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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

ohne seinen Willen weder Sünden noch Sünder vorhanden sein würden. Öttingen
bemüht sich also, das Wesen der göttlichen Heiligkeit wie der geschvpslichen Sünd¬
haftigkeit zu ergründen, und kommt dabei zu einem ähnlichen Ergebnis wie wir
selbst. Heilig ist soviel wie heil oder gesund, Sünde ist Hemmung oder Verletzung
des gesunden Lebens, oder vielmehr jede Handlung des Geschöpfes, die eine solche
Hemmung oder Verletzung herbeiführt. Darum ist kein tierischer Akt an sich Sünde,
sondern nur die schädigende Absicht dabei, oder wenigstens das Bewußtsein, daß
dadurch eine Schädigung verschuldet wird. Auf diese Weise, heißt es sehr schön
Seite 142, könne die Liebe als Zuneigung, als Ergänzungsbedürftigkeit, als Trieb,
das Angenehme zu suchen, auch der Ursprung alles Bösen sein. "Das für sich
Habenwollen ist als lüsterne Selbstsucht der lvntradiltorische Gegensatz zu dem, was
wir im sittlichen Sinne Liebe nennen, die das schlechthin Gute dadurch fördert,
daß sie in Selbstverleugnung und Aufopferung das Wohl des andern sucht und in
solcher Hingabe zur Gemeinschaft sich selbst beseligt weiß." Und Seite 44-0 wird
Matthäus 10, 39 gedeutet: "wer sein Leben auf Kohle" der andern zu erhalten
sucht, der wird und muß es verlieren." Aber gerade diese beiden um sich richtigen
Benierknngen führen an den Punkt, wo Öttiugeus Erklärung versagt, weil er sich
mit dem dogmatischen Vorurteil völlig zu brechen schent und die Lehren seiner
Mvralstatistik vergißt. Nicht bloß in der Schlacht und unter Räubern, sondern
auch im wirtschaftlichen Kampfe ums Dasein hat der Einzelne in unzähligen Fällen
uur die Wahl, ob er sein eignes oder das Leben eines andern opfern will, und
wenn auch die bei uns überhandnehmende Kraftmeierei und Herreumornl geschmack¬
lose und sogar Politisch nicht ungefährliche Auswüchse siud, wurzeln sie doch in
einer an sich berechtigten Reaktion gegen den sozialistischen und tvlstviischeu Utv-
Pismus, der mit dem Altruismus, wie mau das heute nennt, Ernst machen will,
und der, wenn ihm nicht die gesunde Selbstsucht, d. h. der Selbsterhaltungstrieb
der ungeheuern Mehrzahl Widerstand leistete, durch Selbstaufopferung jedes Einzelnen
für die übrigen nicht bloß die Kultur, sondern das Leben selbst vernichten würde.
Das Motiv für deu "Mißbrauch der Freiheit," der Sünde heißt, meint Öttiugeu
Seite 442, liege "in jener eigenwilligen Lust des Menschen, selbstherrlich sich die
Güter anzueignen, die Gottes Schränken setzendes Verbot ihm nnnoch versagt hat."
Das ist freilich wahr, aber die begehrten Güter sind in den meisten Fällen keine
Luxusgüter, sondern solche, die entweder zur Erhaltung des physischen Lebens oder
zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlich erzwungncn standesgemäßen Lebensweise
uicht entbehrt werden können, sodaß also der Mensch nur die Wahl hat, ob er
sündigen oder zu Grunde gehn will. Hat doch Öttingen selbst in seiner Moral¬
statistik das Gesetz dargelegt, wonach die Diebstahlziffer mit den Getreideprciseu
auf- und abschwankt, und sonst überall den Zusammenhang der Sünde", Laster und
Verbrechen mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zuständen aufgedeckt. Deshalb
ist es unverantwortlich, wenn ein heutiger Theologe immer noch das Übel aus¬
schließlich als Wirkung der Sünde darstellt, während den modernen Denker" eher
verziehe" werden kann, wenn sie es ebenso einseitig als ihre Ursache darstellen. In
Wirklichkeit verursachen Leiden und Sünde, wie jeder täglich sehen kann, einander
gegenseitig, aber den Anfang dieser Wechselwirkung hat das Übel, d. h. die von
Gott gesetzte Welteinrichtung gemacht, denn viel tausend Jahre, bevor der wohl¬
genährte Theolog im gutgeheizten oder ebenso gut gekühlten Studierzimmer die
Abscheulichkeit der Auflehnung gegen Gottes Verbot: du sollst nicht töten, klärlich
beweisen konnte, hat der Naturmensch seinen Konkurrenten um die zu seinem Lebens¬
miterhalt nötige Jagdbeute ohne Besinne" u"d Grübeln erschlagen, und es war
ihm nicht zuzumuten, daß er sich dessen besonders schämen sollte vor einem Gott,
der zum Verderben der Menschen das Krokodil und den Haifisch geschaffen hatte


Maßgebliches und Unmaßgebliches

ohne seinen Willen weder Sünden noch Sünder vorhanden sein würden. Öttingen
bemüht sich also, das Wesen der göttlichen Heiligkeit wie der geschvpslichen Sünd¬
haftigkeit zu ergründen, und kommt dabei zu einem ähnlichen Ergebnis wie wir
selbst. Heilig ist soviel wie heil oder gesund, Sünde ist Hemmung oder Verletzung
des gesunden Lebens, oder vielmehr jede Handlung des Geschöpfes, die eine solche
Hemmung oder Verletzung herbeiführt. Darum ist kein tierischer Akt an sich Sünde,
sondern nur die schädigende Absicht dabei, oder wenigstens das Bewußtsein, daß
dadurch eine Schädigung verschuldet wird. Auf diese Weise, heißt es sehr schön
Seite 142, könne die Liebe als Zuneigung, als Ergänzungsbedürftigkeit, als Trieb,
das Angenehme zu suchen, auch der Ursprung alles Bösen sein. „Das für sich
Habenwollen ist als lüsterne Selbstsucht der lvntradiltorische Gegensatz zu dem, was
wir im sittlichen Sinne Liebe nennen, die das schlechthin Gute dadurch fördert,
daß sie in Selbstverleugnung und Aufopferung das Wohl des andern sucht und in
solcher Hingabe zur Gemeinschaft sich selbst beseligt weiß." Und Seite 44-0 wird
Matthäus 10, 39 gedeutet: „wer sein Leben auf Kohle» der andern zu erhalten
sucht, der wird und muß es verlieren." Aber gerade diese beiden um sich richtigen
Benierknngen führen an den Punkt, wo Öttiugeus Erklärung versagt, weil er sich
mit dem dogmatischen Vorurteil völlig zu brechen schent und die Lehren seiner
Mvralstatistik vergißt. Nicht bloß in der Schlacht und unter Räubern, sondern
auch im wirtschaftlichen Kampfe ums Dasein hat der Einzelne in unzähligen Fällen
uur die Wahl, ob er sein eignes oder das Leben eines andern opfern will, und
wenn auch die bei uns überhandnehmende Kraftmeierei und Herreumornl geschmack¬
lose und sogar Politisch nicht ungefährliche Auswüchse siud, wurzeln sie doch in
einer an sich berechtigten Reaktion gegen den sozialistischen und tvlstviischeu Utv-
Pismus, der mit dem Altruismus, wie mau das heute nennt, Ernst machen will,
und der, wenn ihm nicht die gesunde Selbstsucht, d. h. der Selbsterhaltungstrieb
der ungeheuern Mehrzahl Widerstand leistete, durch Selbstaufopferung jedes Einzelnen
für die übrigen nicht bloß die Kultur, sondern das Leben selbst vernichten würde.
Das Motiv für deu „Mißbrauch der Freiheit," der Sünde heißt, meint Öttiugeu
Seite 442, liege „in jener eigenwilligen Lust des Menschen, selbstherrlich sich die
Güter anzueignen, die Gottes Schränken setzendes Verbot ihm nnnoch versagt hat."
Das ist freilich wahr, aber die begehrten Güter sind in den meisten Fällen keine
Luxusgüter, sondern solche, die entweder zur Erhaltung des physischen Lebens oder
zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlich erzwungncn standesgemäßen Lebensweise
uicht entbehrt werden können, sodaß also der Mensch nur die Wahl hat, ob er
sündigen oder zu Grunde gehn will. Hat doch Öttingen selbst in seiner Moral¬
statistik das Gesetz dargelegt, wonach die Diebstahlziffer mit den Getreideprciseu
auf- und abschwankt, und sonst überall den Zusammenhang der Sünde», Laster und
Verbrechen mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zuständen aufgedeckt. Deshalb
ist es unverantwortlich, wenn ein heutiger Theologe immer noch das Übel aus¬
schließlich als Wirkung der Sünde darstellt, während den modernen Denker» eher
verziehe» werden kann, wenn sie es ebenso einseitig als ihre Ursache darstellen. In
Wirklichkeit verursachen Leiden und Sünde, wie jeder täglich sehen kann, einander
gegenseitig, aber den Anfang dieser Wechselwirkung hat das Übel, d. h. die von
Gott gesetzte Welteinrichtung gemacht, denn viel tausend Jahre, bevor der wohl¬
genährte Theolog im gutgeheizten oder ebenso gut gekühlten Studierzimmer die
Abscheulichkeit der Auflehnung gegen Gottes Verbot: du sollst nicht töten, klärlich
beweisen konnte, hat der Naturmensch seinen Konkurrenten um die zu seinem Lebens¬
miterhalt nötige Jagdbeute ohne Besinne» u»d Grübeln erschlagen, und es war
ihm nicht zuzumuten, daß er sich dessen besonders schämen sollte vor einem Gott,
der zum Verderben der Menschen das Krokodil und den Haifisch geschaffen hatte


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[0109] Maßgebliches und Unmaßgebliches ohne seinen Willen weder Sünden noch Sünder vorhanden sein würden. Öttingen bemüht sich also, das Wesen der göttlichen Heiligkeit wie der geschvpslichen Sünd¬ haftigkeit zu ergründen, und kommt dabei zu einem ähnlichen Ergebnis wie wir selbst. Heilig ist soviel wie heil oder gesund, Sünde ist Hemmung oder Verletzung des gesunden Lebens, oder vielmehr jede Handlung des Geschöpfes, die eine solche Hemmung oder Verletzung herbeiführt. Darum ist kein tierischer Akt an sich Sünde, sondern nur die schädigende Absicht dabei, oder wenigstens das Bewußtsein, daß dadurch eine Schädigung verschuldet wird. Auf diese Weise, heißt es sehr schön Seite 142, könne die Liebe als Zuneigung, als Ergänzungsbedürftigkeit, als Trieb, das Angenehme zu suchen, auch der Ursprung alles Bösen sein. „Das für sich Habenwollen ist als lüsterne Selbstsucht der lvntradiltorische Gegensatz zu dem, was wir im sittlichen Sinne Liebe nennen, die das schlechthin Gute dadurch fördert, daß sie in Selbstverleugnung und Aufopferung das Wohl des andern sucht und in solcher Hingabe zur Gemeinschaft sich selbst beseligt weiß." Und Seite 44-0 wird Matthäus 10, 39 gedeutet: „wer sein Leben auf Kohle» der andern zu erhalten sucht, der wird und muß es verlieren." Aber gerade diese beiden um sich richtigen Benierknngen führen an den Punkt, wo Öttiugeus Erklärung versagt, weil er sich mit dem dogmatischen Vorurteil völlig zu brechen schent und die Lehren seiner Mvralstatistik vergißt. Nicht bloß in der Schlacht und unter Räubern, sondern auch im wirtschaftlichen Kampfe ums Dasein hat der Einzelne in unzähligen Fällen uur die Wahl, ob er sein eignes oder das Leben eines andern opfern will, und wenn auch die bei uns überhandnehmende Kraftmeierei und Herreumornl geschmack¬ lose und sogar Politisch nicht ungefährliche Auswüchse siud, wurzeln sie doch in einer an sich berechtigten Reaktion gegen den sozialistischen und tvlstviischeu Utv- Pismus, der mit dem Altruismus, wie mau das heute nennt, Ernst machen will, und der, wenn ihm nicht die gesunde Selbstsucht, d. h. der Selbsterhaltungstrieb der ungeheuern Mehrzahl Widerstand leistete, durch Selbstaufopferung jedes Einzelnen für die übrigen nicht bloß die Kultur, sondern das Leben selbst vernichten würde. Das Motiv für deu „Mißbrauch der Freiheit," der Sünde heißt, meint Öttiugeu Seite 442, liege „in jener eigenwilligen Lust des Menschen, selbstherrlich sich die Güter anzueignen, die Gottes Schränken setzendes Verbot ihm nnnoch versagt hat." Das ist freilich wahr, aber die begehrten Güter sind in den meisten Fällen keine Luxusgüter, sondern solche, die entweder zur Erhaltung des physischen Lebens oder zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlich erzwungncn standesgemäßen Lebensweise uicht entbehrt werden können, sodaß also der Mensch nur die Wahl hat, ob er sündigen oder zu Grunde gehn will. Hat doch Öttingen selbst in seiner Moral¬ statistik das Gesetz dargelegt, wonach die Diebstahlziffer mit den Getreideprciseu auf- und abschwankt, und sonst überall den Zusammenhang der Sünde», Laster und Verbrechen mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zuständen aufgedeckt. Deshalb ist es unverantwortlich, wenn ein heutiger Theologe immer noch das Übel aus¬ schließlich als Wirkung der Sünde darstellt, während den modernen Denker» eher verziehe» werden kann, wenn sie es ebenso einseitig als ihre Ursache darstellen. In Wirklichkeit verursachen Leiden und Sünde, wie jeder täglich sehen kann, einander gegenseitig, aber den Anfang dieser Wechselwirkung hat das Übel, d. h. die von Gott gesetzte Welteinrichtung gemacht, denn viel tausend Jahre, bevor der wohl¬ genährte Theolog im gutgeheizten oder ebenso gut gekühlten Studierzimmer die Abscheulichkeit der Auflehnung gegen Gottes Verbot: du sollst nicht töten, klärlich beweisen konnte, hat der Naturmensch seinen Konkurrenten um die zu seinem Lebens¬ miterhalt nötige Jagdbeute ohne Besinne» u»d Grübeln erschlagen, und es war ihm nicht zuzumuten, daß er sich dessen besonders schämen sollte vor einem Gott, der zum Verderben der Menschen das Krokodil und den Haifisch geschaffen hatte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/109>, abgerufen am 16.06.2024.