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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Drittes Vierteljahr.

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Italienische Volks- und Kirchenfeste

in sich zusammenbrach, trat Mutlosigkeit und Verzlveislung an zahlreichen
Stellen ein. Es ergriff eine Art politischen und wirtschaftlichen Katzenjammers
breite Teile der Bevölkerung, und da sorgenvolle Jahre und leere Kassen nicht
die Voraussetzungen für ausgelassene Lust und übermütige Festlichkeiten zu sein
pflegen, so kaun man allerdings sagen, daß das Italien der achtziger und
neunziger Jahre ein ernsteres Gesicht zeigt als das früherer Jahrzehnte.

Aber von einer Wandlung der Volksseele und ähnlichen Übertreibungen
darf man darum doch nicht sprechen. Man wird nicht zu vergessen haben,
wie schwer die brutnleu Vergewaltigungen, die früher an der Tagesordnung
waren, gerade auf einem so feinfühligen Volke, wie dein der Italiener, gelastet
haben, und wie düster sich das Leben für viele unter den Eingriffen einer un¬
geheuerlichen Willkürherrschaft gestaltet hatte. Wenn sich damals unter dein
Einflüsse tiefster seelischer Leiden die Gemütsstimmung und der Grundcharakter
des Volkes geändert Hütte, so würde man sich nicht wundern dürfen. That¬
sächlich aber läßt sich ein derartiger Vorgang nicht erweisen und wird auch
von den klerikalen Lobrednern der vergangnen Zeit nicht behauptet. Man
wird also, wenn man heilte das ehemalige Maß öffentlicher Festlichkeiten ver¬
mißt, die Gründe nicht sowohl in einer durch wirtschaftliche und politische
Nöte hervorgerufnen Veränderung des Nationalgeistes, sondern anderwärts zu
suchen haben; und zwar wird man sich neben dem alles nivellierenden Zuge
der Neuzeit und neben der ein festfrohes Bummellcben mehr und mehr ein¬
schränkenden gesteigerten Anspannung der Kräfte jedes Einzelnen im heutigen
wirtschaftlichen Wettbewerbe vor allem die Entwicklung der kirchenpolitischen
Verhältnisse in der Hauptstadt des Landes vergegenwärtigen müssen. Der
Durchschnittsrömer ist in der Erinnerung an die vieljährige vatikanische Mißwirt¬
schaft entschieden antiklerikal gesinnt und hält sich mit Bewußtsein und Absicht
von allen kirchlichen Veranstaltungen fern. Das Papsttum dagegen erkennt
die Besetzung Roms durch die weltlichen Machthaber nicht an und will von
dem neugegründeten Nationalstaat der Italiener nichts wissen, solange er
wenigstens unter der Herrschaft der "Freimaurer" steht. Es handelt darum
von seinem. Standpunkt aus nur folgerichtig, wenn es die Entfaltung öffent¬
lichen Prunks möglichst vermeidet, großer" Festen abhold ist und sich auf die
ihm verblichnen wenigen Punkte zurückzieht. Was das für Rom bedeutet,
weiß jeder, der den Glanz und Umfang der frühern Straßenaufzüge, Beleuch¬
tungen und ähnlichen Schaustellungen aus eigner Erinnerung oder ausführ¬
lichen Beschreibungen kennt; es ist einer völligen Umwälzung des ganzen
Lebens und aller Einrichtungen gleich zu erachten. Und das muß sich natür¬
lich überall fühlbar machen.

Über den Verlust, den hierbei namentlich die untern und mittlern Schichten
erleiden, ist man sich in den regierenden Kreisen des neuen Italiens auch voll¬
kommen klar, und man hat deshalb die verschiedensten Mittel und Wege ver¬
sucht, einen Ersatz zu schaffe". Da wird alljährlich das Verfassungsfest gefeiert
zur Erinnerung an den Tag, wo dnrch Einführung des Statuts in Piemont die


Italienische Volks- und Kirchenfeste

in sich zusammenbrach, trat Mutlosigkeit und Verzlveislung an zahlreichen
Stellen ein. Es ergriff eine Art politischen und wirtschaftlichen Katzenjammers
breite Teile der Bevölkerung, und da sorgenvolle Jahre und leere Kassen nicht
die Voraussetzungen für ausgelassene Lust und übermütige Festlichkeiten zu sein
pflegen, so kaun man allerdings sagen, daß das Italien der achtziger und
neunziger Jahre ein ernsteres Gesicht zeigt als das früherer Jahrzehnte.

Aber von einer Wandlung der Volksseele und ähnlichen Übertreibungen
darf man darum doch nicht sprechen. Man wird nicht zu vergessen haben,
wie schwer die brutnleu Vergewaltigungen, die früher an der Tagesordnung
waren, gerade auf einem so feinfühligen Volke, wie dein der Italiener, gelastet
haben, und wie düster sich das Leben für viele unter den Eingriffen einer un¬
geheuerlichen Willkürherrschaft gestaltet hatte. Wenn sich damals unter dein
Einflüsse tiefster seelischer Leiden die Gemütsstimmung und der Grundcharakter
des Volkes geändert Hütte, so würde man sich nicht wundern dürfen. That¬
sächlich aber läßt sich ein derartiger Vorgang nicht erweisen und wird auch
von den klerikalen Lobrednern der vergangnen Zeit nicht behauptet. Man
wird also, wenn man heilte das ehemalige Maß öffentlicher Festlichkeiten ver¬
mißt, die Gründe nicht sowohl in einer durch wirtschaftliche und politische
Nöte hervorgerufnen Veränderung des Nationalgeistes, sondern anderwärts zu
suchen haben; und zwar wird man sich neben dem alles nivellierenden Zuge
der Neuzeit und neben der ein festfrohes Bummellcben mehr und mehr ein¬
schränkenden gesteigerten Anspannung der Kräfte jedes Einzelnen im heutigen
wirtschaftlichen Wettbewerbe vor allem die Entwicklung der kirchenpolitischen
Verhältnisse in der Hauptstadt des Landes vergegenwärtigen müssen. Der
Durchschnittsrömer ist in der Erinnerung an die vieljährige vatikanische Mißwirt¬
schaft entschieden antiklerikal gesinnt und hält sich mit Bewußtsein und Absicht
von allen kirchlichen Veranstaltungen fern. Das Papsttum dagegen erkennt
die Besetzung Roms durch die weltlichen Machthaber nicht an und will von
dem neugegründeten Nationalstaat der Italiener nichts wissen, solange er
wenigstens unter der Herrschaft der „Freimaurer" steht. Es handelt darum
von seinem. Standpunkt aus nur folgerichtig, wenn es die Entfaltung öffent¬
lichen Prunks möglichst vermeidet, großer» Festen abhold ist und sich auf die
ihm verblichnen wenigen Punkte zurückzieht. Was das für Rom bedeutet,
weiß jeder, der den Glanz und Umfang der frühern Straßenaufzüge, Beleuch¬
tungen und ähnlichen Schaustellungen aus eigner Erinnerung oder ausführ¬
lichen Beschreibungen kennt; es ist einer völligen Umwälzung des ganzen
Lebens und aller Einrichtungen gleich zu erachten. Und das muß sich natür¬
lich überall fühlbar machen.

Über den Verlust, den hierbei namentlich die untern und mittlern Schichten
erleiden, ist man sich in den regierenden Kreisen des neuen Italiens auch voll¬
kommen klar, und man hat deshalb die verschiedensten Mittel und Wege ver¬
sucht, einen Ersatz zu schaffe«. Da wird alljährlich das Verfassungsfest gefeiert
zur Erinnerung an den Tag, wo dnrch Einführung des Statuts in Piemont die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_233233/182>, abgerufen am 19.05.2024.