Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.Der deutsche Volksgesang Väter kennen. Und wir vaterlandslos erzognen höher gebildeten Stützen des Und dazu müßte auch das deutsche Lied helfen. In jeder Schule müßte D. Red. *) Der Verfasser muß in der That auf merkwürdigen Gymnasien gewesen sein. **) Auf den hier beleuchteten Verfall der deutschen Volksmusik haben die Grenzboten wiederholt, am nachdrücklichsten in dem vorjährigen Aufsatz über "Volkskonzerte" aufmerksam gemacht. Auch wir verlangen Abhilfe von der Schule, suchen sie über nicht in Vermehrung des Unterrichts, sondern in der Einführung einer rationellen Lehrmethode, wie sie die Schweiz seit H, G, Niigeli hat, in einer bessern Ausbildung der Lehrpersonals. Die Stelle, die die An¬ gelegenheit endlich einmal zu prüfen und vor die Behörden zu bringen hat, ist unsers Erachtens A d. N, der "Allgemeine deutsche Musikverein." Grenzboten IV 1899 6
Der deutsche Volksgesang Väter kennen. Und wir vaterlandslos erzognen höher gebildeten Stützen des Und dazu müßte auch das deutsche Lied helfen. In jeder Schule müßte D. Red. *) Der Verfasser muß in der That auf merkwürdigen Gymnasien gewesen sein. **) Auf den hier beleuchteten Verfall der deutschen Volksmusik haben die Grenzboten wiederholt, am nachdrücklichsten in dem vorjährigen Aufsatz über „Volkskonzerte" aufmerksam gemacht. Auch wir verlangen Abhilfe von der Schule, suchen sie über nicht in Vermehrung des Unterrichts, sondern in der Einführung einer rationellen Lehrmethode, wie sie die Schweiz seit H, G, Niigeli hat, in einer bessern Ausbildung der Lehrpersonals. Die Stelle, die die An¬ gelegenheit endlich einmal zu prüfen und vor die Behörden zu bringen hat, ist unsers Erachtens A d. N, der „Allgemeine deutsche Musikverein." Grenzboten IV 1899 6
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0053" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231865"/> <fw type="header" place="top"> Der deutsche Volksgesang</fw><lb/> <p xml:id="ID_160" prev="#ID_159"> Väter kennen. Und wir vaterlandslos erzognen höher gebildeten Stützen des<lb/> deutschen Volks sind über lauter Inder, Meter, Vaktrer, Assyrer, Babylonier,<lb/> Ägypter, Griechen und Römer gar nicht in die deutsche Geschichte genügend<lb/> eingedrungen.*) Die Schmachjahre 1806/7 werden nur an einzelnen Anstalten<lb/> — ich dürfte es ja wissen — gelehrt. Über die neuste Entwicklung, die<lb/> dreißiger Jahre, 48, 64 bis 66 schweigt man nach meinen Erfahrungen —<lb/> wohl aus falscher Höflichkeit gegen regierende Hauser! Wie recht hatte der<lb/> Kaiser, als er die Geschichte rückwärts gelehrt wissen wollte. Und da verlangt<lb/> man bei Reichstagsabgeordneten noch Verständnis für die Lage des Vaterlands,<lb/> wenn sie seine Geschichte gar nicht kennen. Da erstaunt man, wenn sie aus<lb/> interesseloser Unkenntnis die Sitzungen schwarzen; wenn das Bedürfnis einer<lb/> Flotte für viele Teile des Volks ein Buch mit sieben Siegeln ist? Warum<lb/> lehren wir unsrer Jugend nicht vor allem die Geschichte seit Karl dem Großen,<lb/> wie es auch in den Grenzboten der „Zurückgekehrte" schon verlangt hat, statt<lb/> Griechen und Römer und fossile UrVölker? Warum muß Leonidas, Mucius<lb/> Sccivola, Brutus und solche Leute, die nun auch gern einmal ihre Ruhe<lb/> Hütte», der deutschen Jugend als Vorbild der Vaterlandsliebe gepredigt werden?<lb/> Haben wir keine Helden? Warum macht man die Pflichten an das Vater¬<lb/> land, die Wahlpflicht, die Sitzungspflicht für Abgeordnete nicht gerade so<lb/> dienstlich wie die Wehrpflicht? Deutschland, erzieh deine Jugend besser, be¬<lb/> wußter, kraftvoller zur Vaterlandsliebe!</p><lb/> <p xml:id="ID_161" next="#ID_162"> Und dazu müßte auch das deutsche Lied helfen. In jeder Schule müßte<lb/> täglich eine Stunde dem Gesang und dem Auswendiglernen der Lieder — gleich<lb/> in der Schule, nicht erst zu Hause — gewidmet sein.**) Wir brauchen ein<lb/> deutsches Reichsliederbuch. Dies könnte in 150 Liedern alle wünschenswerten<lb/> Gebiete berühren. Es müßte, wie der Schäublin, zugleich ein Lesebuch sein.<lb/> Hier ist nämlich nur der erste Vers den Noten beigedruckt, die andern Verse<lb/> stehen zusammen unter den Noten; so ist die Gedichtform gewahrt. Das Buch<lb/> wird dadurch traulicher als z. B. die Sammlung von I. Heim, in der alles<lb/> zu sehr ineinander geschachtelt ist. Würden nun die Kinder vom zehnten bis<lb/> zum vierzehnten Jahre täglich eine Stunde singen und nur alle vierzehn Tage<lb/> ein neues Lied dazunehmen, so wüßten die Kinder bis zum Entlassen aus der</p><lb/> <note xml:id="FID_21" place="foot"> *) Der Verfasser muß in der That auf merkwürdigen Gymnasien gewesen sein.</note><lb/> <note type="byline"> D. Red.</note><lb/> <note xml:id="FID_22" place="foot"> **) Auf den hier beleuchteten Verfall der deutschen Volksmusik haben die Grenzboten<lb/> wiederholt, am nachdrücklichsten in dem vorjährigen Aufsatz über „Volkskonzerte" aufmerksam<lb/> gemacht. Auch wir verlangen Abhilfe von der Schule, suchen sie über nicht in Vermehrung<lb/> des Unterrichts, sondern in der Einführung einer rationellen Lehrmethode, wie sie die Schweiz<lb/> seit H, G, Niigeli hat, in einer bessern Ausbildung der Lehrpersonals. Die Stelle, die die An¬<lb/> gelegenheit endlich einmal zu prüfen und vor die Behörden zu bringen hat, ist unsers Erachtens<lb/><note type="byline"> A d. N,</note> der „Allgemeine deutsche Musikverein." </note><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1899 6</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0053]
Der deutsche Volksgesang
Väter kennen. Und wir vaterlandslos erzognen höher gebildeten Stützen des
deutschen Volks sind über lauter Inder, Meter, Vaktrer, Assyrer, Babylonier,
Ägypter, Griechen und Römer gar nicht in die deutsche Geschichte genügend
eingedrungen.*) Die Schmachjahre 1806/7 werden nur an einzelnen Anstalten
— ich dürfte es ja wissen — gelehrt. Über die neuste Entwicklung, die
dreißiger Jahre, 48, 64 bis 66 schweigt man nach meinen Erfahrungen —
wohl aus falscher Höflichkeit gegen regierende Hauser! Wie recht hatte der
Kaiser, als er die Geschichte rückwärts gelehrt wissen wollte. Und da verlangt
man bei Reichstagsabgeordneten noch Verständnis für die Lage des Vaterlands,
wenn sie seine Geschichte gar nicht kennen. Da erstaunt man, wenn sie aus
interesseloser Unkenntnis die Sitzungen schwarzen; wenn das Bedürfnis einer
Flotte für viele Teile des Volks ein Buch mit sieben Siegeln ist? Warum
lehren wir unsrer Jugend nicht vor allem die Geschichte seit Karl dem Großen,
wie es auch in den Grenzboten der „Zurückgekehrte" schon verlangt hat, statt
Griechen und Römer und fossile UrVölker? Warum muß Leonidas, Mucius
Sccivola, Brutus und solche Leute, die nun auch gern einmal ihre Ruhe
Hütte», der deutschen Jugend als Vorbild der Vaterlandsliebe gepredigt werden?
Haben wir keine Helden? Warum macht man die Pflichten an das Vater¬
land, die Wahlpflicht, die Sitzungspflicht für Abgeordnete nicht gerade so
dienstlich wie die Wehrpflicht? Deutschland, erzieh deine Jugend besser, be¬
wußter, kraftvoller zur Vaterlandsliebe!
Und dazu müßte auch das deutsche Lied helfen. In jeder Schule müßte
täglich eine Stunde dem Gesang und dem Auswendiglernen der Lieder — gleich
in der Schule, nicht erst zu Hause — gewidmet sein.**) Wir brauchen ein
deutsches Reichsliederbuch. Dies könnte in 150 Liedern alle wünschenswerten
Gebiete berühren. Es müßte, wie der Schäublin, zugleich ein Lesebuch sein.
Hier ist nämlich nur der erste Vers den Noten beigedruckt, die andern Verse
stehen zusammen unter den Noten; so ist die Gedichtform gewahrt. Das Buch
wird dadurch traulicher als z. B. die Sammlung von I. Heim, in der alles
zu sehr ineinander geschachtelt ist. Würden nun die Kinder vom zehnten bis
zum vierzehnten Jahre täglich eine Stunde singen und nur alle vierzehn Tage
ein neues Lied dazunehmen, so wüßten die Kinder bis zum Entlassen aus der
D. Red.
*) Der Verfasser muß in der That auf merkwürdigen Gymnasien gewesen sein.
**) Auf den hier beleuchteten Verfall der deutschen Volksmusik haben die Grenzboten
wiederholt, am nachdrücklichsten in dem vorjährigen Aufsatz über „Volkskonzerte" aufmerksam
gemacht. Auch wir verlangen Abhilfe von der Schule, suchen sie über nicht in Vermehrung
des Unterrichts, sondern in der Einführung einer rationellen Lehrmethode, wie sie die Schweiz
seit H, G, Niigeli hat, in einer bessern Ausbildung der Lehrpersonals. Die Stelle, die die An¬
gelegenheit endlich einmal zu prüfen und vor die Behörden zu bringen hat, ist unsers Erachtens
A d. N, der „Allgemeine deutsche Musikverein."
Grenzboten IV 1899 6
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |