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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Die Frau in der Fabrik

und die Not mit jedem haben wachse" sehen, zuletzt nachlässig werden und
mutlos den Kampf gegen das Elend aufgeben, besonders wenn der Mann ein
Lump ist oder doch für sich selbst mehr braucht, als er der ganzen Familie
abgiebt? Wie manche Frau hat sich und ihre Kinderschar vor Verelendung
gerettet, indem sie in die Fabrik ging oder eine Maschine ins Haus bekam.
Hier bewerben sich viele Frauen oft lange und inbrünstig um solche Maschinen
im Haus. Das bedeutet dann aber noch lange nicht, daß solche Frauen ihren
Familien dann mehr sein können; im Gegenteil, die Fabrik zwingt sie und
garantiert, bei uns wenigstens, den verheirateten Frauen mittags eine Rast
von elf bis ein Uhr, die sie zum Kochen und Arbeiten daheim verwenden
können, die Maschine daheim kennt keine Ruh, da muß das älteste Mädchen,
meist ein "mitgebrachtes," vom siebenten Jahre an putzen, waschen, kochen,
Kinder versorgen, und die Mutter schafft an der Maschine im Akkord, vom
frühen Morgen bis zur sinkenden Nacht. Haben Sie schon einmal vom "Knopf¬
aufnähen" gehört, für Knopffabriken? Da sitzen oft Mütter mit Kindern
jeden Alters bis in die sinkende Nacht hinein, und der Lohn ist gerade recht
zum verhungern.

Ich frage, was haben solche Kinder davon, daß ihre Mütter daheim sind?
Also soll man solchen Müttern lieber die Fabrik lassen und Sorge tragen, daß
die Kinder unter nützliche Aufsicht kommen. O da ließen sich Bücher schreiben
über das Elend in Arbeiterkreisen! Das ist kein Elend, das einzelne Personen
oder Kreise verschuldet hätten; es ist auch kein eingebildetes Elend, das sich
wegleugnen oder wegdisputieren ließe; es ist eben das Elend der gesamten
Menschheit, das aus der UnVollkommenheit der Menschennatur entspringt, und
Mann und Weib sind ziemlich in gleichem Grade schuld, nur daß die Arbeiter¬
frau im Durchschnitt etwas mehr wert zu sein scheint als der Mann. Erziehung
des Volks erscheint mir das einzige Mittel zur Hilfe und Abstellung der
größten Schäden. Der Staat will die Frau heimschicken; die geht von selbst,
wenn sie kann, thäte er es lieber mit dem Mann, der im Wirtshaus sitzt!
Ich kann keine Logik und keine Gerechtigkeit darin finden, wenn Sonntags
vom Gesetz geboten wird: Alle Läden haben während der Kirchenzeit zu schließen,
und jeder hat schwere Strafe zu gewärtigen, der während dieser Zeit Geld
einnimmt, und nebenan im Wirtshaus tönt von morgens sieben Uhr an das
Orchestrion und lockt die Arbeiter hinein. Wie oft habe ich mich auf dem
Wege nach der Kirche geärgert, wenn ich an so einem Lokal vorbei mußte,
und morgens um neun Uhr die bctrunlnen Arbeiter heraustorkeln sah und die
Schcmdmusik hörte! Warum darf denn der Wirt Geld nehmen, wenn es andern
Geschäftsleuten verboten ist? Ist denn Gastwirtschaft kein Geschäft? Verkauft
denn der Mann nicht? Aber freilich, die Herren Großbrauer könnten nicht so
viel Einkommensteuer zahlen und so schnell Millionäre werden, wenn sie nicht
diesen Massenkonsum jährlich noch steigern dürften durch Flnschenbierhandel
über die Straße und Musik und Tanz am frühen Sonntagmorgen! Glauben
Sie nur, an diesen zwei Dingen hängt der Ruin mancher Familie. Der Herr


Die Frau in der Fabrik

und die Not mit jedem haben wachse» sehen, zuletzt nachlässig werden und
mutlos den Kampf gegen das Elend aufgeben, besonders wenn der Mann ein
Lump ist oder doch für sich selbst mehr braucht, als er der ganzen Familie
abgiebt? Wie manche Frau hat sich und ihre Kinderschar vor Verelendung
gerettet, indem sie in die Fabrik ging oder eine Maschine ins Haus bekam.
Hier bewerben sich viele Frauen oft lange und inbrünstig um solche Maschinen
im Haus. Das bedeutet dann aber noch lange nicht, daß solche Frauen ihren
Familien dann mehr sein können; im Gegenteil, die Fabrik zwingt sie und
garantiert, bei uns wenigstens, den verheirateten Frauen mittags eine Rast
von elf bis ein Uhr, die sie zum Kochen und Arbeiten daheim verwenden
können, die Maschine daheim kennt keine Ruh, da muß das älteste Mädchen,
meist ein „mitgebrachtes," vom siebenten Jahre an putzen, waschen, kochen,
Kinder versorgen, und die Mutter schafft an der Maschine im Akkord, vom
frühen Morgen bis zur sinkenden Nacht. Haben Sie schon einmal vom „Knopf¬
aufnähen" gehört, für Knopffabriken? Da sitzen oft Mütter mit Kindern
jeden Alters bis in die sinkende Nacht hinein, und der Lohn ist gerade recht
zum verhungern.

Ich frage, was haben solche Kinder davon, daß ihre Mütter daheim sind?
Also soll man solchen Müttern lieber die Fabrik lassen und Sorge tragen, daß
die Kinder unter nützliche Aufsicht kommen. O da ließen sich Bücher schreiben
über das Elend in Arbeiterkreisen! Das ist kein Elend, das einzelne Personen
oder Kreise verschuldet hätten; es ist auch kein eingebildetes Elend, das sich
wegleugnen oder wegdisputieren ließe; es ist eben das Elend der gesamten
Menschheit, das aus der UnVollkommenheit der Menschennatur entspringt, und
Mann und Weib sind ziemlich in gleichem Grade schuld, nur daß die Arbeiter¬
frau im Durchschnitt etwas mehr wert zu sein scheint als der Mann. Erziehung
des Volks erscheint mir das einzige Mittel zur Hilfe und Abstellung der
größten Schäden. Der Staat will die Frau heimschicken; die geht von selbst,
wenn sie kann, thäte er es lieber mit dem Mann, der im Wirtshaus sitzt!
Ich kann keine Logik und keine Gerechtigkeit darin finden, wenn Sonntags
vom Gesetz geboten wird: Alle Läden haben während der Kirchenzeit zu schließen,
und jeder hat schwere Strafe zu gewärtigen, der während dieser Zeit Geld
einnimmt, und nebenan im Wirtshaus tönt von morgens sieben Uhr an das
Orchestrion und lockt die Arbeiter hinein. Wie oft habe ich mich auf dem
Wege nach der Kirche geärgert, wenn ich an so einem Lokal vorbei mußte,
und morgens um neun Uhr die bctrunlnen Arbeiter heraustorkeln sah und die
Schcmdmusik hörte! Warum darf denn der Wirt Geld nehmen, wenn es andern
Geschäftsleuten verboten ist? Ist denn Gastwirtschaft kein Geschäft? Verkauft
denn der Mann nicht? Aber freilich, die Herren Großbrauer könnten nicht so
viel Einkommensteuer zahlen und so schnell Millionäre werden, wenn sie nicht
diesen Massenkonsum jährlich noch steigern dürften durch Flnschenbierhandel
über die Straße und Musik und Tanz am frühen Sonntagmorgen! Glauben
Sie nur, an diesen zwei Dingen hängt der Ruin mancher Familie. Der Herr


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[0338] Die Frau in der Fabrik und die Not mit jedem haben wachse» sehen, zuletzt nachlässig werden und mutlos den Kampf gegen das Elend aufgeben, besonders wenn der Mann ein Lump ist oder doch für sich selbst mehr braucht, als er der ganzen Familie abgiebt? Wie manche Frau hat sich und ihre Kinderschar vor Verelendung gerettet, indem sie in die Fabrik ging oder eine Maschine ins Haus bekam. Hier bewerben sich viele Frauen oft lange und inbrünstig um solche Maschinen im Haus. Das bedeutet dann aber noch lange nicht, daß solche Frauen ihren Familien dann mehr sein können; im Gegenteil, die Fabrik zwingt sie und garantiert, bei uns wenigstens, den verheirateten Frauen mittags eine Rast von elf bis ein Uhr, die sie zum Kochen und Arbeiten daheim verwenden können, die Maschine daheim kennt keine Ruh, da muß das älteste Mädchen, meist ein „mitgebrachtes," vom siebenten Jahre an putzen, waschen, kochen, Kinder versorgen, und die Mutter schafft an der Maschine im Akkord, vom frühen Morgen bis zur sinkenden Nacht. Haben Sie schon einmal vom „Knopf¬ aufnähen" gehört, für Knopffabriken? Da sitzen oft Mütter mit Kindern jeden Alters bis in die sinkende Nacht hinein, und der Lohn ist gerade recht zum verhungern. Ich frage, was haben solche Kinder davon, daß ihre Mütter daheim sind? Also soll man solchen Müttern lieber die Fabrik lassen und Sorge tragen, daß die Kinder unter nützliche Aufsicht kommen. O da ließen sich Bücher schreiben über das Elend in Arbeiterkreisen! Das ist kein Elend, das einzelne Personen oder Kreise verschuldet hätten; es ist auch kein eingebildetes Elend, das sich wegleugnen oder wegdisputieren ließe; es ist eben das Elend der gesamten Menschheit, das aus der UnVollkommenheit der Menschennatur entspringt, und Mann und Weib sind ziemlich in gleichem Grade schuld, nur daß die Arbeiter¬ frau im Durchschnitt etwas mehr wert zu sein scheint als der Mann. Erziehung des Volks erscheint mir das einzige Mittel zur Hilfe und Abstellung der größten Schäden. Der Staat will die Frau heimschicken; die geht von selbst, wenn sie kann, thäte er es lieber mit dem Mann, der im Wirtshaus sitzt! Ich kann keine Logik und keine Gerechtigkeit darin finden, wenn Sonntags vom Gesetz geboten wird: Alle Läden haben während der Kirchenzeit zu schließen, und jeder hat schwere Strafe zu gewärtigen, der während dieser Zeit Geld einnimmt, und nebenan im Wirtshaus tönt von morgens sieben Uhr an das Orchestrion und lockt die Arbeiter hinein. Wie oft habe ich mich auf dem Wege nach der Kirche geärgert, wenn ich an so einem Lokal vorbei mußte, und morgens um neun Uhr die bctrunlnen Arbeiter heraustorkeln sah und die Schcmdmusik hörte! Warum darf denn der Wirt Geld nehmen, wenn es andern Geschäftsleuten verboten ist? Ist denn Gastwirtschaft kein Geschäft? Verkauft denn der Mann nicht? Aber freilich, die Herren Großbrauer könnten nicht so viel Einkommensteuer zahlen und so schnell Millionäre werden, wenn sie nicht diesen Massenkonsum jährlich noch steigern dürften durch Flnschenbierhandel über die Straße und Musik und Tanz am frühen Sonntagmorgen! Glauben Sie nur, an diesen zwei Dingen hängt der Ruin mancher Familie. Der Herr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/338>, abgerufen am 16.06.2024.