auf merkwürdigen Gymnasien gewesen sein.
**) Auf den hier beleuchteten Verfall der deutschen Volksmusik haben die Grenzboten
wiederholt, am nachdrücklichsten in dem vorjährigen Aufsatz über „Volkskonzerte" aufmerksam
gemacht. Auch wir verlangen Abhilfe von der Schule, suchen sie über nicht in Vermehrung
des Unterrichts, sondern in der Einführung einer rationellen Lehrmethode, wie sie die Schweiz
seit H, G, Niigeli hat, in einer bessern Ausbildung der Lehrpersonals. Die Stelle, die die An¬
gelegenheit endlich einmal zu prüfen und vor die Behörden zu bringen hat, ist unsers Erachtens
A d. N, der „Allgemeine deutsche Musikverein."
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[0053] Der deutsche Volksgesang Väter kennen. Und wir vaterlandslos erzognen höher gebildeten Stützen des deutschen Volks sind über lauter Inder, Meter, Vaktrer, Assyrer, Babylonier, Ägypter, Griechen und Römer gar nicht in die deutsche Geschichte genügend eingedrungen.*) Die Schmachjahre 1806/7 werden nur an einzelnen Anstalten — ich dürfte es ja wissen — gelehrt. Über die neuste Entwicklung, die dreißiger Jahre, 48, 64 bis 66 schweigt man nach meinen Erfahrungen — wohl aus falscher Höflichkeit gegen regierende Hauser! Wie recht hatte der Kaiser, als er die Geschichte rückwärts gelehrt wissen wollte. Und da verlangt man bei Reichstagsabgeordneten noch Verständnis für die Lage des Vaterlands, wenn sie seine Geschichte gar nicht kennen. Da erstaunt man, wenn sie aus interesseloser Unkenntnis die Sitzungen schwarzen; wenn das Bedürfnis einer Flotte für viele Teile des Volks ein Buch mit sieben Siegeln ist? Warum lehren wir unsrer Jugend nicht vor allem die Geschichte seit Karl dem Großen, wie es auch in den Grenzboten der „Zurückgekehrte" schon verlangt hat, statt Griechen und Römer und fossile UrVölker? Warum muß Leonidas, Mucius Sccivola, Brutus und solche Leute, die nun auch gern einmal ihre Ruhe Hütte», der deutschen Jugend als Vorbild der Vaterlandsliebe gepredigt werden? Haben wir keine Helden? Warum macht man die Pflichten an das Vater¬ land, die Wahlpflicht, die Sitzungspflicht für Abgeordnete nicht gerade so dienstlich wie die Wehrpflicht? Deutschland, erzieh deine Jugend besser, be¬ wußter, kraftvoller zur Vaterlandsliebe! Und dazu müßte auch das deutsche Lied helfen. In jeder Schule müßte täglich eine Stunde dem Gesang und dem Auswendiglernen der Lieder — gleich in der Schule, nicht erst zu Hause — gewidmet sein.**) Wir brauchen ein deutsches Reichsliederbuch. Dies könnte in 150 Liedern alle wünschenswerten Gebiete berühren. Es müßte, wie der Schäublin, zugleich ein Lesebuch sein. Hier ist nämlich nur der erste Vers den Noten beigedruckt, die andern Verse stehen zusammen unter den Noten; so ist die Gedichtform gewahrt. Das Buch wird dadurch traulicher als z. B. die Sammlung von I. Heim, in der alles zu sehr ineinander geschachtelt ist. Würden nun die Kinder vom zehnten bis zum vierzehnten Jahre täglich eine Stunde singen und nur alle vierzehn Tage ein neues Lied dazunehmen, so wüßten die Kinder bis zum Entlassen aus der D. Red. *) Der Verfasser muß in der That auf merkwürdigen Gymnasien gewesen sein. **) Auf den hier beleuchteten Verfall der deutschen Volksmusik haben die Grenzboten wiederholt, am nachdrücklichsten in dem vorjährigen Aufsatz über „Volkskonzerte" aufmerksam gemacht. Auch wir verlangen Abhilfe von der Schule, suchen sie über nicht in Vermehrung des Unterrichts, sondern in der Einführung einer rationellen Lehrmethode, wie sie die Schweiz seit H, G, Niigeli hat, in einer bessern Ausbildung der Lehrpersonals. Die Stelle, die die An¬ gelegenheit endlich einmal zu prüfen und vor die Behörden zu bringen hat, ist unsers Erachtens A d. N, der „Allgemeine deutsche Musikverein." Grenzboten IV 1899 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/53>, abgerufen am 19.05.2024.